Michael Aulfinger

Möllner Zeiten


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Winfried seine Hand darauf, und der Handel war getätigt, wie es unter Männern üblich war.

      Zwei Tage später durchschritt Winfried mit seiner Frau und seinen fünf Kindern das südlich gelegene Steintor, das extra valvam stendore. Es war gerade erst fertiggestellt worden. Gregor hatte als Zimmermann mit daran gearbeitet. Zuerst mussten die Neuankömmlinge über eine Holzbrücke am Vortor gehen. Darunter lag der äußere Wallgraben. Dahinter lag rechts vom Weg gelegen das erste Gebäude, in dem die Wache untergebracht war. Unmittelbar daneben schloss sich der imposante runde Zwingerturm mit seinem kreiselartigen und spitz zulaufenden Dach an. Der Zwingerturm war kurz unterhalb des Daches mit mehreren Fenstern versehen, die als Schießscharten dienen sollten.

      Gleich dahinter schloss sich das hoch gebaute Außentor an, durch das eine vollbeladene Karre gelangen konnte. Darauf folgten drei Gebäude auf der rechten Seite, zwei davon als Torbuden bezeichnet, und das hintere wurde als Torfstall benutzt.

      Hinter diesem Wall folgte der Innengraben, der wiederum von einer Brücke überspannt war.

      Ein weiteres Tor folgte, welches den Namen Innentor trug. Daneben waren entlang des Innengrabens mehrere Wehrtürme in verschiedenen Formen erbaut worden. Darunter befanden sich kleine, auch hohe runde, auch eckige Türme sowie ein vierkantiger Turm.

      Die Familie durchschritt an den Wachen vorbei all diese Tore ungehindert und gelangte in die Bleystrate, in der ihr neues Zuhause sein sollte. Freudig wurden sie von Gregor begrüßt. Er zeigte den Neuankömmlingen ihren Raum. Es mochte zwar für sieben Leute eng sein, doch sollte dieser Zustand ja nicht ewig dauern.

      Gregor betonte, wie froh er sei, dass Mulne endlich über eine wehrhafte Anlage mit Gräben, vielen Türmen und einer Stadtmauer verfügte, die Überfälle erschweren, wenn nicht sogar unmöglich machen würde. Winfried konnte dem nur zustimmen, da das ja auch der Grund dafür war, warum er von Lutowe nach Mulne umzog.

      Am nächsten Sonntag gingen fast alle Bürger der Stadt in die St. Nikolaikirche. Aber nicht jeder fand dort Platz wo es ihm beliebte. Es gab in der Stadt eine Rangfolge der Stände. Es war undenkbar, dass ein Bauer neben einem Patrizier stehen konnte. Das war in der Kirche nicht anders. In den vorderen Reihen standen die Familien der Honoratioren der Stadt. Danach folgten die Stände der Handwerker. Erst hinten fand sich das übrige Gesinde wie Bauern, Mägde und Knechte wieder. Bänke oder Stühle gab es keine, sodass alle während des Gottesdienstes stehen mussten.

      Eckhard stand neben seinem Vater und Adelheid. Winfried lauschte der Predigt des Pfarrers Ludulfus, in der es um die Auslegung der zehn Gebote ging. Voller Inbrunst und innerer Überzeugung schmetterte Ludulfus seine Worte in den hohen Raum des Kirchenschiffes hinaus, die von den Wänden widerhallten. Doch Eckhard hörte die Worte trotzdem nur halb. Mit seinen Gedanken war er überall und nirgends. Langeweile hatte ihn ergriffen, sodass er sich nach der Beendigung des Gottesdienstes sehnte. Deshalb wanderte sein Blick umher. Zu auffällig durfte er dies allerdings nicht tun, weil er sich sonst Schelte seines neben ihm stehendem Vaters zugezogen hätte. Zwischen den Köpfen der vor ihm stehenden hindurch erblickte er viele weiße Hauben der Fräuleins, welche diese trugen.

      Plötzlich war hinter Eckhard ein polterndes Geräusch zu vernehmen, worauf einige Leute neugierig ihre Köpfe nach hinten wandten. Aber Eckhard nicht. So sah er, dass eine junge Frau mit ihrer weißen Haube auch ihren Kopf wandte.

      Für einen kurzen Moment sah er in das schönste Gesicht welches er je gesehen hatte.

      Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Und dieser kurze Moment sollte ausreichen.

      Danach sehnte er sich umso mehr, dass der Gottesdienst beendet sei. Er musste sie kennen lernen. In den wenigen Wochen, seit er in der Stadt wohnte, war sie ihm noch nicht begegnet. Aber nach der Kirche wollte er sie ansprechen. Für Kopfzerbrechen sorgte allerdings der Umstand, dass sie weit vorne stand, und somit zu den besser gestellten Ständen gehörte. Er dagegen war nur ein Bauernsohn. Doch war ihm das egal. Er musste sie wiedersehen, egal auf welche Widerstände er treffen würde.

      Als der Gottesdienst beendet war, leerten sich zuerst die vorderen Reihen. Sie hatten ein Anrecht darauf. Eckhard und seine Familie mussten warten, bis sie an der Reihe waren, obwohl sie näher am Ausgang standen. Deshalb hatte er Gelegenheit, seinen Blick weiterhin wie gebannt auf die Dame seines Herzens zu richten. In dem Moment, als sie vorbei ging, schweifte auch ihr Blick in seine Richtung. Für einen Moment trafen sich wieder ihre Blicke.

      War das ein Lächeln gewesen? Sein Herz mochte nahezu zerspringen.

      Bald darauf war die Kirche geleert, und er streckte den Hals angestrengt, um einen Blick auf seine Angebetete zu erhaschen. Aber sie war schon die Treppe zum Marktplatz herunter­gegangen.

      „Geht nur schon nach Hause, Vater. Ich komme nach.“ Diese Worte raunte er Winfried zu, während er am Rande des Menschenstroms die Treppe hinuntereilte. Aus dem Augenwinkel sah er gerade noch , wie sie rechts zum Ziegenmarkt den Hügel hinunter entschwand. Er eilte hinterher, so schnell wie er konnte, doch dann sah er sie nicht wieder. Wohin war sie entschwunden? Nach rechts oder links? Hatte sie ein Haus der Seestrate betreten?

      Es nützte nichts. Nach einer endlos wirkenden Zeit des Herumirrens gab er auf und ging in die Bleystrate zurück.

      In den folgenden Wochen hatte Eckhard keine Zeit mehr, sich um den Verbleib des Fräuleins zu kümmern. In der Kirche hatte er sie an den Sonntagen auch nicht mehr erblicken können, auch wenn sein Blick ruhelos suchend umherwanderte. Täglich gingen er und sein Vater nach Lutowe, und erst abends zur Dämmerung kehrten sie nach harter körperlicher Arbeit durch das Steintor zurück. Allein, sie ging ihm nicht aus dem Kopf.

      Seit Tagen war in diesem Sommer eine Gauklertruppe in der Stadt. Es war schon etwas Besonderes für die Bürger. An Kurzweil und Ablenkung vom harten Alltagsleben gab es sonst nicht viel. Daher waren die Darbietungen willkommen. Nachdem der Gottesdienst vorbei war, stellte sich die Truppe in der Mitte des Marktplatzes auf. Sofort wurden sie von einer großen Zahl von Bürgern umringt. Voller Freude verfolgten die Menschen mit offenen Mündern und voller Begeisterung die Attraktionen. Eine ältere Frau in einem knallbunten Kleid hatte den Reigen mit einer farbenprächtigen Vorstellung begonnen. Trotz ihres Alters verstand sie sich graziös zu bewegen, und während ihrer Verrenkungen ein langes Band in immerwährende schlangenartig sich windenden Schwingungen zu versetzen. Sie hatte noch gar nicht geendet, da gesellten sich zwei Jünglinge dazu, die um sie herum im Kreise auf Händen liefen, ohne abzusetzen.

      Als die Frau geendet hatte, gesellte sich zu der bunten Truppe ein Flötenspieler hinzu, der es verstand, seinem Instrument schöne Melodien zu entlocken.

      Bald waren die Menschen von der Unterhaltung eingenommen. Welche Abwechslung dies doch in der Abfolge der alltäglichen Tristesse war. Strahlende Augen überall.

      Der Flötenspieler hörte auf, während eine Gruppe Artisten in der Mitte erschien. Vier Männer stellten sich nebeneinander auf, ihre Arme jeweils auf die andere Schulter des Nachbarn legend. Dann kamen drei weitere schlanke Artisten dazu, die sich breitbeinig auf die Schultern der vier unteren stellten. Die beiden Jünglinge, die vorher auf Händen gelaufen waren, krabbelten behände an der Vorderseite empor und stellten sich auf die drei. Ein wenig wackelte darauf die Konstruktion, doch behielt sie die Form, weil die untersten Männer es verstanden, das Gleichgewicht zu halten. Auf die Spitze der Pyramide kletterte zum Abschluss ein junger Mann, der sich jubelnd mit weit ausgebreiteten Armen von der applaudierenden Menge feiern ließ.

      Die Pyramide löste sich auf, während ein Mann mit langen Beinkleidern auf Stelzen erschien. Ein wenig wackelnd stolzierte er auf dem Marktplatz umher. Öfters jauchzten die Männer und Frauen auf und führten die Hand – in Erwartung eines baldigen Sturzes – vor den Mund. Aber dieser blieb aus. Der Mann verstand es geschickt, das Gleichgewicht zu halten. Währenddessen gingen kleine Mädchen der Gauklertruppe mit Holzschalen herum und sammelten bare Münzen für ihre Vorstellung ein. Sie wurden gerne gegeben, da es den Menschen gefallen hatte.

      Eckhard folgte lächelnd mit seinem Blick den Mädchen beim Geldeinsammeln. Da verharrte seine gleitende Bewegung.

      Dort drüben stand sie. Auch ihr Blick war herumgewandert und