Tonda Knorr

Totenwache


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ich bin Sarah Fender.“

      Die alte Frau verzog keine Miene, nickte nur. Sarah fuhr weiter. Sie schaute noch lange in den Rückspiegel und musterte die alte Frau, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwand.

      Kapitel 4

      „Saaraah!“, schallte es über den Hof des Polizeipräsidiums. Alle drehten sich um. Keiner wusste, wo der Ruf her kam, aber Sarah hatte das Gefühl, dass alle wussten, wer gemeint war. Sarah blickte kurz hoch in den zweiten Stock. Ihr Gefühl sagte ihr, dass dort ein Fenster gerade geschlossen wurde. Na klar wusste sie, zu wessen Büro das Fenster und zu wem der Ruf gehörte.

      „Baby!“, hörte sie die Stimme nun auf der Treppe. Wie ein kleines Kind rannte Lisa ihr entgegen. Sarah musterte sie von oben bis unten. Sie sah toll aus, wie immer. Lisa trug enge Jeans und einen Blazer. Sie hatte eine durchtrainierte Figur, sodass die Männer ihr reihenweise hinterher schauten. Einen Schritt vor ihr hielt sie an, streckte ihr die Hände entgegen und legte den Kopf ein wenig zur Seite.

      „Baby, mein Baby, lass dich drücken.“

      Sarah legte sich in Lisas ausgestreckte Arme. Dieses Gefühl hatte sie schon ewig nicht mehr gespürt. Sie hatte keine Angst vor der Berührung. Lisa strahlte so viel Wärme aus, dass es für zwei reichte.

      „Lass dich anschauen. Hui, der ist neu.“ Sie blickte Sarah in den Ausschnitt ihrer Bluse. „Schick, kannste mir ja mal leihen?“ Sarah musste schmunzeln. Mit Lisa hatte sie alles geteilt, auch mal den BH oder den Freund, wenn es sich angeboten hat. Lisa hakte sich bei ihr unter. Gemeinsam schlenderten sie langsam zur Treppe. Sie bemerkten nicht, dass sie aus dem siebten Stock beobachtet wurden.

      „Erzähl, wie geht’s dir? Quatsch, erzähl nicht, du musst zu Kuntz. Erzähl heute Abend, du pennst bei mir. Wir machen Schlüpperabend. Ich hol uns noch Wein und …“ Lisa plapperte ununterbrochen. Schlüpperabend. So hatten sie immer die Abende genannt, an denen sie es sich nur im Slip und mit einem T-Shirt auf Lisas überdimensionalem Bett bequem gemacht hatten. Den ganzen Abend hatten sie dann Wein getrunken, geraucht, gequasselt, Musik gehört, Filme geschaut und sich ihre Traummänner zurechtgebastelt. Lisa hatte ein Loft. Das Zimmer in der Größe eines Saales sah immer aus wie ein Schlachtfeld. Mittendrin hatte sie sich eine alte, große Badewanne montieren lassen, in der sie dann gleich den Handwerker vernascht hatte. An den Morgen nach solchen Schlüpperabenden sind sie dann immer wie Zwillinge ins Büro gegangen. Überhaupt trugen sie fast immer ähnliche Klamotten, gleiche Sonnenbrillen und hatten immer die gleichen zerzausten Haare. Und den gleichen Brummschädel. Da Sarah einen Dienstrang bekleidete und Lisa nur Zivilbeschäftigte war, musste sie morgens im Gegensatz zu ihr immer zur Morgenbesprechung.

      „Wie sehen meine Augen aus?“, fragte sie Lisa dann in der Garderobe stets.

      „Wie zwei Pisslöcher im Schnee, lass bloß die Sonnenbrille auf“, war ein aufs andere Mal die Antwort. Beide kicherten dann immer, bis Lisa Sarahs Po mit einem Klaps aus der Garderobe schob.

      Nichts wäre Sarah im Moment lieber gewesen, als mit Lisa Zeit zu verbringen.

      „Was ist mit Graham?“, fragte sie.

      „Wer ist Graham?“, gab Lisa erstaunt zur Antwort.

      „Dein Freund!“

      „Mein Freund?“

      „Dein Freund!“

      „Mein Freund ist René.“

      „René?“

      „Rene!“

      So hätte das noch ewig weitergehen können, wenn Lisa nicht aufgeschreckt wäre, um ihr Handy aus der Innentasche ihres Blazers zu holen.

      „Hi René, heute Abend hast du Hausverbot“, vernahm Sarah noch die Worte der über den Hof tänzelnden Lisa. Wo auch immer sie aus dem eng geschnittenen Blazer das Handy rausgekramt hat, Sarah wusste es nicht. Aber Lisa ohne Handy? Das war undenkbar. Sarah begann sich zu erinnern, wie sie sich kennengelernt hatten. Sie hatte im Büro gesessen und ihre Aktenberge durchstöbert. In dem Chaos war ihr auch noch die volle Kaffeetasse umgefallen. Wie aus dem Nichts wurde ihr eine zarte, wunderschöne Hand entgegengestreckt. „Hi, ich bin Lisa, und ich denke, dass wir gute Freundinnen werden.“

      Sarah hatte die junge, hübsche Frau mit weit aufgerissenen Augen angesehen. Lisa hatte, die schönsten blauen Augen die sie je gesehen hatte.

      „Was? Wie kommen Sie darauf?“ Sarah war so verdutzt gewesen, dass sie überhört hatte, wie Lisa sie gleich geduzt und somit ihren Dienstgrad missachtet hatte. Nicht, dass sie auf solche Förmlichkeiten großen Wert gelegt hätte, sie gehörten aber einfach dazu.

      „Na sieh dich doch mal um. Du bist hier die einzige Schwanzlose, dein Schreibtisch sieht aus wie eine Müllhalde, wir sind beide hübsch und wie es aussieht, habe ich im Gegensatz zu dir Ahnung von Computern.“

      Sarah hatte sich zurückgelehnt, um die Worte erst mal wirken zu lassen. Lisa hatte sie derweil angestarrt und leise geflüstert: „Ich sitze da hinten, hinter der Glaswand.“

      „Falsch“, erwiderte Sarah bestimmend, ihr Gesicht immer auf Lisa gerichtet. „Das hinter der Glaswand ist mein Zimmer. Dein Schreibtisch ist hier. Der Computer steht da unten.“

      „Was? Die Müllhalde?“

      „Na denkst du, ich würde meinen Schreibtisch so einsauen?“ Sarah war mit einem überdimensionalen Lächeln aufgestanden. Im Fortgehen hatte sie sich kurz umgedreht und Lisa ein leises „Freundinnen“ zu gehaucht.

      „Du hast wohl ne Meise!“, wurde sie lautstark aus ihren Erinnerungen gerissen. Sie hatte Recht behalten, sie waren mittlerweile beste Freundinnen geworden.

      „Dreier, du spinnst wohl? Du geiler Bock!“, schrie Lisa in ihr Telefon, bevor sie es zuklappte.

      „Graham?“

      „Ne, René“, erwiderte Lisa eindringlich.

      „Ach ja, stimmt ja.“

      „Männer spinnen.“ Lisa klopfte sich mit dem Handy sanft auf den Mund.

      „Du, ich kann auch woanders …“

      „Spinnst du jetzt auch?“ Lisa schaute ihre Freundin entsetzt an.

      „Er ist dein Freund.“ Noch vor einem Jahr hätte sie darauf nie Rücksicht genommen. Die Männer kamen immer erst an zweiter Stelle. Umgekehrt war es bei Lisa genauso.

      „Und du bist meine Freundin. Was ist denn nun wichtiger? Rumvögeln kann ich auch ein anderes Mal.“

      Sarah strahlte Lisa beruhigt und zufrieden an. Wenigstens daran hatte sich nichts geändert.

      „Und? Ist René der Richtige?“

      „Jeder, der gerade aktuell ist, ist doch der Richtige.“

      Sarah sah ihre Freundin mit großen Augen an. Lisa hielt inne, legte ihren Mittelfinger auf ihre Unterlippe und machte den Eindruck, als wäre sie schwer am Grübeln.

      „Bis er nicht mehr aktuell ist“, ergänzte sie. Beide lachten schallend los. Lisa sah Sarah an und bemerkte unweigerlich, dass ihre beste Freundin lieber geheult hätte.

      „Komm her.“ Sie nahm Sarah in den Arm und spürte, wie die warmen Tropfen an ihrer Wange hängen blieben. „Ist schon gut, das wird wieder. Du bist stark genug, so was durchzustehen.“ Lisa blickte hoch zum siebten Stock. Noch immer wurden sie beobachtet.

      „Na, bist du bereit?“

      „Ja, ich glaube schon.“

      „Kuntz auch.“ Lisa deutete, während sie das sagte, mit ihrem Kopf zur Fensterfront.

      Sarah drehte sich um, um in den siebten Stock hoch zu schauen. Die Fenster waren leer.

      „Wir sehen uns heute Abend. Schlüssel hast du ja noch.“

      „Kommst du nicht mit?“ Fragend blickte Sarah zu Lisa.