Stefan G. Rohr

Der Funke eines Augenblicks


Скачать книгу

gelaufen.“ Und sein Blick schweifte aus dem Fenster, hinaus in die Ferne, als sähe er sie am Horizont sitzend, ihr langes Haar kämmend und ihm zuwinkend. Er lächelte kurz. Dann senkte er wieder den Kopf.

      „Oh ja, Papa. Sie war wirklich eine Schönheit.“ Ich nahm die Hose von der Lehne, legte sie zusammen und setzte mich vor ihm auf den Stuhl neben seinem Bett. „Aber Du musstest Dich ja auch nicht verstecken. Und wie mir Mama oft erzählt hast, schauten Dir fast alle Mädels auf dem Campus hinterher.“ Ich machte eine kurze Pause und sah nun ebenfalls aus dem Fenster in die Ferne. „Ein Traumpaar. Ja, das ward ihr Zwei. Und immer glücklich.“

      „Ich konnte sie riechen, im Traum, Ludwig.“ Er schloss die Augen, so als wolle er in sich hineinhorchen. Und er atmete einige Male unruhig durch. „Sie hatte ja immer einen so eigenen Duft. Wie eine Rose nach dem Sonnenaufgang, wenn der Morgentau noch nicht verdunstet ist. Wenn von der Nacht nur noch deren Tränen geblieben sind, glänzend im jungen Licht, als wären sie aus der Dunkelheit herabgefallene Sterne.“ Er schaute mich nun mit einem bitteren Lächeln an. „Du weißt doch, Ludwig, dann entfalten die Rosen ihren schönsten Duft. Ganz kurz, für einen einzigen Moment. Manchmal sind es nur wenige Sekunden. Aber erlebst Du ihn, kannst Du diesen Dein ganzes Leben mit Dir führen. So wunderschön ist er, so unendlich fest in Deiner Erinnerung.“

      Ein leichtes Zittern zeigte sich auf seiner Kinnspitze, und er schloss nun wieder die Augen. „Und irgendwann beginnt es in Dir zu brennen. Alles Schöne hat Feuer gefangen, Deine Erinnerungen glühen in Deiner Seele. Und mit den Flammen bäumen sie sich noch einmal auf, werden nochmals klarer, als würden sie sich dagegen wehren, im Nichts der kalten Asche zu vergehen. Sie tanzen in Deinem Kopf, Deinem Herzen, Du erlebst sie wieder und wieder. Und mit jedem Mal wird Dir bewusster, dass Du keinen einzigen dieser Augenblicke mehr zurückholen kannst. Sie sind auf ewig verloren, nur ihre Schatten berühren Dich noch, wollen nicht von Dir lassen. Ja manchmal lachen sie Dich aus, gaukeln Dir im Traum das Glück vor, als würdest Du es noch einmal erleben dürfen. Aber sie sind Dämonen, denn sie versagen Dir die Gnade des Vergessens, quälend, beharrlich, unabänderlich.“

      Auf seinem Gesicht vernahm ich ein spöttisches Lächeln. „Mit jedem neuen Tag entfernst Du Dich noch einen Schritt weiter von Deinem Gestern. Und die Flammen lodern nochmals höher, brennen immer heißer. Und wenn Du dann die Augen schließt, wird es Dir vor Deinem letzten Atemzug das Herz zerreißen, denn alle Deine Erinnerungen werden sich Dir ein letztes Mal zeigen. Wie die Tänzer eines monströsen Balletts beim Finale. Und Du wirst mit dem Gedanken scheiden, dass nichts von ihnen bleibt, sie niemals existiert haben, nur Träume eines verschwundenen Schattens waren.“

      „Aber Deine Erinnerungen werden nicht verschwunden sein!“ Meine Stimme war ein wenig laut geworden. „Sie bleiben existent, weil sie geschehen sind. Und so viele davon sind auch in meinem Gedächtnis, in meinem Bewusstsein verankert. Es sind zudem Deine Erzählungen, die Bilder in den Alben, so viele Dinge, die jeweils ihre eigene Erinnerung in sich tragen. Geschichten, Erlebnisse, aus unserem Leben. Ein so wunderbarer Schatz, ohne den wir niemals nach Hinten blicken könnten, uns an dem erfreuen dürften, was in unseren Herzen ruht, auch wenn die Zeit vorangeschritten ist. Die Uhr kann niemand zurückdrehen, aber wir können in unseren inneren Tagebüchern stöbern, in Poesiealben blättern, in unseren Autobiographien ein ums andere Kapitel nochmals lesen. Nichts von dem ist fort, wenn wir unsere Erinnerungen nicht verfluchen.“

      „Und das Brennen?“ fragte mein Vater voller Bitterkeit. „Wie kann es aufhören?“

      „Es brennt nur das Salz Deiner Tränen.“ antwortete ich ihm. „Begrüße jede Erinnerung, wie eine alte Freundin. Lache mit ihr und genieße den Augenblick wie ein erneutes Geschenk, nicht wie eine Tortur. Dann wird es keine Tränen geben. Nichts wird dann mehr brennen.“

      „Ich würde gern einfach alles vergessen.“ Er blickte nun wieder aus dem Fenster in die Ferne. „Es wäre leichter, glaube mir. Noch im Traum war Deine Mutter bei mir. Ihr Rosenduft. Ihre Berührung. Sie war so nah und warm. Und Du öffnest die Augen, und Dir wird wieder klar, dass alles vorbei ist. Das ist kein Geschenk, Ludwig.“ Ich konnte sehen, dass ihn das Gespräch sehr zu ermüden begonnen hatte. Seine Stimme war nun wieder gebrochen, seine Augen begannen trüber zu werden. „Ein Geschenk wäre es, die letzten Zentimeter des Lebensmaßes frei von Erinnerungen gehen zu dürfen. Jeder Duft wäre neu, jedes Bild jungfräulich und hypothekenfrei. Es wäre leichter, Ludwig. Leichter! Ganz bestimmt.“

      Bei dem letzten Satz begann er sich bereits mit einem Seufzer nach hinten zu legen. Ich nahm die Decke und legte sie ihm über die Beine. Dann war er auch schon eingeschlafen. So stand ich noch einen Moment am Fußende seines Bettes und schaute auf meinen alten Vater. Er lag ruhig auf dem Rücken, nur seine Hände hatten wieder leicht zu zittern begonnen. Als ich sein Krankenzimmer verließ, traf ich auf dem Flur einen der behandelnden Ärzte, der mich freundlich anlächelte und neben mir stehen blieb.

      „Hatten Sie mit ihm ein paar Minuten bei klarem Bewusstsein?“ fragte er mich offen.

      „Ich denke ja.“ antwortete ich ihm, zögerte dabei jedoch ein wenig, denn ich war mir nicht wirklich sicher, ob mein Vater während des so kurzen Gespräches wirklich klarer Gedanken war. „Ich hatte aber auch den Eindruck, dass er sehr depressiv war.“

      Der Arzt nickte. „Nicht ungewöhnlich, für diese Phase. Er spürt in den diesen Momenten das herannahende Ende. Und er klammert sich an das Leben. Und obwohl er leidet, wir ihm nicht alles ersparen können, so will er doch auch nicht loslassen. Wir kennen das schon.“

      „Ich fühle mich vollkommen hilflos dabei.“ hörte ich mich sagen.

      „Sie sind da.“ lächelte mich der Arzt an. „Das ist sehr viel mehr, als Sie sich vorstellen können. Auch wenn er es nicht zeigen kann, doch eine bessere Hilfe gibt es nicht.“ Er schaute mir kurz und mit festem Blick in die Augen, dann drückte er mir die Hand. Während er sich schon umdrehte und weitergehen wollte sagte er mir: „Bleiben Sie stark, Herr Maler. Er wird sich nicht mehr lange zu quälen haben. Schenken Sie ihm so viel Zeit, wie Sie es ermöglichen können.“ Dann ging er, und sein offener Kittel wehte, während er mit schnellen Schritten dem Ende des Flures zu stampfte.

      Ich verließ die Klinik und ging in Richtung meines Appartements in der Bäckerallee. Es war erst später Vormittag und ich hatte vor, mich ein wenig in den sonnigen Garten zu setzen und vielleicht etwas zu schreiben. Es war fast windstill und die Luft hatte sich unter der Frühlingssonne in für mich ungewohnter Weise aufgeheizt. Mein Weg führte mich durch eine wohltuend schattige Allee von Lindenbäumen, deren flockige Samen wie kleine Wölkchen die Luft erfüllten.

      Die steile Bäckerallee war bei diesen Temperaturen eine kleine Herausforderung. Vor allem war ich es nicht gewöhnt, derlei Hänge zu Fuß zu bewältigen und so hatte ich schon nach wenigen Metern einen leichten Schweißfilm auf der Stirn. Als ich an meinem Haus angekommen war, schnaufte ich hörbar und mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass ich mich besser wieder einmal mit sportlicher Betätigung befassen sollte.

      Vor meiner Wohnungstüre stand eine Flasche Champagner. An dieser klebte ein kleiner Zettel. Ich las die handgeschriebene Nachricht: „Sonntag, 15 Uhr, Grillen bei den Metzgers, Kilianstraße 1“. Ich schloss die Türe auf und stellte die Flasche in den Kühlschrank. Den Zettel klemmte ich mit einem der vorhandenen Magneten, der ein Dollarzeichen darstellte, auf die Gerätetür und schaute noch einmal auf die Nachricht. Ich war mir nicht ganz klar, ob ich mich über diese Einladung freuen sollte. Nach kurzem Überlegen aber entschloss ich mich, es einfach positiv zu sehen. Schließlich war ich hier allein und ein wenig Abwechslung und kurzweiliger Zeitvertreib würden mir sicher nicht schaden.

      Mit einem Kaffee und meinem Computer ausgestattet, ging ich hinaus in den Garten und setzte mich in die schattige Weinlaube. Es war das erste Mal, dass ich hier alleine und in aller Stille saß. Und dieses Plätzchen hatte etwas Magisches. Fast hätte man glauben können, der Garten sei mit feinem Gespür und sensiblem Blick in einen Zustand gebracht worden, der bewusst das Maß einer gerade noch zulässigen Verwilderung beschreiben sollte, kunstvoll einer Urbanität überlassen war, bei der allein der geschulte Blick eines Gärtners zu erkennen vermochte, wie sehr sich die Geschicklichkeit