Martin Winterle

Brief an Marianne


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verlief anfangs frustrierend. Diese Friedhoftouren waren ihr verhasst. Mochte die modrige Atmosphäre der ewig langen Grabreihen nicht. Das Grab ihres Vaters würde sie ohne ihre Mutter nur zu Allerheiligen besuchen(müssen…?). Ihre Erinnerungen an ihn waren alles andere als erbaulich für sie. Anschließend saß sie mit ihrer Mutter auf deren, verglasten Balkon. Mutter hatte einen Gugelhupf gebacken, halb hell und halb dunkel. Sah gut aus und schmeckte auch so. Das ziemlich Beste an diesem Nachmittag.

      Wenigstens gab es diesmal ein aktuelles, interessantes Gesprächsthema, musste sich nicht die ewige, alte Leier über lebende und teilweise längst verstorbene Nachbarn und Bekannten anhören.

      Ihr Sohn als Omas neuer Mitbewohner!

      Sie hatten sich gemeinsam das Zimmer angesehen. Es war um einiges größer, als sein jetziges, auch viel heller. Ein Eckzimmer mit zwei großen Fenstern. Die bereits bestellten Möbel präsentierte ihr ihre Mutter, nicht ganz ohne Stolz, in einem Prospekt. Der Parkettboden war in sehr gutem Zustand, konnte bleiben, frisch ausmalen, würde ein Freund des angehenden Studiosus. Ja, und wenn er zu wenig Platz haben sollte, in Omas Bügelzimmer, könne man auch noch einiges unterstellen. Erläuterte ihre Mutter, fast ein wenig aufgeregt, die bereits beschlossenen Veränderungen.

      Oma meinte auch, ihr Enkel hätte seine Mutter über den bevorstehenden Umzug informiert. Darum hätte sie nichts gesagt, nie ein Geheimnis daraus machen wollen, ganz bestimmt nicht.

      Marianne hielt an diesem Sonntag die Hundertachzig Pflichtminuten, die der Besuch zu dauern hatte, genau ein. Eine Kür auch noch anzuhängen, in die Verlängerung zu gehen oder noch eine Zugabe zu geigen, dazu fehlte ihr heute wirklich jeder Nerv.

      Als sie aus dem Haus trat und die kurze Strecke bis zu ihrem geparkten Auto ging, hatte sie das angenehme Gefühl, endlich wieder frei zu sein. Mit dem Rücken an ihr Auto gelehnt holte sie ihr Smartphone aus der Tasche ihrer weinroten Lederjacke.

      >Liebes, um Gottes Willen, was ist den geschehen? Ich mach mir irre Sorgen, ich liebe dich doch so sehr! Leider kann ich mich heute unmöglich mit dir treffen, bin bei meiner Mutter, der geht es nicht besonders gut, hat Fieber usw. Natürlich bin ich Morgen um fünf bei deinem Büro. Können wir nicht heute Abend telefonieren? Ich weiß mir keinen Rat, was es zwischen uns geben soll? Was könnte plötzlich zwischen uns stehen? Wir lieben uns doch! Ich liebe dich! Ich brauche dich! Ich will dich nicht verlieren, unter gar keinen Umständen! Horst. <

      Nein, heute Abend können wir nicht telefonieren, der gemeinsame Spieleabend mit meinem Sohn ist mir tausend Mal wichtiger, als dir ein Mail zu schreiben, mein lieber Horst. Das hatte Marianne gerade halblaut gedacht. Einen runden Kieselstein, mit ihrer Schuhspitze elegant in den Abwassergulli gekickt…Treffer!

      Sie spazierte einige, wenige Meter über den Rasen, setzte sich auf eine Parkbank.

      Jetzt war Eva an der Reihe, das konnte länger dauern. Sitzen war dafür sicher die richtige Körperhaltung. Nicht ganz eine Stunde dauerte das Gespräch der Freundinnen. Es gab ja wirklich viele Neuigkeiten und Marianne wollte Eva über alles genau in Kenntnis setzen. Erst beim Telefonieren, wurde ihr klar, was es für sie bedeutet, ein eigenes Reich zu haben. Endlich alleine leben zu können. Die Dimension nahm langsam Formen an. Eva freute sich auf den Umbau wie ein kleines Kind auf Weihnachten, sprudelte bereits jetzt vor Ideen und Tatendrang.

      >Mutsch, ich werd´ uns doch welche ins Rohr schieben, bevor sie das Ablaufdatum erreichen. Für dich eine Capricciosa, ich werd eine Diavolo vernichten, was hältst davon? <

      Marianne schlüpfte aus ihren Schuhen, legte ab und staunte. Der Tisch war bereits gedeckt, nicht einmal die zwei Weingläser fehlten. Die letzte Flasche Etschtaler aus dem Abstellraum, hatte bereits keinen Korken mehr. Sie war ganz seiner Meinung. Ja, das wäre vor dem Würfeln eine gute Idee, verspürte zudem zwischenzeitlich ein leises Hungergefühl.

      Beim Würfeln mit ihrem Sohn verlor Marianne beide Spiele, wenn auch nur knapp. Ihr Selbstvertrauen gewann dafür an diesem Tag, ein viel entscheidenderes Spiel…

      Freie Mittwochnachmittage – der vierte

      Wie sehr hatte sich Marianne in den letzten Wochen, bereits schon am Montag, auf den übernächsten Tag gefreut.

      So unvorstellbar glücklich war sie am letzten Mittwoch noch gewesen. Wie sehr hatte sie die stürmische, begehrende Liebe von Horst genossen. Hoch in den Wolken hatte sie geschwebt, als er in ihr war, und sie sich auflösen durfte, um eine Einheit mit ihm zu sein. Ihre ganze Sehnsucht nach einem Mann, der sie zärtlich, zugleich bestimmend nahm, ausleben zu dürfen, sich endlich erfüllend zu spüren. War das nun zerbrochen? Echt Schnee von gestern? Sie wollte, konnte es nicht glauben.

      Ganz in ihren aufgewühlten Gedanken versunken, saß sie im Linienbus. Nahm weder ihre Umgebung noch ihre Haltestelle wahr. Erst als der Bus sich wieder in Bewegung setzte, schrak sie auf, stellte sich rasch zur Türe, um bei der nächsten Station auszusteigen. Egal, dass sie nun fünf Minuten länger zu gehen hatte. Es machte für sie keinen Unterschied, war irgendwie geistig abwesend. Bis ihr einfiel, dass der gerade umrundete Häuserblock, der letzte vor ihrer Firma war.

      Mein Gott, Marianne bitte konzentrier dich, fuhr es ihr durch den Kopf! Um jeden Preis, reiß dich zusammen!

      Du willst doch nicht, dass dein emotionaler Zustand den Kollegen, besser gesagt den Kolleginnen, bereits auf den ersten Blick auffällt. Das darf nicht passieren. Alles, nur das nicht auch noch. Bis in ihr Büro hatte sie nur eine Begegnung. Der Herr Fritz, Herr über Magazin und Logistik, quoll aus dem Chefbüro, wollte Vollgas geben, konnte gerade noch rechtzeitig sein Tempo zügeln, um sie nicht an die Wand zu quetschen.

      >Guten Morgen, schönes Mädchen, wenn du heute einmal Luft hast, kommst du zu mir raus, wir sollten Garantien für Frankreich machen. Viel ist es nicht, zwei Bruchkartons Hennessy und ein paar Remy Martin Flaschen mit undichten Verschlüssen, aber gemacht gehört es ja trotzdem. <

      Der Herr Fritz war kein Maßstab für eine Frau, um zu testen, ob sie heute gut oder weniger gut ankam. Er hatte sie ja nicht einmal richtig angesehen, der Herr Fritz. Aber das nahm ihm weder das „schöne Mädchen“ noch sonst jemand im Betrieb für übel. Er war halt ein raubeiniger Buckler, eine wirklich hilfsbereite Seele, hatte noch nie jemanden im Regen stehen gelassen.

      >Natürlich Herr Fritz, aber gerne Herr Fritz, sobald als möglich Herr Fritz! <

      Hatte sie ihm noch nachgerufen. Glaubte aber nicht wirklich daran, dass er auch nur ein Wort davon mitbekommen hatte. So rasch wie er die Kurve gekratzt hatte, der Herr Fritz.

      Sie ließ den PC hochfahren, hing die Jacke über den Kleiderbügel, öffnete einen Fensterflügel, schaltete ihr kleines Radio ein, leitete das Zentraltelefon auf ihren Apparat herein, alles mechanisch. Hunderte Male gemacht, ohne nachzudenken…

      Nach dachte sie über den gestrigen Sonntag, und natürlich über die samstägliche Putzparty, auf die sie sich gefreut hatte. Die dann für sie so dramatisch endete. Ihre Gedanken mischten sich zu einem Wirrwarr ohnegleichen. In der Mittagspause sollte sie in Italienisch, die ersten beiden Kapitel durchgehen. Wenigstens hineinschauen, in die dicke, blaue Mappe. Sie konnte sich nicht konzentrieren, schrak zusammen, wenn das Telefon klingelte. Genau dieses ewige Geklingel, schien heute Standard zu sein, wie zu Fleiß. Freilich, die meisten Anrufer konnte sie durchstellen, aber die Lieferanten blieben fast ausnahmslos ihr.

      Der Herr Tanzer hatte sich heute, gleich als einer ihrer ersten Gesprächspartner, bei ihr krank gemeldet. Ihr auch gleich einige Aufgaben für diese Woche übertragen. Sie hatte sich alle Positionen notiert, ihm eine baldige Besserung gewünscht, versichert, alles in seinem Sinne erledigen zu wollen. Gegen zehn Uhr leitete sie das Telefon um. Musste dringend für kleine Mädchen, dann zum Seniorchef wegen einer finanziell mehr als wackeligen, leider sehr treuen Kundschaft. Anschließend ins Lager um mit dem Herrn Fritz die Retouren zu besprechen, abschließend hatte sie mit dem Verkaufsleiter einen Termin. Dieser war nur am Montagvormittag und Donnerstag ganztags in seinem Büro anzutreffen, hatte überwiegen außer Haus zu tun. Bis dahin würde es sehr wahrscheinlich Mittag sein.

      Es war