Önne Hedlund

Die Götter mit den blauen Haaren


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...“ Hansi genießt es, im Mittelpunkt zu stehen. Die Großen, das heißt, die Acht- bis Vierzehnjährigen, lauschen seinen Worten. Die Kinder haben sich tief in einen Heustadel zurückgezogen und sind hier ungestört. „Kamen wir auf eine ganz breite Straße, viel breiter als unser Marktplatz - und dann fuhren wir bis zu einem großen Haus neben der Straße — und dann hat das Auto gehalten und die Götter sind mit uns in das große Haus aufs Klo gegangen. Das war ein ganz großes Zimmer mit ganz vielen Klos — und dann sind wir wieder zu den Autos gegangen und da waren dann noch viele andere Götter, die haben uns so komische Mützen aufgesetzt, die gingen auch über das Gesicht und die Augen und ich habe nichts mehr gesehen.“ „Hast du da keine Angst gehabt?“ Fragt ein Achtjähriger furchtsam dazwischen. Man hört es an seiner Stimme, dass es so war, als Hansi weitererzählt. „Schon, und dann haben sie uns die Hände mit so Eisen hinter dem Rücken zusammengebunden da haben die Kleinen geweint aber ich nicht.“ Die Kinder blicken sich betroffen an, einigen läuft es kalt über den Rücken. „Erzähl weiter!“ Fordert Iogi ihn auf. „Und dann haben sie mich wieder ins Auto gesetzt und sind weiter gefahren. Das Auto hat immer mal wieder gehalten und ist dann weitergefahren, dann hat es wieder gehalten und ein Gott hat mich in ein Haus getragen, viele Treppen hoch. Und dann hat er mich gefüttert, das hat supergut geschmeckt — und dann hat er mir die Hosen ausgezogen und mir gezeigt, wo das Klo ist und wo ich schlafen soll.“ „Wie konnte das denn gehen, mit verbundenen Augen und gefesselten Händen?“ Wirft einer der Großen ein. „Kein Problem, ich hab schnell rausgekriegt, dass ich in einem Badezimmer war, das war fast wie bei uns zuhause, Waschbecken, Dusche, Klo und Badewanne und neben der Badewanne war die Matratze, auf der ich schlafen sollte.“ „Hast du dort tatsächlich geschlafen?“ fragt ein anderer Junge erstaunt.

      „Zuerst habe ich schon geweint, ich war ja ganz allein, aber dann bin ich eingeschlafen. Und dann hat es gekracht, die Götter haben getrampelt und geschrien — und dann hat mich ein Gott in eine Decke gewickelt, die Treppen runtergetragen, in ein Auto gesetzt und woanders hin gebracht. Dort kam ich wieder in ein Zimmer mit Klo aber auch einem Tisch und Stühlen, einem richtigen Bett und noch drei Matratzen am Boden. “„Wie kannst du das denn wissen, mit verbundenen Augen?“ Unterbricht Swen scharfsinnig. „Das hab ich erst später gesehen, denn dann haben mir die Götter diese Mütze abgenommen und mich auch losgemacht und die anderen Kinder waren auch da und wir durften unsere Hosen wieder anziehen. Wir haben noch was zum Essen und Trinken bekommen, haben noch eine Nacht da geschlafen und dann haben uns die Götter wieder nachhause gebracht.“ Antwortet Hansi erleichtert.

      Später, auf dem Nachhauseweg, fragt Swen. „Kannst du das glauben?“ „Ich weiß nicht, die Geschichte ist schon merkwürdig aber vielleicht hat mein Opa Recht und wir können das Handeln der Götter wirklich nicht begreifen.“

      Es bleibt ein flaues Gefühl im Bauch der Freunde zurück.

      Es ist tiefster Winter, die letzten Wochen hat es oft geschneit, und mittlerweile liegt der Schnee mehr als kniehoch. Die Tage waren sonnig, die Nächte eiskalt, der Schnee ist ausgefroren, sodass kleine Kinder, wie Iris, auf der Schneeoberfläche laufen können, ohne einzubrechen. Es ist nichts los im Dorf.

      Das Einzige, was die übliche Routine durchbricht, ist die Abfahrt und Ankunft der Holzfäller. Die Götter holen jeden Morgen zwanzig Männer ab, fahren sie zur Holzarbeit irgendwo nach Südosten, weit in das verbotene Gebiet und bringen sie abends wieder nachhause. Die Rückkehr der Männer ist derzeit ein Ereignis, das sich die Kinder im Dorf nicht entgehen lassen. Denn die Männer erzählen dann manchmal von ihrer Arbeit mit den Göttern, wie beispielsweise von einem riesigen Fahrzeug, das große Bäume wie Blumen pflückt, entastet und die Stämme auf gleiche Länge zersägt.

      Heute lockt der Ruf „Die Götter kommen zurück“ die Kinder schon mitten am Nachmittag an die Abholstelle am Kirchplatz. Auch Iogi lässt sich die Ankunft der Holzfäller nicht entgehen. Die Männer springen bereits von den Transportern, als er dahinter einen ihm irgendwie bekannten Geländewagen erblickt. Iogi verbirgt sich sofort hinter den anderen Kindern und späht gebannt auf die sich öffnende Fahrzeugtür. Ein untersetzter Gott wälzt sich heraus — Joe!

      Ohne zu zögern, verschwindet Iogi langsam und unauffällig um das nächste Hauseck und hört dort den Gott rufen. „Ich suche den Jungen, der vor vier Wochen bei der Treibjagd dabei war!“ „Iogi? Mein Gott, der war gerade noch da. Iogi! Komm her, der ehrenwerte Gott möchte dich sprechen!“ Ruft jemand diensteifrig, aber Iogi, hetzt schon hinter den Häusern davon. Bald hat er den Dorfrand erreicht, von hier sind es noch gut vierhundert Schritte über offenes Gelände bis zum schützenden Wald. Nach kurzer Verschnaufpause rennt er los. In dem knietiefen, harschen Schnee geht es nur mühsam und langsam vorwärts aber endlich ist er, völlig außer Atem, am Waldrand und lässt sich dort hinter einen Baum fallen. Geschafft — sicher werden die Dörfler sich bereits zur Jagd auf ihn formieren, überlegt Iogi und blickt suchend zum Dorfrand, wo sie bald auftauchen müssen und erschrickt.

      Eine schwarze Rinne führt durch den Schnee vom letzten Haus direkt zu ihm — seine unübersehbare Spur! Er muss sofort weiter, denn wenn diese Spur gefunden wird, werden ihn so schnelle und starke Männer wie Klaus oder Albert gleich haben. Im Wald liegt der Schnee nicht so hoch, aber hoch genug um sein Vorwärtskommen zu behindern und eine gut sichtbare Spur zu hinterlassen. Er braucht einen schneefreien Bereich um seine Fährte zu verwischen und lenkt so seine Schritte zum Eschenbach.

      Dort angekommen zieht er Schuhe und Socken aus, krempelt die Hosen hoch und watet im eiskalten Wasser bachaufwärts in Richtung Eschenbrunnalm.

      Kein gutes Omen für eine erfolgreiche Flucht vor den Göttern, doch Iogi hofft dort einen Wildwechsel zu finden, in dem er spurlos den Bach verlassen kann. Er hat Glück, bevor seine Füße erfroren sind, trifft er auf eine Stelle, an der wohl hunderte von Schweinen öfter den Bach überquert haben. Nachdem er seine Schuhe wieder angezogen hat, betritt er vorsichtig das Gewirr von Schweinespuren. Tatsächlich, er hinterlässt auf diesem vereisten Durcheinander keine Fußabdrücke. Er folgt der „Saugasse“ in der Richtung, die ihn eher zum Dorf zurückführt und erreicht bald darauf den dorfnahen Futterplatz, an dem die halbwilden Schweine im Winter täglich ihr Futter erhalten. Mittlerweile ist es dunkel geworden, nur die Sterne und der Halbmond beleuchten den Schnee und ermöglichen eine ganz brauchbare Sicht. Iogi späht zum Dorf kann dort nichts Verdächtiges erkennen und schleicht so zum Haus der Melkers. Im Fenster des Freundes brennen zwei Lichter — Entwarnung!

      Erst der zweite geworfene Schneeball trifft das Fenster, Swen öffnet es, erkennt Iogi und gibt ihm durch Zeichen zu verstehen, dass er leise zu ihm hinauf kommen soll.

      Kurz darauf sitzt Iogi in Swens Zimmer auf dessen Schlafcouch und fragt unnötigerweise, ob alles in Ordnung ist. Swen lacht belustigt. „Du nimmst dich viel zu wichtig aber du hast einige unschöne Dinge versäumt, soll ich sie dir erzählen?“ „Natürlich!“ Und so erfuhr er, was geschah: Der Ruf „Iogi? Mein Gott, der war gerade noch da. Iogi! Komm her, der ehrenwerte Gott möchte dich sprechen!“ War frisch verhallt, als der Priester eilig aus seiner Kirche zu dem Gott rennt, er wirft sich vor ihm auf die Knie, gibt den Zuschauern ein Zeichen es ihm gleichzutun und begrüßt den Gott demütig. „Erhabener Gott, wir freuen uns über die Ehre eures Besuches, den wir gleich im gemeinsamen Gebet feiern werden. Ehre und Dank sei den Göttern .“ Der so gepriesene Gott gibt unwirsch allen ein Zeichen sich zu erheben und unterbricht die Lobeshymnen. „Danke, das genügt mir für heute.“ In diesem Moment biegt das Milchfuhrwerk auf den Kirchplatz ein. Fünf Männer, drunter Iogis Vater, bringen mit diesem Ochsenkarren die leeren Milchbehälter von der Übergabestation zurück. Sie steigen ab und bleiben unschlüssig neben dem Wagen stehen. Varus setzt gerade zu einer neuen Rede an doch der Gott bringt ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen, er zeigt auf die umher Stehenden und ruft. „He, du Junge, komm mal her!“ Der kleine Pauli tritt zögerlich vor den Gott. Dieser fasst ihn bei den Schultern und zieht ihn ganz nahe an sich. Seine Hände wandern über den Rücken abwärts und greifen prüfend in die Pobacken des Kindes. „Ich werde dich mitnehmen.“

      Ein unterdrückter Schrei ist zu hören, in der Menge entsteht eine Rangelei, als sich Herr Glaser, Paulis Vater, nach vorne drängt. „Schafft die Glasers weg, bevor sie sich versündigen!“ Schreit der Priester und mehrere Männer packen Paulis Eltern und schleppen die sich heftig