Axel P. Müller

Rachegold


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seine damalige Freundin, hatte sich vergeblich bemüht, ihm über sein Problem hinwegzuhelfen und die Frustration auszutreiben, zeitweise hatte sie das auch geschafft, aber die Vergangenheit vergeht nie, da hilft auch kein gutes Zureden. Sie war erheblich jünger als er und stand noch am Anfang ihres Erwachsenseins, hatte noch Discos im Kopf und wollte sogar noch ein Kind von ihm. Nein, das war ihm denn doch zu viel gewesen, er hatte sie abgöttisch geliebt, wie er überzeugt war, aber ein Mann, der auf die magischen Fünfziger hin altert, kann doch kein Kind mehr zeugen. Er wäre ein richtig alter Mann gewesen, wenn das Kind pubertierte. Er hatte an seinem Vater gesehen, wie so etwas endete, er war mit siebzehn Jahren bereits Halbwaise geworden, Herzinfarkt, das wollte er seinen Nachkommen nicht auch zumuten. Er konnte sich noch gut, allzu gut, erinnern, wie verlassen er sich damals gefühlt hatte. Insgeheim hatte er seinem toten Vater nachträglich nicht enden wollende Vorwürfe gemacht. Aber wie sollte er seine Einsamkeit artikulieren? In der Phase, als er plötzlich alleine dastand, hätte er dringend den Rat des erfahrenen Mannes gebraucht. Keiner hörte ihm zu. Verständnis für seine Situation hatte er von keiner Seite erwarten können, jeder hatte seine eigenen Probleme.

      Bettina hatte mit allen Mitteln, angenehmen und unangenehmeren, versucht, an seinem Standpunkt des Kinderverzichts zu rütteln, mit solchen Argumenten wie: „Alte Leute sind im Kopf alt, ob mit achtzig oder mit zwanzig Jahren und nicht nach der Zahl zu beurteilen, die im Personalausweis steht. Du bist jung geblieben, Deine Gedanken sind jung, auch wenn Du schon langsam graue Schläfen bekommst. Dein Geist ist mobil geblieben, viel jugendlicher als der der meisten Jüngeren aus meinem Bekanntenkreis.“

      Das, was wie ein riesiges Kompliment geklungen hatte, konnte aber nicht die biologischen Tatsachen kaschieren. Schließlich hatte Andreas Bettina wehmütig in ihr Tränenreich entlassen, obwohl er sich von ihr immer noch angezogen fühlte wie von einem starken Magneten. Aber manchmal muss eben die Vernunft die Gefühle überstimmen. Er war danach dem Suff verfallen, hatte seine Abende in immer neuen Kneipen oder Bars verbracht, war nicht selten volltrunken in seine kleine Wohnung in Köln-Lindenthal getorkelt und hatte dann von seiner Geliebten geträumt. Er konnte sie nicht vergessen, sie stand im Geiste immer vor ihm, ob im nüchternen oder betrunkenen Zustand, er sah sie in voller Schönheit vor sich. Als er eines Morgens kurz nach Sonnenaufgang auf den Stufen vor seinem Appartement mit eingenässter Hose aufwachte, er hatte es wohl nicht mehr geschafft, mit seinem Schlüssel das Türschloss zu treffen, war ihm trotz des Brummschädels und des Sodbrennens schlagartig klar, er musste etwas ändern, so konnte es keinesfalls weitergehen. Er mochte sich erst gar nicht vorstellen, wie blamabel es gewesen wäre, wenn ihn ein Nachbar in diesem Zustand geweckt hätte. Aber auch ohne eine solche Überraschung schämte er sich endlos, er schämte sich vor seinem Spiegel.

      Erstens musste er ab sofort das Saufen aufgeben und Kneipen meiden und zweitens musste er sich von Bettina völlig lossagen. Letzteres war gar nicht so einfach, da sie in der gleichen Redaktion arbeiteten und sich demzufolge täglich etliche Male mit brechenden Herzen sahen. Mehr als einmal hatte sie ihn zur Seite genommen und hatte ihm mit Tränen in den Augen Vorschläge des gemeinsamen Weiterlebens gemacht. Sie hätte sogar auf ihren Kinderwunsch und die dusselige Tanzerei verzichtet, wenn er nur bei ihr bliebe. Er hatte sich selbst davon überzeugt, dass das keine Basis gewesen wäre, irgendwann hätte sie ihm die Kinderlosigkeit zum Vorwurf gemacht. Man durfte und konnte den Urinstinkt eines Menschen nicht mit scheinbar logischen Argumenten übertünchen.

      Das Resultat seiner Überlegungen war folglich: Kündigung des guten Jobs.

      Als zweite Konsequenz befahl er sich, Restaurants zu meiden und selbst zu kochen.

      Die dritte Konsequenz bestand in der Verbannung aller Alkoholika aus seiner Umgebung, insbesondere aus seiner Wohnung.

      Als vierte Konsequenz brauchte er ein weibliches Wesen und einen neuen Arbeitsplatz, um sich von der Vergangenheit leichter lossagen zu können.

      Im Internet fand er auch relativ schnell eine junge Frau, eine Schönheit, die zugegebenermaßen ein Ebenbild seiner Bettina war. Sowohl Gesichtsform, Figur als auch Frisur waren identisch oder nahezu identisch, wie bei einem eineiigen Zwillingspaar. Sie war ein Callgirl, das über eine Begleitagentur buchbar war, umso besser, er konnte sie also jederzeit sehen, sofern sie keine andere Verabredung hatte und zudem waren die Emotionen begrenzbar. Als er Yvonne das erste Mal buchte, musste er sich allerdings erst einmal hinsetzen, der Preis für einen kompletten Tag war exorbitant. Aber die Sehnsucht nach Bettina oder ihrer virtuellen Zwillingsschwester war größer als sein Geiz und seine Vernunft.

      Trotz des Treffens mit Yvonne konnte er Bettina nicht vergessen. Als er seine unverschmerzte Geliebte ein paar Monate später in der Stadt sah, begrüßte er sie nicht freudig, sondern wechselte die Straßenseite, als habe er sie nicht erkannt. Sie war unzweifelhaft schwanger und hatte sich wohl mit einem jungen Mann getröstet. Sie trug das Mona Lisa Lächeln im Gesicht zur Schau, was den Schwangeren so eigen ist. Der Anblick hatte ihm einen ordentlichen Stich versetzt und gleich als er zu Hause angekommen war, hatte er einen Termin mit seinem Bettina-Ersatz, Yvonne, verabredet. Sie war jedenfalls einfühlsamer als jeder Psychiater. Er konnte ihr alles erzählen, sie war eine erfahrene und geduldige Zuhörerin, gab nur wenige aber gute Ratschläge, scheute sich andererseits nicht, Kritik an seinem Verhalten vor und nach der Trennung von seiner Geliebten zu üben. Sie hatte ihn sogar ans Grübeln gebracht, als sie ihn fragte, ob der dicke Bauch Bettinas nicht aus seiner Beziehung zu ihr stammen könne. Er hatte dann nachgerechnet und festgestellt, dass es zumindest möglich war. Nach einigen Tagen des Zögerns hatte er sich dann doch aufraffen können, sie anzurufen und in aller Offenheit zu fragen. Sie hatte, wie sie ihm gestand, nach der Trennung eine ältere Beziehung wieder aufgewärmt und die Befruchtung muss wohl relativ schnell erfolgt sein, weil ihr neuer Freund auch Kinder wollte, habe sie die Pille abgesetzt. Es sei alles etwas zu plötzlich geschehen, aber nicht ungewollt.

      So richtig konnte er sich mit seiner gewonnenen Freiheit nicht anfreunden, da es eine schizophrene Mischung aus Unabhängigkeit und Einsamkeit war. Als Ersatzbefriedigung hatte er sich in die Arbeit gestürzt und etliche belanglose Artikel geschrieben, die weder ihn selbst noch den Leser interessierten, die lediglich reißerisch aufgemacht waren, damit sie sich verkauften. Er hatte sogar über Sport, Feuilleton und lokale Ereignisse berichtet, immer dort, wo er meinte ein paar grüne Scheine sammeln zu können. Solange er gutes Handwerk und Kreativität zeigte, war er in den Redaktionen, die er bediente, gerne gesehen. Sein Schreibstil war professionell und geschult, kombiniert mit einem guten Schuss Erfahrung. Er hatte es auch geschafft, nach seiner Trennung von der Vergangenheit, dem Alkoholgenuss weitgehend zu entsagen. Er hatte das Zeug nicht völlig aus seinem Leben verbannt, er lebte nicht abstinent, vermied jedoch die Alkoholexzesse und Schnäpse aller Art, dafür rauchte er immer noch täglich ein Päckchen Filterlose. Auf alles konnte ein Genussmensch, wie er einer war, nicht verzichten, ein Laster wollte er beibehalten.

      Yvonne hatte auch ihren Anteil an der Änderung seiner Lebensgewohnheiten, sie leitete ihn auf einen Mittelweg zwischen den Extremen und so konnte er ohne besondere Anstrengungen die Gifte, die er seinem Körper zugeführt hatte, minimieren. Die Abende und Nächte mit ihr waren lang und befriedigend, nicht nur im sexuellen Sinn. Es waren meist fröhliche Zeiten und es gab immer ein Gesprächsthema in das sie sich vertiefen konnten. Wobei es Yvonne immer wieder schaffte, ihm eine Geschichte aus seiner bewegten Vergangenheit zu entlocken, während sie nur relativ selten über sich, ihre Geschichte, Gefühle, Wünsche oder Perspektiven erzählte.

      Von ihrer persönlichen Geschichte hatte sie gelegentlich erzählt, sie stammte aus einer einfachen Familie, der Vater war Elektroingenieur gewesen, da er aber nicht linientreu war und sich beharrlich geweigert hatte, Mitglied der kommunistischen Partei zu werden, hatte man ihn als Gehilfe zu einem Elektroreparaturbetrieb abkommandiert. Seinen eigentlichen Beruf hatte er also nicht ausführen dürfen. Ihre Mutter arbeitete in einem Metzgereibetrieb als Verkäuferin.

      Aufgewachsen war Yvonne, oder wie sie sich damals noch nannte Ludmila, in Eger, nur ein paar Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, deshalb auch ihre hervorragenden Deutschkenntnisse. Als Schülerinnen hatten die Mädchen neidvoll auf die Touristen geblickt, die in den tollsten Autos mit den modernsten Kleidungen in Richtung der Kurbäder Karlsbad oder Marienbad fuhren. Einige ihrer Schulfreundinnen versuchten, an dem westlichen Wohlstand teilzuhaben, indem sie sich schon als pubertierende Mädchen von