Tonda Knorr

Totenwache


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Dann ging sie ins Haus. Herbert Fender blickte die alte Scheunenwand hoch. Oben klopfte ein altes Giebelfenster gegen den Rahmen.

      „Bald bist du dran“, sprach er zu der Scheunenwand. Bevor er Sarah nachging, drehte er sich noch mal zur Straße um. Da saß sie wieder, die alte Frau, und ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Herbert Fender deutete mit einem Kopfnicken einen Gruß an und verschwand.

      Sarah lehnte mit dem Rücken an der Eingangstür. Noch immer dachte sie über den Pfarrer und die alte Frau nach. Dann machte sie sich daran, ihre Kisten auszuräumen. Sie musterte die alte Treppe, die hoch zur Galerie führte. Sie sah nicht sehr stabil aus, aber das musste warten. An den Fußspuren im gleichmäßig verteilten Staub des Fußbodens konnte man genau erkennen, wo die Möbelträger lang gelaufen waren. Die wenigsten Abdrücke stammten von ihr. Ihr Weg hatte sie bisher nur in die Küche, das Bad und zur Couch geführt, das war zu sehen. Amüsiert über ihr kriminologisches Gespür und ein wenig entsetzt über den Dreck im Haus, machte sich Sarah an die Arbeit.

      *

      „Ich muss jetzt los. Morgen komm ich später“, verabschiedete sich ihr Vater am späten Nachmittag. Seit dem Vorfall am Morgen hatten sie kein Wort mehr miteinander geredet. Sarah hatte sich voll und ganz auf die Arbeit gestürzt. Jetzt stand sie vor ihm, und ihr Vater wollte nach ihrer Hand fassen. Seine Augen richteten sich auf das Bild, das sie in der Hand hielt. Ohne Gegenwehr ließ Sarah sich das Bild aus der Hand nehmen. Verstohlen wischte Herbert Fender mit der Hand den Staub vom Glas und betrachtete das Bild wortlos.

      „Du und Tim. Ihr seid so ungleich und doch so unzertrennlich gewesen“, seufzte Herbert. „Unzertrennlich ist gut“, nahm Sarah ihrem Vater das Bild aus der Hand. „Siehst du Tim hier irgendwo?“

      Herbert wollte seiner Tochter sanft durchs Haar streichen, hielt sich aber zurück, als er das leichte Zittern an ihrem Körper bemerkte.

      „Bis dann“, sagte er nur.

      „Ich bin morgen zwei Tage in Berlin“, nuschelte Sarah beiläufig. „Papiere abholen.“

      Herbert Fender hielt inne.

      „Dann komm mit. Schlaf bei uns. Mama wird sich freuen.“

      „Ich schlaf bei Lisa. Mama weiß Bescheid.“

      „Berlin? Papiere? Jetzt erst?“

      Sarah blickte stumm aus dem Fenster. Wenn sie früher ein schlechtes Gewissen gehabt hatte, war sie genauso dagestanden. Sie blickte wieder auf das Bild.

      „Ich kann mich erinnern, dass das Schreiben von deiner Dienststelle schon seit zwei Monaten auf dem Schrank liegt.“

      „Ich bin nicht dazu gekommen“, sagte Sarah kleinlaut. Ihr Vater wusste, dass das nur eine Ausrede war.

      „Soll ich mich darum kümmern?“

      „Nein, ich muss zu Kuntz.“

      „Zu Kuntz? Ins Polizeipräsidium?“, fragte Herbert überrascht.

      „Hm, jetzt ja.“

      „Bernhard Kuntz, Polizeidirektor im Polizeipräsidium Berlin. Na, dann mach mal.“

      Nach einer kurzen Pause nahm er seinen ganzen Mut zusammen und küsste Sarah flüchtig auf die Stirn. Wieder bemerkte er ihr Zittern. Beim Gang zum Auto entwich ihm ein hoffnungsvolles Schmunzeln. Er nahm sein Handy und telefonierte noch, bevor er sich ins Auto setzte.

      „Marianne…“

      Herbert war in sich gekehrt. Fast lief ihm eine Träne über das Gesicht. Seit Sarah diese Sache passiert war, hatte er immer das Gefühl gehabt, dass sie jeglichen Berührungen aus dem Weg ging. Weder von ihm, noch von Marianne.

      „Komm nach Hause“, hörte er Mariannes Stimme sagen.

      „Gleich, gleich. Ich muss nur noch mal mit Kuntz telefonieren.“

      *

      Sarah fühlte sich wie gekreuzigt. Die Nächte auf der Couch, so groß sie auch war, taten ihr nicht gut. Wie jeden Morgen nahm sie sich vor, endlich das Bett zusammenzubauen. Ihr Blick ging mal wieder zur Treppe, und sie war sich nicht sicher, ob diese einer Benutzung auf die Dauer standhalten würde. Draußen hörte sie wieder die dröhnenden Geräusche der Raupe. Sie verdrehte die Augen.

      „Morgen, Gustav!“ Diesmal hatte sie gleich das Fenster geöffnet. Gustav winkte nur kurz zurück. Mit einer Tasse deutete sie an, Gustav einen Kaffee vorbeizubringen.

      „Lass gut sein!“ Seine Worte gingen im Lärm der Raupe unter. Sarah fiel ein, dass Gustav eigentlich nur Tee trank. Sie zuckte mit den Schultern und machte ein ratloses Gesicht. Gustav verstand.

      „Wird schon noch!“, hörte sie ihn brüllen.

      Im Bad musterte Sarah sich ausgiebig im Spiegel. Immer wieder veränderte sie mit den Händen ihre Frisur. Wie sollte sie dem Polizeidirektor gegenübertreten? Sie stöhnte.

      „Selber schuld“, sprach sie dann zu ihrem Spiegelbild.

      Bevor sie ging, drehte sie sich noch mal um und betrachtete das Wohnzimmer. Sie war gestern sehr fleißig gewesen. Man konnte sogar ein paar Schritte gehen, ohne sich an etwas zu stoßen, oder eine sichtbare Spur im Staub auf dem Fußboden zu hinterlassen. Da sie keinen Lärm mehr von draußen hörte, rief sie durch die halb geöffnete Tür:

      „Gustav, die Treppe muss gemacht werden!“

      „Ein Albtraum!“, kam nur wortkarg zurück. „Gute Tischler zu bekommen! Ein Albtraum!“ Schmunzelnd trat Sarah vors Haus.

      „Was ist denn bei dir kein Albtraum?“

      Gustav saß auf dem Tisch vor dem Haus. Neben ihm stand die alte Thermosflasche, die Gustav schon so lange hatte, wie Sarah ihn kannte. Seine Stiefel standen auf der Bank vor ihm. In seinem Mundwinkel steckte wie immer der alte Zigarrenstummel. Sarah fiel auf, dass sie schon ewig keine Zigarette mehr geraucht hatte. Beim Versuch, sich ihre Schuhe anzuziehen, kam sie ins Straucheln. Wie ein junger Bursche sprang Gustav auf, um sie zu stützen. Sarah konnte sich gerade noch am Fensterbrett festhalten. Das Fensterbrett war aber so morsch, dass ein alter Blumentopf und der Knochen auf die Erde fielen.

      „Immer noch ganz der Gentleman“, raunte Sarah angestrengt. Gustav hob den Knochen auf, schlug sich damit ein paar Mal in die offene Hand und musterte Sarah dabei.

      „Von irgendeinem Vieh“, antwortete Sarah ungefragt.

      „In der Stadt groß geworden“, flüsterte Gustav leise und legte den Knochen behutsam wieder auf den Fenstersims.

      „Ach, Herbert soll sich bitte um die Treppe kümmern. Ich will mein Bett endlich aufbauen.“

      „Meinst du deinen Vater?“

      „Ja.“

      „Dann nenn ihn gefälligst auch so“, mahnte Gustav streng.

      „Was?“, fragte Sarah, obwohl sie ihn genau verstanden hatte.

      „Ein einziger Albtraum“, murmelte Gustav unverständlich.

      „Das kann ich dir sagen. Mir tun alle Knochen weh von der Couch“, erwiderte Sarah im Fortgehen. Bei Gustav war alles ein Albtraum. Sie kannte ihn nicht anders. Viele seiner Reden beendete er mit dem Wort Albtraum. Am Auto angekommen, drehte sie sich verwundert zu Gustav um. Er stand noch immer wie angewurzelt vor dem Fenster und begutachtete den Knochen.

      „Gustav?“

      Gustav wandte sich ihr zu.

      „Alles in Ordnung?“.

      „Falsche Seite.“

      „Was?“

      „Du musst auf der anderen Seite einsteigen.“

      Sarah blickte auf die Beifahrertür.

      „Geht nicht. Schloss kaputt.“

      Schon ewig wollte sie die Tür reparieren lassen. Sarah winkte noch kurz aus dem offenen Fenster.