Michael Aulfinger

Möllner Zeiten


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nicht so zugetan. Aber die Kaufleute, bei denen die Zeit sich in barer Münze auszahlte, hatten den Nutzen, den sie von dem beschleunigten Rechenvorgang hatten, schnell erkannt, und so war die neue Art, zu rechnen, nicht mehr aufzuhalten.

      Bis dahin wurde nur mit römischen Zahlen gerechnet. Es war schwer, diese Kolonne von Zeichen zu addieren. Wie sollte man beispielsweise MMCXI und CVI zusammenzählen? Die Zahlen mussten umständlich und zeitraubend von den Kämmerern und Notaren auf den Abacus übertragen werden. Auf dem Abacus wurden die Zehnerkügelchen von links nach rechts, und von rechts nach links geschoben, um sie dann je nach Notwendigkeit zu addieren, zu dividieren oder zu multiplizieren. Dann hatte eines Tages der aus Pisa stammende Leonardo Fibonacci beim Kaiser vorgesprochen. Er hatte von seinen Reisen aus Arabien und Indien einen Vorschlag mitgebracht. Danach wurde jeder Zahl ein unverrückbares Zahlzeichen zugeordnet. Es galt von eins bis neun. Die nulla figura wurde durch ein Loch in Form eines Kreises dargestellt. So konnte er Einer-, Zehner- und Hunderterwerte darstellen. Auf einer Pergamentrolle hatte er dem Kaiser bei seiner Vorstellung die Zahl 807 dargestellt. Als er erwähnte, dass jede beliebige Zahl, die darunter stehen würde, leicht zu addieren oder abzuziehen sei, jubelte Friedrich II. vor Entzücken. Die neue Schreibweise würde eine schnellere Übersicht vermitteln, und die Stärke seines Heeres sei leichter zu berechnen. Allein die Arbeit der Kämmerer im gesamten Reich würde enorm vereinfacht werden.

      So war es auch. Auf einer Liste hatte Bruno alle Zahlen fein säuberlich untereinander aufgeführt. Er war gerade dabei die Zahlen zu addieren, als er unversehens in seiner konzentrierten Arbeit unterbrochen wurde.

      Die Tür öffnete sich leise, und hinter der schweren Eichentür lugte ein weiblicher Kopf hervor. Zwar hatte dieser Kopf die gängige weiße Haube auf, doch erkannte Bruno sofort, um wen es sich dabei handelte. Es konnte nur seine lebenslustige Tochter sein. Und es wurde ihm bewusst, dass sie etwas wollte. Denn sie hatte schon als kleines Mädchen immer die Angewohnheit gehabt, ihren Vater in seiner Scrivekamere aufzusuchen, wenn sie von ihm etwas dringend begehrte. Es war für sie immer alles so dringend und unaufschiebbar, dass sie damit nicht warten konnte, bis er zu Hause war. Für einen Aufschub fand Agnes nie die Gelassenheit und die Geduld. Das kannte er nur zu gut. Aber sie war nun einmal seine Tochter, die er über alles liebte. Deshalb lächelte er Agnes sogleich an.

      „Was ist denn nun so dringend?“

      „Nichts, ich bin nur gekommen, um dich zu besuchen.“

      „Und das soll ich dir glauben?“

      „Natürlich. Wie könntest du daran zweifeln?“

      „Agnes!“ Bruno dehnte ihren Namen in die Länge, mit einem warnenden Unterton.

      „Na ja“, druckste sie herum. „Es gäbe da etwas, womit du mir eine große Freude machen könntest. Du willst mich doch glücklich sehen, oder?“

      „Da weißt du doch. Aber lass’ uns reden, wenn ich nach Hause komme. Ich habe zu tun.“

      „Vater, ich bin doch extra hergekommen. Das musst du verstehen. Es ist so wichtig für mich und erlaubt keinen Aufschub. Bis heute Abend kann ich wahrlich nicht mehr warten.“

      „Sicherlich geht es um Leben und Tod, Agnes?“

      „Natürlich“, erregte sie sich voller Inbrunst, als wenn eine andere Antwort völlig unsinnig wäre.

      Seines Widerstandes beraubt und erneut von seiner Tochter entwaffnet, legte Bruno seinen Schreibgriffel zur Seite. Er lehnte sich zurück.

      „Also Tochter, was ist dein Begehr?“

      „Vater, ich weiß das du es gerne sehen würdest, wenn ich heiraten würde. Doch all die Bewerber haben mich bislang nicht im Herzen berührt. Doch nun habe ich den Mann meines Lebens kennen gelernt, und er will mich ehelichen.“

      „Ist es der Bauer“, unterbrach Bruno, Unheil ahnend, „mit dem du gesehen wurdest?“

      „Ja, aber bevor du dich aufregst und gleich abwinkst, solltest du wissen, das Eckhard ein fleißiger Mann ist, bei dem ich es gut haben werde. Er wird für mich sorgen.“

      „Willst du in einem Schweinestall schlafen?“ Brunos Worte klangen ruhig.

      „Das ist es ja, Vater. Er will nicht länger Bauer sein. Er fängt eine Lehre als Zimmermann an. Sein Onkel Gregor, der in der gleichen Zunft ist, hat ihm den Weg geebnet. Danach wird er genug verdienen, um für uns ein Haus bauen zu können. Ich bitte dich darum, solange von anderen Heiratsplänen abzusehen, bis Eckhard und ich heiraten können.“

      „Und du bist dir sicher, solange warten zu können?“

      „Sicher Vater. Das werde ich.“

      „Das ehrt dich, doch weiß ich um deine Ungeduld. Ich sehe darin die Gefahr. Wahrscheinlich wird dir die Zeit des Wartens zu lange, und du wirst dich inzwischen neu verlieben. Mein Großvater Prabislaw hatte dereinst zehn Jahre auf seine Frau Helene gewartet, während sie in Geiselhaft weilte. Zehn Jahre waren damals eine lange Zeit, und sind es noch heute. Doch da er sie so sehr liebte, hat er es geschafft. Wahre Liebe kann Berge versetzen. Aus diesem Grunde möchte ich dich nicht zu einer standesgemäßen Hochzeit zwingen, die du verab­scheust. Ich kenne dein Wesen und weiß, dass du dabei wie eine gepflückte Blume ohne Wasser verwelken würdest. Es steht dir eine schwere Zeit bevor, das solltest du wissen und nicht vergessen. Bist du dir absolut sicher, diesen Weg gehen zu wollen?“

      „Ja Vater, da ich ihn liebe.“

      Bruno nickte, während er aufstand, und wusste, als er ihr in die Augen blickte, dass sie die Standfestigkeit haben würde. Anscheinend war es ihr wirklich ernst. Jedoch war er froh darüber, dass Eckhard den Ehrgeiz besaß, mehr aus seinem Leben zu machen. Das beruhigte ihn. Angesichts dieser Überlegungen gab es nur eine bedingte Zustimmung.

      „Wenn dein Eckhardt die Durchhaltekraft besitzt, die für sein Vorhaben von Nöten sein wird, so werdet ihr meinen Segen haben. Sollte er jedoch ein einfacher Bauer bleiben, so werde ich dich in wenigen Jahren standesgemäß verheiraten. Das ist mein letztes Wort.“

      Voller Glück umarmte Agnes ihren Vater. Tränen der Freude liefen ihr an den Wangen herab.

      „Er wird dich nicht enttäuschen. Das verspreche ich. Danke, Vater.“

      Sogleich rannte Agnes davon, um ihrer Mutter die frohe Botschaft zu verkünden.

      „Dieses Kind, ach je, dieses Kind.“ Ein langer Seufzer folgte.

      Kopfschüttelnd setzte sich Bruno wieder hin und nahm seinen Schreibgriffel in die Hand. Dann beugte er sich wieder über seine Liste und begann neu zu rechnen.

      Nahezu fünf Jahre sollte es dauern, bis Agnes und Eckhard ihre Hochzeit feiern konnten. Sie mussten für ihre Ehe viele Opfer bringen. Wie zu erwarten war, wurde es für Eckhard eine schwere Zeit, die er letztendlich doch bewältigte.

      Gegen die Plage des Raubrittertums wurde endlich auf breiter Front etwas unternommen. Im Landfrieden zu Rostock vom 13. Juni 1283 wurde unter dem askanischen Herzog Johann von Sachsen als Haupt des Bündnisses für eine tatkräftige Truppe gesorgt. Es waren die Fürsten von Pommern und Rügen, Herren von Werle, Mecklenburg und Rostock, der Graf von Schwerin und die Städte Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund, Greifswald, Stettin, Demmin und Tanslim beteiligt. Vor allem die Hansestädte waren der ständigen Überfälle auf die Kaufleute überdrüssig und wollten die Handelswege sicherer wissen. Sollte keine friedliche Lösung zu realisieren sein, so sollten die Vertragspartner ihre festgelegten Kontingente zur Hilfe schicken. Demnach hatten die Städte einhundertfünfzig Reiter zu stellen, und es war ihnen freigestellt, statt weiterer fünfzig Reiter tausend Mark lübsch beizusteuern. Die Fürsten und Herren kamen wiederum den Städten mit vierhundert schweren Reitern zu Hilfe. Für je sechs Hufen Land war jeweils ein Reiter abzustellen. Jeder war vertraglich verpflichtet, Hilfe bei Bedrohung des anderen zu leisten. So sollten die Straßen sicherer werden.

      Sollte gegen diese Vereinbarungen verstoßen werden, so wurde zuerst die Erfüllung angemahnt, und im Wiederholungsfall drohte sogar ein Angriff der Bündnispartner. Ziel war es, jeden Räuber seiner gerechten Strafe zuzuführen und letztendlich