Stefan G. Rohr

Der Funke eines Augenblicks


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an den Wegbegrenzungen aneinanderreihten. Kurz vernahm ich einen zarten Duft von Waldmeister, doch als ich ihn bemerkte, war er auch schon wieder verflogen. Kirschbäumchen, Apfel und Birne daneben, standen in üppiger Blütenpracht und sahen fast so aus, als ob sich später Schnee auf ihnen niedergelegt hatte.

      Die Rasenflächen trugen knöchelhohes Gras. Ein sattes Grün, das einem bunt gefleckten Teppich gleich mit lila, roten, blauen und gelben Primeln übersäht war. Große Kirschlorbeerbüsche umgrenzten das Grundstück, und ihre weißen Dolden ragten steil in den Himmel, während ein kleiner Schwarm Bienen auf den Blüten nach Nektar suchten. In den Fugen der gepflasterten Wege hatte sich Moos abgesetzt, trieb hier und dort winzige dünne Halme empor, und gelb blühender Löwenzahl wartete inmitten der Beete auf seine Metamorphose zur Pusteblume, um in Bälde seine Samen vom Wind verteilen zu lassen. Ein großer Busch Pfingstrosen hatte bereits eine Vielzahl von frühen Blüten gebildet, von denen nun schon einige in voller Pracht blühten und ihren intensiven Geruch betörend an meine Nase führten.

      Meine Gedanken führten mich zurück in die Klinik, ans Bett meines Vaters. Würde es mir auch einmal so ergehen, dass mir die Erinnerung an diesen Garten, an einen Moment eines glücklichen Einvernehmens und stillem Genusses, Schmerzen bereiten sollte? Können sich schöne Augenblicke, das genossene Erlebte, in eine Qual umkehren? Wäre es demnach eine göttliche Milde, wenn uns die Erinnerungen abhandenkämen, wir uns nicht mit ihnen plagen müssten, sie sich nicht mehr als schmerzhafter Verlust erweisen würden?

      Eine Gnade wäre es gewiss für all diejenigen, deren Erinnerungen von Bomben, Granaten und dem Zischen der Geschosse über dem Schützengraben erfüllt sind. Oder von anderen Leiden, von Schmerzen, dem Verlust geliebter Menschen, Vertreibung, Hunger oder Folter. Aber die Momente, in denen die Liebe, das Schöne, Wärme, Edelmut und Glück vorherrschen, diese Augenblicke und Erinnerungen sind es doch, die wie Seelenbalsam sind, uns erhellen und unser Glück wie in einem Lebensweckglas schützend konservieren. Wie konnte es sein, dass sich derlei so gegen uns wendete?

      Für einen Moment erschrak ich, denn ein Gesicht tauchte urplötzlich am Zaun auf. Es war das Antlitz von Herrn Fiedler, der mich erstaunt, zugleich aber auch neugierig beäugte.

      „Herr Fiedler“, rief ich aus. „Sie haben mir jetzt aber einen kleinen Schrecken eingejagt.“

      Er zeigte wenig Reaktion. Nur sein Blick wanderte von mir kurz über den Garten, wobei er missmutig den Kopf schüttelte. „Kennen wir uns, junger Mann?“ Seine Stimme klang herrisch und angriffslustig.

      „Nun, wir hatten bereits einmal das Vergnügen.“ antwortete ich brav. „Gestern. An gleicher Stelle.“ Ich stand auf und ging ein wenig näher. „Wir sprachen über das Geheimnis der Wolken.“

      „Was für ein Quatsch!“ rief er zornig, und das Schütteln seines Kopfes wurde kräftiger. „Wolken sind Wolken. Gase, Dunst, physikalische, chemische Reaktionen. Nichts an ihnen ist geheimnisvoll. Alles leicht zu erklären.“

      „Auch was leicht zu erklären ist kann ein Geheimnis bergen.“ Doch als ich das ausgesprochen hatte, bereute ich sofort ihm widersprochen zu haben. Denn er schien mir nicht in der Verfassung für eine tiefergehende Diskussion.

      „Wer sind Sie überhaupt?“ donnerte er mir aber an den Kopf, ohne auf meine Antwort einzugehen.

      „Sie haben Recht, ich bin unhöflich.“ versuchte ich zu beschwichtigen. „Mein Name ist Ludwig Maler, und für eine unbestimmte Zeit ihr Nachbar.“ Ich zeigte mit dem Daumen nach Hinten auf das Haus. „Habe gerade das kleine Appartement in dem Parterre bezogen.“

      „Noch so ein Fernseh-Fuzzi!“ schnaubte er abfällig. „Hört das denn nie auf …?“

      „Ich kann Sie beruhigen, ich bin nicht beim Fernsehen.“ Dabei versuchte ich ein mildes Lächeln aufzulegen. „Wie geht es Ihrer Tochter? Ist sie zuhause?“ Doch es schien mir, als hätte mich der alte Mann gar nicht gehört. Seine Stirn lag in tiefen Falten und er stierte nun mit hohlem Blick auf das Haus, als würde er in einen tiefen, dunklen Tunnel blicken. In mir kam leichte Hilflosigkeit auf, und ich machte noch einen Schritt näher an den Zaun heran.

      „Was ist nur mit diesem Haus geschehen?“ fragte er mich unvermittelt. „Es sieht so anders aus?“

      „Es wurde wohl kürzlich renoviert.“ erklärte ich vorsichtig. „Drei kleine möblierte Wohnungen, für Leute, die nur für kurze Zeit in der Stadt zu tun haben.“

      „Ist Isabella da?“ Er reckte seinen Kopf in die Höhe und schaute über den Garten. „Wo ist Isabella?“

      Was sollte ich ihm antworten? Wer war `Isabella´? Fragen aber wollte ich ihn jetzt auch nicht.

      Er suchte mit aufgeregten Blicken weiterer das Grundstück ab. „Kommt sie nicht zum Spielen raus?“ fragte er mit vernehmbarer Enttäuschung.

      „Isabella wohnt hier nicht mehr.“ versuchte ich zaghaft zu erklären. „Wohl schon lange nicht mehr.“

      „Ist sie abgeholt worden?“ Auf seinem Gesicht machte sich ein Anflug von Verzweiflung breit.

      „Nein.“ log ich. „Sie ist mit ihren Eltern in eine andere Stadt gezogen. In ein größeres Haus. Mit einem noch viel schöneren Garten.“

      „Ist sie dort glücklich?“ Der Alte schien sich etwas zu beruhigen.

      „Ja.“ log ich weiter. „Vollkommen. Sie hat es dort wirklich sehr gut.“ Ich schluckte kurz, denn mein Mund wurde mit einem Schlag ganz trocken. „Es ist so viel besser als hier.“

      „Aber ist sie auch sicher?“ Beim Alten klang ein Schimmer aufkeimender Hoffnung mit.

      Allmählich begann ich zu ahnen worum es ihm ging. „Dort, wo sie ist, sind alle sicher. Es gibt dort nichts wovor sie Angst haben müssten.“

      Der Mann am Zaun blickte mit einem schwachen Lächeln wieder über den Garten und zum Haus. Es war ihm, als flögen altbekannte Bilder an ihm vorbei, als hörte er das Lachen spielender Kinder, das Klappern der Hufe von Kutschpferden oder das Sägen des Tischlers in der Werkstatt um die Ecke. Fahrradklingeln läuteten in seinen Ohren, ein paar Turmglocken in der Ferne schlugen die Zeit, und der Postmann schellte an der Tür, denn es gab einen Brief aus Übersee, von der Verwandtschaft aus Amerika. Aus einem geöffneten Fenster ertönte Klavierspiel, leicht holprige Versuche mit Schubert und Chopin. Ein Schornsteinfeger, mit Zylinder, Besen und Leiter, kam die Straße entlang. Eine Schaar von Kindern hatte ihn sofort umzingelt. Sie begannen fröhlich ein Lied zu singen: `Wer hat Angst vor dem Schwarzen Mann …´. Und ein wenig weiter, straßenabwärts, schob der Scherenschleifer gerade seinen Karren den steilen Hang hinauf. Er schwang seine in der Sonne glänzende Handglocke, denn man sollte wissen, dass er nun wieder da sei. Und nicht fern von ihm schlenderte, die Arme auf dem Rücken verschränkt, den Uniformkragen hochgeschlossenem, der Schutzmann. Auf seinem Kopf thronte eine schwarze Pickelhaube mit silbernen Beschlägen. Galant grüßte er mit einem kurzen Griff an seine Stirn so manchen ihm entgegenkommenden Bürger. Dann strich er sich gern noch den breiten Schnauzbart, ein wenig majestätisch, als Geste seiner Amtsgewalt.

      Ein zweiter Kopf erschien am Zaun. Es war der von Frau Fiedler, der Tochter. Sie nickte mir kurz zur Begrüßung zu. „Verzeihen Sie, Herr Maler.“ sagte sie ein wenig außer Atem. „Er ist heute besonders schwierig. Und wenn ich mich nur kurz einmal umdrehe, ist er auch schon verschwunden.“

      Ihr Vater schien wieder völlig abwesend zu sein. In sich gekehrt stand er wie angewurzelt am Zaun und blickte in die Ferne.

      „Wer ist Isabella?“ fragte ich neugierig. „Er sprach gerade von ihr.“

      Laura Fiedler setzte ein kurzes Lächeln auf. „Oh, Isabella. Ja, ich erinnere mich, aber das ist aber schon sehr lange her. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft meines Vaters. Als sie noch in Berlin lebten, vor dem Krieg.“

      „Was ist mit ihr geschehen?“ fragte ich weiter.

      „Das, was mit den meisten geschehen