Michael Aulfinger

Möllner Zeiten


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merkte sofort, dass noch Schlimmeres passiert war. Etwas viel Unfassbareres, was Stefan sich noch nicht traute seinem Freund kundzutun. Winfried sah, wie der Blick des Stefan schmachvoll zu dessen Tochter hinüberging. Winfried verstand ohne Worte. Gudrun war Gewalt angetan worden.

      „Haben sie deine Tochter …?“

      Stefan nickte.

      „Diese Schweine.“

      Eine Weile der Stille verging. Es war nur das Weinen und Schluchzen von Gudrun zu vernehmen. Winfried sah zu ihr hinüber. Mit einem Mal war sie nicht mehr der Grund seines Besuches. Das hatte sich auf grausame Art erledigt. Er konnte sich nicht mehr vorstellen, dass ausgerechnet die geschändete Gudrun seinen Sohn ehelichen sollte. Durch die Vergewaltigung war sie in seinen Augen nicht mehr für Eckhard heiratsfähig. Er würde halt weitersuchen müssen. Deshalb verschwieg er Stefan nun den eigentlichen Grund seines Besuches.

      Zugleich spürte er eine Gefahr, die ihn vollends gefangennahm, um ihn nahezu zu lähmen. Dieses schreckliche Gefühl fraß sich in seinem Innersten von unten nach oben hinauf und schien seine Eingeweide nach und nach zu zerfressen.

      „Du sagtest, sie sind nach Norden geritten, an der Ostseite des Sees entlang?“

      Ein Nicken folgte. Ein Frösteln durchzog Winfried daraufhin, obwohl es ein warmer Frühlingstag war. Es war nicht ausgeschlossen, dass die Räuber auf dem Weg nach Norden auch durch Lutowe zogen. Kleine ungeschützte Dörfer waren für Raubritter eine wahre Einladung. Schließlich war ihre Gier auf Beute noch nicht hinreichend gestillt worden. Geräucherte Schinken waren schließlich nicht gerade diejenige Ausbeute, wonach Raubritter sich sehnten. Ihre Gier war fast ausschließlich der Barschaft gewidmet. Schließlich wurden sie durch die vorherrschenden politischen Verhältnisse dazu gezwungen.

      Mit einem Mal fürchtete er um seine Familie und sein Dorf.

      „Wie viele sind es?“

      „Es waren neun.“

      Neun Räuber überfielen ein kleines ungeschütztes Dorf und vergewaltigten eine Tochter. Eine wahrlich schändliche und unrühmliche Tat. Keine Heldentat, die von den Barden voller Stolz zu besingen gewesen wäre. Doch zeigte dies eindrucksvoll, dass die Gier nach einfacher Beute und die Geldnot der Ritter in letzter Zeit sehr zugenommen hatten.

      Das Rittertum war in einem Wandel. Die einst ehrbaren, den Armen verschriebenen Codices hatten ihren Wert verloren. Vielschichtig waren dafür die Gründe. Das Austragen von Fehden war stets ein Teil der ritterlichen Lebensweise gewesen. Das Herabsinken der Bedeutung des Rittertums mit seinen eigentlichen heroischen und edlen Motiven hing mit der verstärkten Verbreitung der Geldwirtschaft zusammen. Die wachsenden Städte mit ihrem kauf­männischem Hintergrund waren für den Untergang des Rittertums maßgeblich verantwortlich. Einst waren die Ritter in ihrer Blütezeit in lehnsrechtlicher Abhängigkeit. Doch durch den stärker wachsenden Einfluss des Geldes änderte sich dies. Die Abhängigkeit vom Geld stieg. Dadurch erhielt das Söldnertum einen Aufschwung, welches zu Lasten der Ritterschaft ging. Die Fürsten, Grafen und Könige selbst warben mehr Söldner an, um unabhängig in ihren militärischen Möglichkeiten zu sein. Dadurch war der Untergang des Rittertums eingeläutet. Doch die Kosten für Vieh, Knappen, Mägde und Knechte waren vorhanden und stiegen sogar. So wurden aus den edlen Rittern, deren eigentliche Grundsätze edel waren, räuberische Wegelagerer und Strauchdiebe, um ihre geldliche Not lindern zu können. Überfälle auf Handelsstraßen wurden üblich und vermehrt ausgeführt.

      Auch auf Juden mit ihren gelben spitz zulaufenden Hüten, zu dessen Tragen sie seit Kaiser Friedrich II. verpflichtet waren, um sich von den Christen zu unterscheiden, wurden Überfälle verübt, weil dort sichere fette Beute vorzufinden war.

      Sogar Fehden wurden provoziert, deren einziger Grund es war, plündernd durch die Lande zu ziehen. Der Zweck heiligte die Mittel. Das Leben der Ritterschaft wurde immer schwerer. Immer mehr schutzlos daliegende Dörfer wurden als leichte Beute angesehen.

      Seit im Jahre 1250 Kaiser Friedrich II. gestorben war, hatten sich die Zustände im Reich verschlechtert. Für die Nachfolge in Frage kommende Nachkommen oder Verwandte aus seiner Linie starben nach und nach, und es war niemand da, der das Stauferreich hätte weiterführen können. Es gab keinen starken Mann mehr im Reich. Diese kaiserlose Zeit war eine düstere. Einzig Rudolf von Habsburg, das Patenkind des Kaisers, hatte die Königswürde verdient, doch scheiterte er bisher an den Machtintrigen und Fehden der kleineren Fürstenhöfe. Auch die Grafschaft Racisburg blieb von diesen Auswucherungen der kriegerischen Selbstherrlichkeit des Adels nicht verschont.

      Plötzlich hatte es Winfried sehr eilig. Er ließ die trauernde Dorfgemeinschaft zurück. Ohne ein weiteres Wort zu sagen lief er den Hügel zum See hinab. So schnell seine alten Beine ihn tragen konnten, eilte er am Ufer des sonnenbestrahlten Sees entlang.

      Er keuchte bald schwer. Das schnelle Laufen war er in seinem Alter nicht mehr gewohnt. Ja, als Junge konnte er damals uneinholbar laufen. Aber heute? Bald war er außer Atem und keuchte angestrengt, während seine Hände sich auf den Oberschenkeln abstützten. Nach kurzer Pause ging es weiter. Er lief so schnell er konnte.

      Doch er war nicht schnell genug.

      Der Drusensee endete in den Lutower Bek, der wiederum nach wenigen hundert Metern in den Lutower See mündete. Kurz vor der Einmündung war auf der linken Seite eine Mühle10 erbaut worden. Diese Mühle wurde durch den Bek gespeist und angetrieben. Das kleine Dorf Lutowe mit seinen wenigen Höfen befand sich östlich der Mühle am südlichen Rand des Lutower Sees. Doch dies hinderte den Raubritter mit seinen Männern nicht, hier zu rauben.

      Winfried war über den Bach gelangt, und da sah er sie schon. Seine Beine bewegten sich voran, so schnell wie sie es vermochten. Eine Menge Leute sah er stehen. Anscheinend hatte niemand Zeit gehabt, sich hinter den sicheren Palisadenzäunen zu verschanzen. Wohl zu schnell waren die Raubritter in das Dorf eingedrungen. Die Raubritter standen um die Dorfbewohner herum, die sich in ihrer Mitte ängstigten. Fäuste prügelten auf einen geduckten Mann ein. Schützen konnte dieser sich nicht, weil seine Arme von zwei Kumpanen festgehalten wurden.

      „Nein.“

      Die Raubritter waren mit ihrem Tun und ihren scherzhaften Kommentaren so beschäftigt, dass sie den Herannahenden zuerst gar nicht bemerkt hatten. In diese Situation stolperte Winfried unvorbereitet, und wie sich herausstellen sollte hilflos, hinein.

      Sogleich, nachdem die Räuber auf den neuen Ankömmling aufmerksam geworden waren, traten zwei mit erhobenen Waffen auf ihn zu und nahmen ihn in Gewahrsam.

      Erst da wurde es Winfried bewusst, wie töricht er sich hatte gefangennehmen lassen, anstatt erst einmal aus der Entfernung zu beobachten. Aber die Angst um seine Frau Jolanthe und seine Kinder hatte ihn in diese aussichtslose Lage getrieben.

      „Wen haben wir denn da?“

      Ein Ritter im Kettenhemd trat hervor. Er trug eine lederne Haube. In seiner rechten Hand hielt er halbhoch ein poliertes Schwert mit schwarzem Griff. Ein ungepflegter Bart zierte das Gesicht. Darüber stierten Winfried dunkle Augen an.

      „Wer bist du?“

      „Ich wohne hier. Lasst den Mann los.“

      Da trat ein stämmiger Kampfgefährte des Ritters hervor, und fuchtelte mit seinem Schwert vor Winfrieds Brust umher.

      „Rede nicht lange mit diesem Bauerntölpel, Petrus. Stechen wir ihn endlich ab. Dann holen wir uns, was wir gebrauchen können, und dann verschwinden wir. Es gibt noch andere Höfe wo was zu holen ist.“

      Petrus Riebe drehte sich kurz zu seinem Gefährten um.

      „Nachher, Konrad. Ich bin hier noch nicht fertig. Ich glaube wir haben hier einen Bauern, der es nicht versteht einem Ritter Respekt zu zollen.“

      Petrus Riebe war ein stolzer Adeliger. Ungern sah er es, wenn sich ein Bauer gegen ihn auflehnte. Schließlich war er nicht irgendein Ritter, sondern ein Verwandter des Ritters Hermann Riebe, welcher als Statthalter des askanischen Herzogs Albrecht II. fungierte. Der Herzog weilte nämlich derzeit am Hofe von König Rudolf von Habsburg, dem Patenkind Kaiser Friedrich II. Mit Hermann Riebe hatte