Tonda Knorr

Totenwache


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und hatte in die Ferne geblickt. Ihr Blick hatte sich in den Horizont gebohrt, in der Hoffnung, jedes Mal ein Stück weiter sehen zu können. Sie hatte nicht abwägen müssen, um sich zu entscheiden. Sie hatte gewusst, am letzten Tag der Woche würde sie eine Entscheidung treffen. Genau wie früher in ihrem Job. Sie hatte immer im richtigen Augenblick die richtige Entscheidung getroffen. Bis auf das eine Mal. Und wieder ertappte sie sich dabei, wie ihre Gedanken sie an die eine fatale Nacht erinnerten, die ihr Leben aus den Angeln gehoben hatte. Was sie auch dachte, wohin ihre Gedanken sie auch führten, immer und immer wieder hatte sie die Bilder dieser einen Nacht vor Augen.

      „Na, weißt du, was du dir hier antust?“

      Mit leisen Schritten hatte sich ihre Mutter an die Bank geschlichen. Eine kleine Kopfbewegung in Richtung ihrer Mutter und ein verschmitztes Lächeln waren die einzigen Anzeichen, dass doch noch etwas Leben in Sarah war.

      „Du kannst auch weiter bei uns in Berlin wohnen. Das Haus ist groß genug für uns alle.“

      Sanft klang die Stimme ihrer Mutter. Wie eine Lady setzte sie sich neben Sarah auf die Bank. Grazil, attraktiv, und immer besonnen war sie. Was sie sagte, war stets durchdacht. Nie hatte sie Sarah und ihrem Bruder ihren Willen aufgedrängt. Wenn überhaupt, wollte sie nur Ratgeber sein. Eigene Entscheidungen zu fällen, hatte sie keinem abgenommen. Auch in der Firma ihres Mannes hielt sie die Fäden in der Hand. Sarahs Blick verharrte auf dem Gesicht ihrer Mutter. Sie war eine hübsche Frau. Mit sechsundfünfzig Jahren wollte Sarah auch noch so aussehen wie ihre Mutter. Schon immer wollte sie so aussehen wie ihre Mutter. Ohne großen Aufwand strahlte Marianne Fender immer eine natürliche Schönheit aus. Sie hatte sich nie viel aus teuren Klamotten, Beautyfarmen, wertvollem Schmuck oder anderen Statussymbolen gemacht. Obwohl sie sich das locker hätte leisten können. Die Firma von Sarahs Eltern lief gut. Sie lief schon immer gut, auch in rezessiven Phasen. Ende der sechziger Jahre hatte der Maschinenbau geboomt, und es war kein Ende in Sicht.

      Ein solides Geschäft, hatte ihr Vater immer gesagt. Meistens war er dabei vor dem Fenster seines Büros in Tempelhof gestanden. Die Daumen in der Weste seines Anzuges vergraben, hatte er davon geträumt, dass die Mauer wieder fallen würde.

      „Glaubt mir, der Osten braucht uns. Die haben noch Maschinen aus dem Zweiten Weltkrieg. Eines Tages …“ Den Rest seiner Zukunftspläne hatte er dann meist verschluckt. Als es soweit war, konnte Europa gar nicht groß genug für ihn sein. Und Sarahs Mutter war immer an seiner Seite gewesen. Alle Entscheidungen hatte er mit ihr oder sie mit ihm besprochen.

      „Kaffee?“

      „Kalt.“

      „Macht nichts.“

      Marianne Fender griff nach der Tasse, ohne ihren Blick von dem Mann im Anzug abzuwenden.

      „Schmeckt ja scheußlich.“

      „Mama, der Kaffee ist kalt.“

      „Auch warm würde der nicht besser schmecken“, erwiderte Marianne. „Komm, ich mach uns einen neuen.“

      „Lass mal gut sein, mir reicht’s für heute.“

      „Aber vielleicht will ja dein Vater einen“, versuchte Marianne das Gespräch am Laufen zu halten. Viel zu wenig hatte sie die letzten Wochen und Monate mit ihrer Tochter gesprochen. Sie war einfach nicht an sie rangekommen. Die letzten fünf Minuten waren für Marianne schon ein kleines Erfolgserlebnis. „Wer ist die alte Frau da vorne?“

      Sarah blickte zu der alten Frau rüber. Jeden Tag, an dem sie bisher hier gewesen war, hatte sie am gegenüberliegenden Straßenrand gesessen. Vor sich ein kleines Feuer, neben sich ein paar Reisigzweige und eine kleine alte Holzkiste. Das Grundstück lag am Ende der Dorfstraße. Bis heute hatte Sarah von ihr keine Notiz genommen. Sie wusste nicht mal, wo sie wohnte und warum sie jeden Tag an der Straße saß und wie gelähmt in das vor sich hin dümpelnde Feuer starrte. Sie passte einfach hierher. Glostelitz hieß das kleine Kaff. Sarah erwischte sich dabei, wie sie das erste Mal die Umgebung richtig wahrnahm. Im Gegensatz zu Berlin gab es hier nur eine Handvoll Häuser. Bis zum nächsten größeren Ort waren es ein paar Kilometer. Nach Brandenburg war es nicht allzu weit. Die Zeit schien hier stillzustehen. Keine der versprochenen blühenden Landschaften. Der alte Mann im feinen Nadelzwirn hätte nie gedacht, dass Sarah sein Angebot annehmen und sich hierher zurückziehen würde.

      „Keine Ahnung. Die sitzt da immer“, hauchte Sarah leise.

      „Und du bist dir sicher, dass du hier wohnen willst?“

      „Mama, sonst wäre ich doch nicht hergezogen“, antwortete Sarah genervt.

      Das Gespräch drohte zu kippen.

      „Ich hab fließend Wasser, und Strom hab ich auch. Der Rest liegt auf der Straße.“

      „Auf der Straße liegt hier gar nichts.“

      Sarah blickte ihrer Mutter ins Gesicht. Schon immer hatte sie ihr gesagt, dass sie sich gewählt und korrekt ausdrücken soll. „Na gut, das Grundstück ist bautechnisch voll erschlossen. So recht?“

      Verwirrt schaute Marianne ihre Tochter an.

      „Die Ruhe, Mama, die Ruhe. Keine Busse, kein Straßenlärm, kein wildes Nachtleben. Nichts von alledem.“

      Die beiden Frauen schauten sich an, und in ihren Gesichtern machte sich ein Grinsen breit.

      „Ruhe nennst du das?“

      „Na ja, wenn die Scheißplanierraupe nicht wäre, schon“, versuchte Sarah ihr Argument zu untermauern.

      „Sarah“, tadelte Marianne ihre Tochter erneut.

      „Und Scheiße sagen kann ich hier auch, wann ich will“, fügte Sarah trotzig hinzu.

      Ihre Mutter wischte sich verstohlen übers Gesicht.

      „Tschuldigung“, schickte Sarah dann doch reumütig hinterher.

      „Bestimmt die dämlichste Entscheidung, die ich je getroffen habe“, wetterte der Mann im Anzug, als er auf Sarah und Marianne zuging. „Gibt’s hier wenigstens einen Kaffee?“

      Marianne sah ihre Tochter an. „Siehste.“

      „Nur kalten.“

      „Wäre ja auch zu schön gewesen“ stammelte Sarahs Vater vor sich hin, bevor ihr Gespräch unterbrochen wurde. Zwei Autos bretterten durch die Toreinfahrt auf das Grundstück.

      „Na, krieg ich nun einen Kaffee?“

      „Nö“, klang es gleichzeitig aus Mariannes und Sarahs Mund. „Du hast gleich ganz andere Sorgen“, entgegnete Marianne ihrem Mann mit einer Kopfbewegung in Richtung der vier Männer, die aus den Wagen stiegen und abwechselnd zur Planierraupe und zu Sarah und ihrer Mutter rüberschauten.

      „Was ist denn hier los? Aufhören!“

      „Das Einzige, was hier aufhört, ist ihr Rumkrakele“, erwiderte Herbert Fender ruhig und gefasst auf die Anweisung der Eindringlinge.

      „Mach mal Pause“, war seine gezielte Anweisung an Gustav, den Raupenfahrer.

      Wieder konnte sich Sarah einen leisen Seufzer nicht verkneifen. „Na was denn nun?“

      Aus den Augenwinkeln nahm Herbert Fender Notiz von der Bemerkung seiner Tochter.

      „Wer sind Sie?“, tönte indessen einer der Männer.

      „Wer sind Sie?“, erwiderte Herbert Fender wieder ruhig und gefasst.

      Sarah beobachtete ihren Vater. Das konnte er. Emotionslos sofort wieder umschalten. Privat ist privat, und Geschäft ist Geschäft, waren immer seine Worte. Hier schien es ums Geschäft zu gehen.

      „Wir sind vom Landesbauamt. Falkner, mein Name, und das sind meine Kollegen.“

      „Fender, von Fender Maschinenbau“, erwiderte Herbert und tat der Höflichkeit damit Genüge.

      „Wie kommen Sie dazu, hier zu bauen?“

      Herbert ließ seinen Blick über die Wiesen