Tessa Koch

Wounded World


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weniger will ich begreifen, was sie uns antun wollten, mir. Sie haben sich bewusst gegen uns gestellt, in Zeiten, in denen die wenigen noch lebenden Menschen eigentlich zusammenhalten sollten.

      Ich blicke aus dem Fenster, auf die vorbeiziehende Landschaft. Ich spüre Liams Blicke auf mir, immer wieder schaut er zu mir herüber. Ich weiß, dass er sich Sorgen um mich macht, wir fahren bereits seit mehreren Stunden, ohne dass einer von uns ein Wort gesagt hat. Das Handtuch in meinen Händen ist bereits getrocknet, ich halte es dennoch weiterhin an meine Nase. Meine Gedanken schweifen immer wieder ab, immer wieder zu der Tankstelle. Ohne Liam wäre mir dort etwas Schlimmeres widerfahren als der Tod.

      Ich reiße mich von dem Fenster los und sehe zu ihm herüber. Mein Nacken schmerzt, da ich solange nach rechts geblickt habe. Liam hat das Steuer mit beiden Händen fest umfasst, seine Lippen sind aufeinander gepresst. Er macht sich noch immer Sorgen um mich. „Danke“, flüstere ich in die Stille hinein.

      „Nicht dafür, Kleines“, sagt er schlicht.

      „Doch. Ohne dich wäre ich … ich wäre …“ Erst jetzt dringt gänzlich zu mir durch, was er verhindert hat. Wieder beginnt mein Körper zu zittern, ein tiefes Schluchzen steigt in mir auf. Es bricht aus mir heraus, ich lege beide Hände auf mein Gesicht und beginne laut zu weinen.

      Der Wagen wird langsamer, im nächsten Moment stehen wir. Ich höre Liams Gurt, als ich zwischen meinen Fingern zu ihm aufsehe, blicke ich direkt in seine bekümmerte, sorgenvolle Miene. Dennoch nimmt er mich nicht in die Arme und ich verstehe, dass er mich nicht gegen meinen Willen berühren will. Doch er würde mir niemals wehtun, ich weiß es einfach. Schluchzend schlinge ich meine Arme um seinen Hals und werfe mich an seine Brust. Sofort legt Liam seine Arme um mich, zieht mich fest an sich ran und hält mich einfach, während ich weine.

      Die ganze Benommenheit fällt von mir ab, der ganze Schock. Seine Hände streichen beruhigend über meinen Rücken, in seinen starken Armen fühle ich mich sicher und geborgen. Ich weine lange, bis ich mich langsam beruhige und schließlich ganz verstumme. „Es ist okay, Eve“, sagt Liam leise, als ich still an seiner Brust ruhe, das Gesicht noch tränennass. „Es ist okay. Wir sind da raus, wir haben es geschafft.“

      „Du hast mich gerettet“, flüstere ich.

      „Du hast mich gerettet.“ Er drückt mich kurz fest an seine Brust, sein Gesicht in meinem Haar vergraben. Er atmet tief ein, dann lässt er mich los. „Du solltest etwas schlafen und dich ausruhen, Kleines.“ Er will den Motor wieder starten.

      „Ich will nicht alleine sein“, sage ich leise. „Können wir – können wir nicht einfach eine Pause einlegen? Wir beide?“ Ich sehe zwischen meinen Wimpern zu ihm auf, sein Blick ruht auf mir.

      „Vielleicht ist es wirklich das Beste“, antwortet er nach wenigen Minuten. Er betätigt die Türverriegelung und die Schlösser klicken beruhigend, als sie einrasten. Den Schlüssel lässt er stecken, für den Fall, dass wir schnell weiterfahren müssen. „Nach dir.“ Er deutet nach hinten.

      Ich ziehe mich zwischen den Sitzen durch und er folgt mir. Müde lege ich mich auf die linke Seite des provisorischen Bettes und decke mich mit einer der Wolldecken zu. Liam zieht den Schlafsack auf und legt sich rein. Nachdem wir beide bequem liegen, sehen wir uns an. Seine Augen blicken noch immer besorgt drein, doch ein sanftes Lächeln spielt um seine Lippen. „Es ist wirklich sehr bequem“, sagt er leise.

      Ich erwidere sein Lächeln schwach. „Danke.“

      Sein Blick wird sanft. „Es war ein echt anstrengender Tag, Eve. Ruh dich aus.“

      Meine Hand tastet nach seiner, als ich sie finde, umschließe ich sie fest. „Du auch. Schlaf gut.“

      „Gute Nacht, Eve.“ Seine Finger verschlingen sich mit meinen. „Träum was Schönes.“

      So schlafen wir schließlich ein.

      04. August 2021, NEUE UND ALTE BEKANNTE

       Logbuch-Eintrag 04

      

      

       In Zeiten wie diesen muss man für jeden weiteren Tag, den man lebt, dankbar sein. Für jede weitere Stunde. Ich weiß, dass ich es ohne Liam niemals so weit geschafft hätte. Er hält mich am Leben, er ist der Grund, weswegen ich überhaupt weitermache, weiterkämpfe, in einer Welt, die schon lange verloren ist.

      

       Wir haben zusammen schlimme Dinge erlebt, furchtbare Dinge, die uns einander näher bringen, zusammen schweißen. Ich brauche nur in seine grauen Augen zu sehen, für wenige Sekunden, und schon weiß ich, was er denkt und fühlt. Und meistens empfindet er dasselbe wie ich, macht sich über dieselben Dinge Gedanken und Sorgen. Wir haben gelernt einander wie ein Buch zu lesen.

      

       Es ist so unglaublich wichtig in diesen Zeiten jemanden zu haben, dem man vertrauen kann. Der einem hilft, wenn man stürzt, anstatt einen als Köder zurückzulassen. Liam ist dieser Jemand. Wir sind so vielen Parasiten bisher begegnet, haben so viele Menschen gesehen, die dem Weg des alten Ehepaares gegangen sind.

      

       Doch wenn ich nach einer kurzen Nacht meine Augen aufschlage, in sein Gesicht blicke, seine grauen Augen, dann weiß ich, dass wir es schaffen können. Dass wir es schaffen werden, solange wir einander haben und vertrauen. Ohne ihn wäre ich verloren in dieser grausamen Welt. Und er ohne mich.

      Ich spüre Liams Blick auf mir ruhen, doch ich traue mich nicht von der Straße aufzusehen, um mich zu vergewissern. Wir sind nun schon seit Tagen unterwegs, auf dem Weg nach Arkansas, zu seiner Familie. Eigentlich ist es eine Strecke von einem knappen Tag, doch wir müssen oft weite Umwege in Kauf nehmen, teilweise mehrere Meilen zurückfahren, da eine erst vielversprechende Straße letztendlich doch durch stehende Autos oder Parasiten blockiert ist.

      Wir haben bereits Kentucky erreicht und halb durchquert, wir verloren viel Zeit, als wir eine sichere Umleitung um Frankfort suchten. Liam hat mir erklärt, dass die Farm seiner Eltern nahe der Grenze zu Oklahoma liegt, in einer kleinen Stadt namens Mena. Ich hoffe wirklich so sehr, dass seine Familie am Leben ist, unsere Reise nicht umsonst sein wird. Und mit jeder Meile, die wir Arkansas näher kommen, spüre ich, dass Liam optimistischer wird, hoffnungsfroher.

      Es gibt kaum noch Menschen, außer den Männern in der Tankstelle sind wir in den letzten Tagen keinen Überlebenden mehr begegnet. Doch eben wegen jener Männer bin ich froh über diese Begebenheit. Ohnehin halten wir kaum an, nur wenn wir uns die Beine vertreten wollen oder uns Lebensmittel oder Benzin ausgehen. Bei unserem letzten längeren Stopp an einem verlassenen Motel vor einem Tag haben wir festgestellt, dass inzwischen auch Strom und Wasser ausgefallen sind. Mich hat diese Tatsache härter getroffen als Liam, irgendwie habe ich in Strom und Wasser noch immer die Verbindung zu unseren alten Leben gesehen. Und nun ist sie fort.

      „Was hat das da auf deinen Handgelenken eigentlich zu bedeuten?“ Liam reißt mich aus meinen Gedanken.

      Kurz schaue ich auf meine Handgelenke. Ich weiß, dass er die Tattoos meint, die ich dort trage. Auf dem linken einen geöffneten, leeren Vogelkäfig, auf dem rechten zwei fort fliegende Schwalben, zwischen den Vögeln ein Datum, der 23. Juni 2010. „Das habe ich mir nach dem Tod meiner Eltern stechen lassen“, sage ich und umfasse das Lenkrad etwas fester. „Sie sind nicht mehr in diesem Leben, dieser Welt gefangen, sondern frei. Wie Vögel. Das Datum ist der Tag, an dem sie starben.“

      „Es ist mir zuvor nie aufgefallen“, sagt er leise, noch immer spüre ich seine Blicke auf mir.

      Ich lache. „Was, während wir vor Tausenden Parasiten geflohen sind, hattest du nicht die Zeit, meine Handgelenke zu mustern? Weißt du überhaupt, wie ich aussehe?“

      Auch Liam lacht. „Klar. Schwarze, kurze Haare, hellblaue Augen und eine Hakennase.“

      „Keine