Michael Aulfinger

Möllner Zeiten


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wurde, und alles weiterhin seinen geregelten Gang nahm. Einige in der Stadt machten sich dennoch auf Grund der Gerüchte Sorgen. Aber Colberchs einzige Sorge galt zur Zeit Gertrude.

      Er fand den Vikar Albert bei den Kranken und ging mit ihm in dessen Scrivekamere, wo sie ihre Angelegenheiten besprachen.

      Als seiner Pflicht als Hospitalvorsteher Genüge getan war, eilte er nach Hause. Er ging an ihr Bettlager und betrachtete ihr Gesicht. Nasse Haarsträhnen klebten auf ihren eingefallenen Wangen und der Stirn. Schweißperlen prangten daneben. Die Augen starrten glasig hervor. Es war eindeutig, dass sie ihn nicht wahrnahm.

      Er setzte sich an den Rand des Bettes und hielt ihre Hand. Colberch hatte jedes Zeitgefühl verloren und wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Es war der Medikus der Stadt, der seine Frau behandelte. Deshalb scherte es ihn wenig, was der Medikus von ihm verlangte. Colberch drehte den Kopf und sah den großen Mann an. Dann stellte er ihm eine Frage mit nur einem Wort.

      „Wann?“

      Nachdem der Medikus einen leicht entmutigenden Seufzer ausgestoßen hatte, ließ er seine Hand von der Schulter abgleiten.

      „Wir haben unser Bestes getan. Auf alle fiebersenkenden Heilmittel und Kräuter spricht sie nicht an. Ich bin ratlos. Es liegt jetzt nur noch in Gottes Hand.“

      Colberch nickte. Er vertraute auf Gott. Doch wusste auch er, dass allein Gott den Tag bestimmen würde, wann er Gertrude zu sich rief.

      Nach einigen Stunden, während derer er der Kranken Hand gehalten hatte, verließ er ihr Krankenlager. Völlig erschöpft legte er sich auf sein Bett und schlief lange. Müde und ermattet erwachte er. Die Sonnenstrahlen hatten schon lange sein Haus durchleuchtet. Er ging zum Krug, der auf dem Tisch stand, und füllte sich einen Becher mit Wasser. Er sah, wie die Magd mit kühlen feuchten Tüchern wieder das Zimmer der Herrin betrat. Da vernahm er ein Klopfen an der Tür. Mit zerwühltem Haar öffnete Colberch die Tür. Vor ihm stand der Büttel der Stadt. Er kannte als Ratsherr den Manfred nur zu gut.

      „Gottes Gruß.“

      „Gottes Dank.“

      „Was gibt es, Manfred?“

      „Der Bürgermeister wünscht alle Ratsherren sofort zu sehen.“

      Unwirsch schüttelte Colberch den Kopf. Das passte ihm nun gar nicht. Er hatte anderes vor.

      „Richte dem worthaltenden Bürgermeister aus, dass ich später kommen werde. Ich werde bei meiner todkranken Frau gebraucht.

      „Es tut mir leid, Ratsherr Colberch, es euch sagen zu müssen, doch bin ich dazu angehalten, euch unverzüglich und ohne Aufschub zum Steintor zu geleiten. Eure Frau muss warten.“

      Entgegen seiner natürlichen Art wurde Colberch wütend.

      „Büttel, was erlaubst du dir? Meine Frau liegt im Sterben, und da kommst du daher und willst mir verbieten, mich um meine kranke Frau zu kümmern? Sag dem Bürgermeister, dass ich nicht kommen werde. Was kann denn schon am Steintor so Wichtiges sein?“

      „Graf Gerhard hat mit seinem Heer vor dem Steintor Aufstellung genommen und ist dabei, die Stadt anzugreifen.“

      Hatte Colberch sich verhört? Wahrscheinlich waren seine Ohren zu verschmutzt, oder die Müdigkeit hatte ihn nicht richtig zuhören lassen. Der Büttel hatte etwas von einen Angriff auf die Stadt gefaselt. Nein, das konnte nicht sein.

      „Ich habe mich wohl verhört. Sag das noch einmal.“

      „Ratsherr Colberch, ich bin wirklich nicht zu Späßen aufgelegt, und es tut mir Leid um den Zustand eurer Frau, doch bin ich gehalten euch zum Steintor zu geleiten, weil die Stadt vom Grafen Gerhard angegriffen wird. Ihr werdet dort dringend erwartet. Alle Ratsherren sind dort versammelt, um gemeinsam Entscheidungen treffen zu können.“

      Sofort wich die Müdigkeit aus Colberchs Körper. Ohne ein weiteres Wort zog er seinen Wams an und folgte mit schnellem Schritt dem Büttel. Er musste ihm folgen.

      Bald war er am Steintor angekommen. Viele Bürger hatten sich mit angstvollen Gesichtern versammelt. Wie ein Lauffeuer war die Nachricht verbreitet worden. Colberch zwängte sich durch die vielen Leute. Das war nicht einfach, weil alle so eng beieinander standen, und ein Durchkommen beschwerlich war. Andere Wachmänner und Büttel hielten das gemeine Volk mit ihren langen diagonal gehaltenen Lanzen zurück. Da man ihn erkannte, wurde er schließlich durchgelassen. Er durchschritt das innere Tor, eilte den Damm entlang und betrat das runde Steintor. Oben wo sich die Schießscharten und Fenster befanden, waren schon all die anderen Ratsherren versammelt. Colberch sah in Gesichter, auf denen sich die ver­schieden­artigsten Gefühle widerspiegelten. Er sah ängstliche, furchtsame, erwartungs­volle, mutige, herausfordernde, gleichgültige, lächelnde und in solche, die so taten, als ginge das alles sie nichts an.

      Durch eines der Fenster überblickte er die Lage. Der Graben vor der Stadt lag ruhig wie immer da. Die Holzbrücke, über die sonst die gesamten Fußgänger, Reiter und Fuhrwerke passierten, war hochgezogen, ebenso die Brücken bei den anderen Toren der Stadt.

      Nun war Molne wahrlich eine Insel. Davor hatte sich das feindliche Heer des Grafen Gerhard III. von Holstein-Reinoldsburg gelagert. Er sah das bunte Fahnenmeer der Banner. Er sah schwerbewaffnete Ritter, mit erhobenen Lanzen, in geordneten Reihen stehen. Ihre an den Helmen befestigten bunten Büsche wehten lustig im Wind. Das Fußvolk war in einer Phalanx angetreten. Stolz und erhaben war dieser Anblick. Die Bürger und Ratsherren der Stadt waren eines so martialischen Anblicks nicht gewohnt. Um so intensiver wirkte er auf sie. Es gab nicht wenige, die angesichts des waffenstrotzenden Heeres schwer schluckten.

      Die Ratsherren sahen auf dieses imposante Heer. Johannes de Belendorpe war einer jener Männer, die so taten, als ginge es sie nichts an. Offensichtlich beeindruckte ihn das nicht.

      „Ratsherren, hört mich an. Graf Gerhard mit seinem Heer sieht ja ganz eindrucksvoll und ehrfurchtheischend aus, doch brauchen wir uns angesichts des gewaltigen Aufmarsches nicht zu fürchten oder zu resignieren. Ich sage euch, warten wir erst einmal ab. Wir sind wie auf einer Insel. Soll der Graf erst einmal zeigen, ob er es vermag, uns zu Leibe rücken zu können. Vielleicht kann er ja schwimmen? Aber auch das würde ihm wenig nützen.“

      Die Rede von Johannes war selbstsicher gesprochen. Doch vermochte sie nicht restlos die Zweifel auszuräumen. In einigen Gesichtern war noch immer Anspannung zu lesen.

      Marquardus de Zoltwedele war einer von ihnen. Er trat einen Schritt vor und sprach laut, sodass alle ihn hören konnten.

      „Sicherlich haben wir hier eine starke Festung erbauen können. Leicht wird es ihnen sicherlich nicht gemacht, uns zu überrennen. Doch vermögen sie unsere Häuser mit Brandpfeilen oder den Wurfgeschossen der Bliden in Brand zu stecken. Dann säßen wir in der Mausefalle. Ich bin dafür, dass wir verhandeln.“

      „Hört zu, Ratsherren,“ sprach der Bürgermeister. „Als wir bestimmten, dass wir Herzogin Elisabeth und ihrem Sohn Albrecht den Zugang zur Stadt verweigern wollten, waren wir alle einstimmig dafür. Warum seid ihr auf einmal so mutlos? Nur weil da Männer mit glänzenden und geputzten Rüstungen stehen? Seid keine Angsthasen.“

      „Sicherlich waren wir damals alle dafür. Doch konnte keiner ahnen, dass uns so ein starkes Heer bedrängen würde. Das war nicht zu erwarten.“

      „Ach nein?“ brüllte Johannes de Belendorpe den Marquardus an. „Warst du etwa so naiv zu denken, sie würden es stillsitzend hinnehmen? Ich dagegen habe an jede Möglichkeit gedacht, und hatte für mich entschieden, dass wir hier sicher sind. Und an dieser Meinung hat sich auch bei dem waffenstarrenden Anblick nichts geändert.“

      Diesen Vorwurf der Naivität gedachte Marquardus nicht auf sich sitzen zu lassen. Er setzte gerade zum lauten Dementi an, als er von Colberch unterbrochen wurde.

      „Streitet euch später. Seht hinab. Da kommt ein Reiter. Es ist wohl der Herold des Grafen. Seid endlich leise, und vernehmt die Worte des Herolds.“

      Ein Herold des Grafen war tatsächlich bis an den Rand des Graben geritten. Der Graben