Jo Caminos

Tempus Z


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lauschte erneut, doch da war nur Stille. Da war nichts. Wahrscheinlich hatten ihr die Nerven einen Streich gespielt, was angesichts der Situation kein Wunder war. Leise schloss sie die Tür, drehte sich dann um und ging zum Bad.

      Medikamente!, sagte sie sich. Mach voran, die andern warten auf dich!

      Sie öffnete die Tür zum großen Bad und hielt auf den Spiegelschrank mit den Medikamenten zu. Und dann sah sie ihn im Spiegel, seitlich neben der Tür.

      Sam ...!

      „Wo bleibt Charlotte nur“, murrte Peter. Er betrachte nachdenklich die Axt, die auf seinem Schoß lag. Einen Ast zu spalten, war eine Sache, das Ding gegen einen Menschen - auch wenn er tot war - zu richten, etwas völlig anderes.

      „Wir sind tolle Kämpfer, nicht wahr“, bemerkte Roland stirnrunzelnd. „Sonja - tot. All die anderen ... Untoten. Die Zerstörungen, der Gestank. Ich glaube, ich realisiere erst jetzt, in was für einem Albtraum wir hier gelandet sind.“

      „Nein“, erwiderte Peter. „Realisieren tun wir gar nichts, denn das hier kann kein Mensch begreifen - Untote ... Ich ... ich muss die ganze Zeit an zu Hause denken.“ Er machte eine kurze Pause. „Weißt du, ich muss die ganze Zeit an meinen kleinen Sohn denken. Er ist jetzt drei Monate alt, und die Mutter wollte nicht, dass ich ihn sehe. Wir hatten eine kurze Beziehung. Eigentlich nichts Ernstes, nach meiner Scheidung ... Aber das Kind ... Mir geht der Kleine einfach nicht aus dem Kopf. Ich wollte nie irgendeine feste Beziehung, nicht diese Klammer, nicht diese Fessel, aber als ich diesen kleinen Wurm zum ersten Mal auf dem Arm hielt ... Das war etwas ganz Besonderes. Diese großen blauen Augen, sein Lächeln. Ich muss einfach zurück, muss sehen, ob ich noch was für sie tun kann. Für ihn ...“

      Roland blickte etwas überrascht. Peter hatte niemals zuvor erwähnt, dass er Vater geworden war. Und das, obwohl sie über drei Wochen gemeinsam im Mark-Twain-Nationalpark verbracht hatten. Peter hatte immer so getan, als wäre die Beziehung zu seiner derzeitigen Favoritin oder eher Nicht-Favoritin mittlerweile vorbei. Aus und finito ...

      Peter lehnte sich im Sitz zurück. Tränen schimmerten in seinen Augen. „Kinder können einen verdammt fertigmachen. Besonderes, wenn sie gar nicht geplant sind. Dann sind sie plötzlich da, und du kannst dir eine Welt ohne sie nicht mehr vorstellen.“

      Roland legte ihm kurz die Hand auf den Arm, sagte aber nichts. Er sah zur Uhr. Irgendwie war er nervös. Wo blieb Charlotte?

      Charlotte stöhnte. Sie hatte sich abgerollt und war gegen die Badewanne geknallt. Ihr Kopf dröhnte. Das, was einmal ihr Mann gewesen war, beugte sich über sie, die Arme nach ihr ausgestreckt. Charlotte konnte den Biss an seinem Hals sehen. Ansonsten sah er aus, wie sie Sam in Erinnerung hatte. Der gut aussehende, muskulöse Mann mit Stoppelhaarschnitt. Die vollen Lippen, die so brutal lächeln konnten, wenn er zuschlug. Die mächtigen Fäuste, die sie so oft malträtiert hatten. Aber die Augen waren anders, es waren nicht mehr diese unglaublich blauen Augen, die oft so kalt und heimtückisch geblitzt hatten, wenn er nicht das bekommen hatte, was er hatte haben wollen. Es waren Augen, die irgendwie gelblich wirkten, fast wölfisch - oder einfach nur ... tot.

      Charlotte warf sich zur Seite, doch Sam - oder das, was von ihm übrig war - hatte sie am Fußknöchel gepackt und hielt sie fest. Sie strampelte, trat, versuchte, sich zu befreien, doch gegen Sam hatte sie nie eine Chance gehabt, niemals zuvor - und jetzt auch nicht ... Tausend Gedanken und kein Gedanke. Erinnerungsblitze, Flashs. Ihr Atem raste. Sam hatte den Mund geöffnet. Sein Zahnfleisch wirkte schwärzlich. Sein Kiefer schnappte nach ihr. Er will mich beißen!, schrie es ihn ihr. Harold und Justin hatten erzählt, dass die Untoten nicht nur bissen, sondern im Fressrausch ihre Opfer auch ausschlachteten, sich von den Lebenden ernährten.

      Das Messer!, schoss es ihr durch den Kopf. Das Messer, das sie im Kosmetikschränkchen unter den Handtüchern versteckt hatte. Ein langes Fleischermesser, das sie sich vor langer Zeit zugelegt hatte, nachdem Sam sie das letzte Mal im Bad vergewaltigt hatte. Sam kümmerte sich nie um Hausarbeit. Handtücher interessierten ihn nicht. Und die brave Charlotte leistete niemals Widerstand ... Fast überall im Haus hatte Charlotte Messer versteckt. In der Nachttischkommode, bei den Bügelsachen, im Waschraum. Messer, an die sie sich geklammert hatte und die sie doch niemals gegen Sam verwendet hatte. Irgendwann bekam sie es mit der Angst zu tun, dass Sam ihr doch auf die Schliche kommen könnte und sie mit ihren eigenen Messern ermorden würde. Meine Frau wollte mich töten!, konnte sie ihn mit Unschuldsmiene sagen hören. Ich hatte keine andere Wahl ...

      Charlotte wirbelte herum, so weit es der Griff von Sam zuließ, und zog sich über den Boden hin zum Kosmetikschrank. Ein paar Zentimeter noch. Sam gab gutturale Laute von sich. Ein unmenschliches Knurren, das eher nach einem Tier klang. Sein Atem stank. Er stank. Nach Verwesung, nach Tod. Sein Hosenlatz war verschmiert. Noch ein paar Zentimeter. Charlotte bekam keine Luft mehr. Wenn sie jetzt die Besinnung verlor ... Nein, Mädchen, du hast Pech. Du wirst nicht sterben. Es ist schlimmer. Du wirst als teilgehacktes, teilgefressenes Etwas zurückkehren. Dabei siehst du so schon beschissen genug aus, mit deinen Mikrotitten und deinem nicht vorhandenen Flacharsch, Honey. Sie versuchte, Luft zu holen, sich zu konzentrieren, Kraft zu schöpfen. Mit einem Ruck zog sie das Bein an den Körper. Und Sam ließ tatsächlich los. Offensichtlich stand es mit der Koordination der Untoten nicht zum Besten. Einem lebenden Sam wäre so etwas nicht passiert. Er hätte sie mit einem Arm hochgehoben und ihren Kopf gegen die Badewanne geklatscht, dass sie die Englein hätte singen hören können. Bimm, Bamm ... Und er hätte gelacht und solange weitergemacht, bis Charlotte vor Schmerz die Besinnung verloren hätte - und selbst dann noch nicht aufgehört.

      Irgendwie gelang es ihr, die Tür des Kosmetikschränkchens zu öffnen. Verzweifelt fischten ihre Finger zwischen den Handtüchern. Wo war das verdammte Scheißding? Wo nur? Sie zuckte zusammen, als sie sich an der Klinge schnitt. Da war es! Ihre Finger bekamen das Messer zu greifen. Sie stöhnte auf, als die Klinge erneut in ihre Hand schnitt. Nein, oh nein ... Doch irgendwie bekam sie dann doch den Griff zu fassen. Das Messer lag schwer in ihrer Hand. Charlotte keuchte. Die Zeit schien stillzustehen. Sie drehte sich um, wandte sich Sam zu, der ganz nah war. Sie würgte, als sein fauliger Atem ihr ins Gesicht schlug. Sie sah - tote Augen, ein aufgerissenes Maul, ein wild zuschnappender Kiefer. Sie hörte - Stöhnen, Raunen und etwas, das fast nach den perversen Sex-Geräuschen ihres Mannes klang. Sams Kopf kam näher, noch näher. Charlotte stand förmlich neben sich. Da lag sie am Boden, gegen das Kosmetikschränkchen gelehnt, das Messer krampfhaft in der Hand. Wie aus dem Nichts erschienen zwei Gestalten in der Tür. Roland und Peter. Wie in Zeitlupe kamen sie auf sie zu, wollten Sam packen, ihr helfen, sie retten. Dann riss der Film. Und anstatt Zeitlupe gab es ein schnelles Vorspulen. Charlotte sah ihren Arm, das Messer, das regelrecht auf Sams Gesicht zuflog. Dann die Klinge, die ins rechte Auge drang. Dunkles Blut spritzte hervor. Sam kippte zur Seite und gab weiter stöhnende Laute von sich, sein Kiefer schnappte unkontrolliert. Und Charlotte bohrte das Messer noch tiefer in die Augenhöhle, drehte den Griff, riss Wunden, noch tiefere Wunden, die selbst den Untoten töten konnten, hoffte sie, bettete sie fast - in diesem seltsamen Moment. Sie zog das Messer zurück, stach noch einmal zu. Sie wusste nicht, dass sie schrie, dass sie schimpfte und fluchte. Und dann lag Sam einfach nur da und regte sich nicht mehr. Und der Kiefer hatte aufgehört, nach ihr zu schnappen. Ein blutverschmiertes stinkendes Etwas, das einmal ihr Mann war.

      Roland half Charlotte auf die Beine. Peter behielt Sam im Auge, ob er sich vielleicht doch noch einmal regen würde. Er hielt die Axt fest umgriffen, um im Falle des Falles sofort zuschlagen zu können, und er würde nicht zögern, nicht bei diesem Ding, das da am Boden lag.

      „Das hat er nicht verdient“, stieß Charlotte hervor.

      Roland warf Peter einen schnellen Blick zu. Da hatte der Dreckssack von Ehemann endlich das bekommen, was er verdiente, und das blöde Weib heulte noch um ihn. Frauen waren wirklich nicht zu verstehen ...

      „Das hat er nicht verdient!“, heulte Charlotte erneut auf und starrte Roland mit tränenerfüllten Augen an. Rotz lief ihr aus der Nase. „Der Dreckskerl hätte leiden sollen. Lange leiden. Das ging alles viel zu schnell!“

      Sie standen reglos im Badezimmer