Michael Aulfinger

Möllner Zeiten


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war dermaßen enttäuscht, dass sie noch am gleichen Tag nach Cletlinge zu dem Wald Melme zurückreiste.

      Rudolf und Arnulf hatten an diesem sonnigen Tag im Jahre 1350 wieder Dyl besucht. Auch diesmal hatte er wieder Geschichten erzählt. Gebannt hatten die Freunde gelauscht, denn lustig waren die Geschichten allemal. Er hatte gerade ein Erlebnis erzählt, in dem er damals in Helmstedt sich auf Kosten eines Bäckers vollgegessen hatte und der Bäcker Dyl auch noch auf eigene Kosten einen kranken Zahn ziehen ließ, als eine Begine an sein Bett trat.

      „Lasst uns allein.“

      Diese herrischen Worte waren an die Jungen gerichtet. Unsicher, ob sie dem Befehl folgen sollten, blickten sie Dyl hilfesuchend an. Er nickte.

      „Geht, meine Freunde. Doch kommt bald wieder. Dann werde ich euch weiter von meinen vielen Reisen berichten.“

      Die Knaben gehorchten und gingen aus dem Hospital. Sogleich setzte sich die Begine Adelheid auf seinen Bettrand. Sie hatte ein ernstes Gesicht aufgesetzt.

      „Ich muss mit euch sprechen. Ihr wisst selber zu genau, dass eure Tage auf Erden gezählt sind. Damit ihr vor den Herrn treten könnt, ist es nötig, dass ihr das Abendmahl empfangt. Doch zuvor müsst ihr allerdings Reue und Leid wegen eurer Sünden empfinden. Dann könnt ihr auch zufrieden und süß sterben.“

      Dyl schüttelte den Kopf.

      „Da irrt ihr euch. Mein Sterben wird nicht süß sein, denn der Tod an sich ist bitter. Und warum soll ich heimlich beichten? Was ich in meinem Leben getan habe, das ist vielen Leuten in vielen Landen nur allzu gut bekannt. Wem ich Gutes tat, der wird auch gut über mich sprechen. Andersherum genauso. Wem ich Böses tat, der wird dies trotz meiner Reue verkünden. Also sei’s drum. Aber trotzdem will ich euch wissen lassen, dass ich drei Dinge unterlassen habe, und nicht tun konnte. Und dies ist das Einzige, was ich zutiefst bereue.“

      Die Begine richtete ihren Oberkörper auf. Sie glaubte, den Todkranken zu ehrlicher Reue gebracht zu haben. Ein gewisser Stolz erhob sie innerlich, dass gerade sie es sein sollte, der er seine Reue zeigen würde.

      „So sprecht doch. Was sind das für Dinge, die ihr unterlassen habt? Waren es gute oder böse?“ Ein wenig drängelte sie ihn zu seiner Reue. Dyl dagegen ließ sich nicht drängeln. Er lag auf dem Rücken, den Blick auf die schäbige Decke gerichtet, und sprach ruhig und langsam mit einem ernsthaften Ton.

      „Wie ich schon sagte, waren es drei Dinge. Wie gerne würde ich das Versäumte nachholen. Wenn ich zum Einen in meinen jungen Jahren sah, dass ein Mann auf der Straße ging, dem der Rock lang unter dem Mantel heraushing. Dies ärgert mich noch bis heute, dass ich es unterlassen habe das heraushängende Stück abzuschneiden.

      Des Weiteren sah ich einen Mann, wie er sitzend mit einem Messer zwischen seinen Zähnen stocherte. Oh, wie gern hätte ich ihm die Arbeit abgenommen und ihm das Messer vollends in seinen Hals gestoßen. Denn ein Messer ist – wie jeder weiß – eine tödliche Waffe, und nur jemand, der des Lebens müde ist und es beenden will, fuchtelt damit in seinem Mund herum. Wie gern hätte ich also dabei geholfen, sein Leben zu beenden. Dies bereue ich bis heute, nicht getan zu haben. Wie gern würde ich die Zeit zurückdrehen.“

      Dyl seufzte hörbar und blickte weiter sehnsüchtig an die Decke.

      Die Begine glaubte sich verhört zu haben. Redete der kranke Mann wirr? Vernebelte die Krankheit seinen Verstand? Erschrocken hörte sie Dyl von seiner dritten Reue berichten.

      „Als Letztes bereue ich, nicht allen alten Frauen ihre Hintern zugenäht zu haben. Denn diese alten Weiber sind zu nichts mehr nütze, als das sie nur noch das Erdreich bescheißen, auf dem die Frucht steht.“

      Die Augen der Begine verengten sich zu schmalen Schlitzen. Ihre Körperhaltung nahm die gleiche Stellung ein, wie sie eine Raubkatze kurz vor dem Sprung auf ein Opfertier einnimmt, welches es zu reißen gilt.

      „Ihr sprecht wirr.“ Sie bemühte sich ruhig zu bleiben, doch fiel es ihr sichtlich schwer, ihn nicht empört zurechtzuweisen. „Das hieße gar, das auch ihr mir den Hintern zunähen würdet, wenn ihr gesund wäret, da ich schon über sechzig Jahre zähle.“

      Dyls Augen blitzten trotz seines schlechten Zustandes auf. Er drehte seinen Kopf zu der erregten Beginne, und sprach im ruhigem Ton:

      „Es tut mir wahrlich leid, dass es bisher noch nicht geschehen ist, aber in eurem Fall kann Abhilfe geschaffen werden. Ein paar Stiche mit der Nadel bekomme ich sicherlich noch hin. Wenn ihr also Nadel und Faden holen, und euer Hinterteil entblößen würdet, wäre ich euch recht dankbar. Dann könnte ich wenigstens ein Versäumtes in meinem Leben nachholen. So wäre mir das Sterben wirklich leichter.“

      Die Augen der Begine glühten vor Zorn. Es war schwer für sie, sich im Zaum zu halten und den kranken Mann nicht vor Zeugen zu schlagen, wie sie es zu gern getan hätte.

      Sie erhob sich vom Bettrand. Zornesrot war inzwischen ihr Gesicht angelaufen.

      „Ich – ich weiß nicht was ich sagen soll. Euch soll der Teufel behüten. Aber vorher soll euch der Teufel holen, wenn ihr den alten Frauen so etwas antun wollt. Doch mich werdet ihr hier nicht mehr sehen. Dann sterbt eben ohne ehrlich empfundene Reue.“

      Mit einem verschmitzten Lächeln verfolgte er, wie die aufgebrachte Begine wie eine Furie davonstob. Deshalb bekam sie nicht mit, wie Dyl ihr seufzend hinterherrief.

      „Keine Begine ist so fromm, dass sie nicht, wenn sie zornig wird, ärger ist als der Teufel.“ Dann legte Dyl wieder sein Haupt auf das Lager und blickte schmunzelnd an die Decke.

      Rudolf und Arnulf hatten die Begine weglaufen sehen. Neugierig schlichen sie wieder in das Hospital hinein und traten erneut an Dyls Lager. Sie blickten in ein zufriedenes Gesicht. Verwundert stellten sie ihrem todkranken Freund eine Frage.

      „Sprecht, Herr. Warum ist die Begine so schnell davongelaufen?“

      Wie der eines unschuldigen und unwissenden Kindes, welches keiner Fliege etwas zuleide tun könnte, war der Gesichtsausdruck des Kranken. Zur Bekräftigung zuckte er mit den Schultern.

      „Ich weiß auch nicht, was in sie gefahren ist. Vielleicht muss sie ihre Notdurft verrichten, bevor ihr dies unmöglich ist.“ Dyl schmunzelte.

      Die beiden Freunde jedoch sahen sich verständnislos an. Sie verstanden kein Wort.

      Aber das war den Jungen dann auch egal, und so setzten sie sich wieder hin und lauschten einer weiteren Geschichte, die der fremde Mann von sich gab. In ihr erzählte er von einem Erlebnis, welches sich an der Saale zugetragen hatte. Dort hatte er sich als Seiltänzer versuchen wollen. Nachdem er mit seiner Kunst geprahlt hatte, wollten die Leute viel sehen. So ließ er sich von jedem bereitwillig einen linken Schuh geben, den er in einen Sack steckte. Mit dem vollem Sack war er dann oben an das Fenster des Hauses getreten, an dem das Seil angebracht war. Aber anstatt mit den Schuhen zu jonglieren, entleerte er den Sack voll Schuhe aus der Höhe. Sogleich stürzten sich die Leute auf die Schuhe und prügelten sich darum, weil jeder meinte, seinen eigenen Schuh erblickt zu haben, den ein anderer in der Hand hielt.

      Die Freunde lachten über die lustige Geschichte. Aber Rudolf und Arnulf waren nicht blind. Sie sahen, dass Dyl das Erzählen sichtlich schwer fiel. Die Pausen wurden länger, und die Schwäche war an seinen müden Augen abzulesen. Bald ließen sie ihn allein, und Dyl fiel sofort in einen tiefen Schlaf.

      Der zunehmend schlechtere Gesundheitszustand wurde nicht nur den beiden Jungen offenbar. Auch die Beginen sahen das Ende kommen. So befahl eine blonde und herzensgute Begine, nach dem Vikar des Hospitals zu rufen. Der Vikar Albert war ein frommer Mann und stets um das Wohl seiner Schäfchen bedacht. Aber er hatte einen Fehler. Zu sehr war er der Anziehungskraft des weltlichen Mammons erlegen.

      So sprach er gleich zu sich, nachdem er gerufen wurde, dass Dyl sicherlich ein wohlhabender Mann sein müsse. Auf seinen vielen abenteuerlichen Reisen, von denen Vikar Albert inzwischen auch erfahren hatte, hatte der Kranke sicherlich viele Münzen sammeln können. Jetzt kam es dem Vikar in den Sinn, die Situation auszunützen, um einige davon abzuzweigen.

      Vikar Albert wollte dem Todkranken