von meinem Sohn gelernt. Da fällt mir ein, dass ich schon länger nichts von ihm gehört habe. Das ist allerdings nicht weiter verwunderlich. Seine Frau kann mich nicht ausstehen. Das wäre nicht schlimm, wenn sie nicht den Kontakt zwischen meinem Sohn und mir vergiften würde. Na, scheiß der Hund drauf. Wir hatten bis zu seiner Hochzeit ein tolles Verhältnis. Die Erinnerung daran muss eben reichen.
Links und rechts der DJane hat man zwei Open-Air-Bars aufgebaut. Die linke bietet Schnäpse, Liköre und Cocktails an. An der rechten Bar gibt es ausschließlich Champagner. Mann, hier ist wirklich alles vom Feinsten. Allerdings ist es mir für Schnäpse und Liköre noch zu früh und von Champagner kriege ich leicht Sodbrennen. Ich bin unschlüssig, was ich trinken möchte, da kommt ein hübsches Mädchen mit einem Tablett voll Getränken vorbei. Champagner, Orangensaft und Campari hat sie im Angebot. Champagner kommt nicht infrage. Orangensaft trinke ich nur zum Frühstück. Ich entscheide mich für einen Campari Soda. Auf der rechten Seite des Rasens steht ein Partyzelt. Es ist ein schöner Sommerabend, deshalb hat man die Seitenwände geöffnet. Meine Neugier lässt mich das Zelt betreten. Geizig scheinen die Gastgeber auch hier nicht zu sein: Jumbo-Shrimps-Spieße nach Cajun-Art, Platten mit Graved Lachs, Red Atun, Sushi und viele andere Leckereien werden dort auf kleinen Schildern in goldener Schrift angepriesen. Neben dem Buffet steht ein Kerl mit einer großen Kochmütze vor einem dampfenden Spanferkel und wartet anscheinend auf Hungrige. Nicht schlecht, aber Hunger habe ich derzeit noch keinen.
Ich schlendere mit meinem Campari an den Besuchergrüppchen vorbei. Dann sehe ich, dass man neben dem Haus einen kleinen Bierwagen aufgestellt hat. Dort füllt ein Kerl mit einer großen Lederschürze, die seinen riesigen Bauch nur unvollständig bedeckt, Bier in hübsche Keramikkrüge. Also, verdursten wird hier keiner. Verhungern wohl auch nicht. Wo ist Andrea und wer sind die anderen Geburtstagskinder? Nirgends kann ich jemanden entdecken, der mich an Andrea erinnern würde. Allerdings habe ich auch nur noch eine ganz blasse Vorstellung von ihr. Meine bisherige Gästebilanz fällt nicht gut aus, zumindest was Aussehen und Zustand der Gäste angeht. Die Mehrzahl der Leute hat ihr Verfallsdatum schon längst überschritten. Gehöre ich eigentlich auch dazu? Irgendwie komme ich mir hier vor, wie auf einer Geriatrieversammlung. Dabei habe ich keinerlei Grund, mich über die anderen lustig zu machen, oder? Ich entdecke niemanden, mit dem ich in näheren Kontakt treten möchte. Da tippt mir jemand unvermittelt auf die Schulter.
»Raimar, Mensch alter Junge, was machst Du denn hier?«
Ich zucke zusammen, drehe mich um und blicke in ein rotes Arschgesicht, an dem ein feister Körper hängt. Ich bemühe mich, nicht unhöflich zu sein, obwohl es mich reizt, dem Kerl etwas Freches zu antworten. Und obwohl das den Typ ja nun wirklich nichts angeht, sage ich ihm spontan die Wahrheit.
»Ich war einmal mit einem der Geburtstagskinder verheiratet,« und dann füge ich noch hastig hinzu »vor gefühlt hundert Jahren.«
Der Typ grinst. Dieses Grinsen macht ihn noch unangenehmer. Ich beschließe, ihn von jetzt ab „Schweinchen Schlau“ zu nennen, nur zu mir natürlich.
»Wer war es denn, Andrea oder Annegret?«
Ich brauche einen Moment, um überhaupt die Frage zu verstehen. Dann quetsche ich mir ein »Andrea« heraus, was der Typ mit einem spöttischen »Aha!« quittiert und dann ergänzt er noch schnell:
»Gefühlt hundert Jahre muss es auch schon her sein, dass wir zusammen studiert haben.«
Jetzt ist die Katze aus dem Sack. Mein Personengedächtnis ist ohnehin nicht das Beste, und es fällt mir partout nicht ein, wo ich Schweinchen Schlau hintun soll.
»Ach das Studium,« ist alles, was ich entgegnen kann, »wir hatten damals eine tolle Zeit.«
»Dass Du Dich daran erinnerst, finde ich super!« ist seine Antwort. Ich kann mich allerdings nicht im geringsten an ihn erinnern und mein einziger Gedanke ist, den Kerl schnellstmöglich loszuwerden. Aber so einfach scheint das nicht zu sein. Der Typ quasselt weiter auf mich ein.
»Wir sollten uns unbedingt einmal treffen und über die alten Zeiten reden. Es ist ja seitdem so ungeheuer viel passiert. Ich gehe übrigens schon eine Weile mit dem Gedanken schwanger, alle unsere ehemaligen Kommilitonen zu einem Treffen einzuladen.«
»Zu einem Treffen? Wie meinst Du das?« ist alles, was ich entgegnen kann.
»Na ja, ich kenne da eine wunderbare Kneipe, wo wir uns treffen könnten und über die alten Zeiten plaudern können. Ich sammel derzeit Kontaktdaten und habe schon einiges beisammen.«
Ich schaue ihn an und merke, dieser Typ ist nicht zu bremsen. Plötzlich hält er mir sein Handy unter die Nase. Es zeigt auf dem Display eine Telefonnummer.
»Na los, nimm mal Dein Handy raus und ruf diese Nummer an, dann haben wir beide unsere Telefonnummern und können uns demnächst einmal verabreden.«
Ich bin sprachlos ob dieser Dreistigkeit, aber ich mache genau das, was er mir aufträgt. Nachdem ich die Nummer gewählt habe, klingelt bei Schweinchen Schlau das Handy. Er grinst triumphierend.
»Na siehst du, jetzt ist alles Paletti.«
Ich finde gar nichts ist „Paletti“. Ich bin soeben Opfer eines Telefonnummernraubes oder zumindest einer Telefonnummernabschöpfung geworden.
»Ich bin mit einer ganzen Gruppe hier. Die sind alle aus meinem Betrieb. Da ist leider keiner von damals dabei. Na egal, wir bleiben jetzt in Verbindung, nicht wahr? Ich kümmere mich jetzt erst einmal um die anderen.«
Das Schicksal hat mit mir ein Einsehen – Gott sei Dank. Ich grinse ihn an und wünsche ihm viel Spaß auf der Party. Er grinst zurück, nicht ohne mir das Versprechen abgenommen zu haben, dass ich ihn anrufe, wenn ich Zeit habe. Ich nicke und weiß genau, dass ich ihn niemals anrufen werde. Außerdem ist mir immer noch nicht sein Name eingefallen. Egal, Schweinchen Schlau reicht ja. Als Nächstes muss ich unbedingt seine Nummer wieder aus meinem iPhone entfernen! Schweinchen Schlau verschwindet in Richtung seiner Gruppe. Ich schaue auf mein Glas mit dem Campari. Eigentlich bräuchte ich jetzt einen stärkeren Drink. Als unbegleitete Einzelperson ist man solchen Angriffen schutzlos ausgeliefert, denke ich. Verdammt noch mal, Rita, warum musstest Du mich so früh verlassen? Du hättest mit deiner zeitlosen Schönheit diesen Verein ganz schön aufgemischt! Wieder tippt mir jemand auf die Schulter und für eine Sekunde fürchte ich die Rückkehr von Schweinchen Schlau. Als ich mich umdrehe, sehe ich in ein frisches, freundliches Gesicht.
»Raimar? Du bist es doch? Na klar, mit Deiner Körpergröße ist es leicht, Dich zu erkennen.«
Ich stehe da wie ein Blödmann. Wahrscheinlich hat es mir die Sprache verschlagen. Das ist Andrea? Sie sieht nicht aus wie sechzig. Wenn ich nicht wüsste, dass sie es ist, hätte ich sie auf höchstens Anfang fünfzig geschätzt. Sie hat immer noch braunes volles Haar mit einem leichten Rotstich, den man aber nur sieht, wenn das Licht unmittelbar darauf fällt. Ihre dunkelbraunen Augen haben mich schon damals fasziniert. Und dann ihre Hände. Was hat das Mädchen immer noch für tolle Hände mit Fingern lang und schön wie frisch geschälter Spargel, die dünne Variante natürlich. Sie scheint immer noch sehr schlank zu sein. Genau sehen kann ich das vor lauter Aufregung nicht. Sie trägt ein hübsches bonbonfarbenes Kostüm mit einem leicht ausgestellten Rock. Ich verstehe ein bisschen was von Damenmode. Das hat mir Rita beigebracht. Vermutlich stammt Andreas Kostüm von ESCADA. Billig sieht es jedenfalls nicht aus. Auch Andreas Beine scheinen immer noch o.k. zu sein. Jedenfalls sind sie noch immer schlank, das gefällt mir. Ich glaube, sie mag es nicht, wie ich so taxiere. Da wird mir bewusst, dass ich sie mit offenem Mund anstarre.
»Du kannst jetzt deinen Mund wieder schließen. Komm, ich werde Dich meinem Mann vorstellen.«
Andrea nimmt mich an die Hand wie einen Zwölfjährigen und zieht mich über den Rasen. Ihre Hand ist warm und weich und für einen kurzen Moment habe ich einen unreinen Gedanken. Ich meine, wie sie sich wohl an meinem Schwanz anfühlen würde. Irgendwie bin ich verwirrt. Ob das am Campari liegt? Oder an dem Wiedersehen mit Andrea?