Wolf, der seinen kleinen, individuellen Interessen Vorrang gibt, kann bald allein Mäuse fangen.“36 Dies gilt auch für den Menschen. „Individualisten und Eigenbrötler hatten keine Überlebenschance; aus dem Grund ist in unserem Erbgut das Abweichen von der Mehrheitsmeinung überhaupt nicht vorgesehen.“37 Die meisten Menschen scheuen es, sich gegen den Standard zu wenden. Man könnte despektierlich sogar von einem Herdentrieb sprechen, wenn Menschen zum Beispiel eine Organspende ablehnen, wenn man sich aktiv dafür entscheiden muss, dieser jedoch nicht widersprechen, wenn der gesetzliche Rahmen als Standard die Organentnahme vorsieht.
Dass diese Konformität auch bereits bei Tieraffen besteht, konnte durch einen Versuch der Primatologen Erica van de Waal und Andrew Whiten von der University of St. Andrews und Christèle Borgeaud von der Université Neuchâtel nachgewiesen werden. Sie fütterten zwei Gruppen Grüne Meerkatzen mit zwei Sorten unterschiedlich gefärbtem Popcorn. Eine Sorte war jedoch zuvor mit einem Bitterstoff ungenießbar gemacht worden – in jeder Gruppe eine andere. Nachdem zehn Männchen in eine andere Tiergruppe versetzt worden waren, übernahmen neun von ihnen die Vorliebe der neuen Gruppe, obwohl nun wieder beide Sorten Popcorn genießbar waren. Nur ein Alpha-Männchen ignorierte die Vorgabe und griff weiter zu dem für ihn vertrauten Futter.
Im Zusammenleben mit anderen Gruppenangehörigen gilt es, diesen zu helfen, um die Überlebenschancen zu steigern. Diese Hilfe beinhaltet stets einen Schuss Eigennutz. Nach dem Motto: Helf ich dir, hilfst du mir. Dies geht sogar so weit, dass man nicht explizit eine Gegenhilfe von der Person erwartet, der man geholfen hat. Dieses „Recht“ liegt mehr als ein Anspruch gegenüber der gesamten Gruppe vor. Wenn jeder jedem hilft, ist damit auch allen geholfen.
Ein gravierendes Problem aus diesem Pfeiler unseres Verhaltens ergibt sich jedoch, wenn sich Teile der Gruppe nicht an dieses ungeschriebene „Gesetz“ halten. Und nachdem unsere Gruppe im Laufe der Zeit immer größer wurde und im Endeffekt jetzt mindestens die Bevölkerung Deutschlands umfasst, durch die Globalisierung vermutlich sogar die ganze Weltbevölkerung, muss man entsprechend auch darauf achten, wer aus dieser gigantischen Gruppe dieses soziale „quid pro quo“ bricht. Auf genügend Beispiele werde ich im Laufe des Buches noch eingehen.
Wie umfangreich sich die Bandbreite menschlichen Verhaltens darstellt, fasst de Waal so zusammen: „Dass wir einzig und allein egoistisch und gemein sind und unsere Moral eine Illusion ist, bedarf der Revision. Wenn wir im wesentlichen Menschenaffen sind, … dann werden wir mit einem ganzen Spektrum von Neigungen – von den niedersten bis zu den nobelsten – geboren. Unsere Moral … ist ein Produkt desselben Ausleseprozesses, der auch unsere Aggressivität und unser Konkurrenzverhalten formte. […] … dann erkennen wir eines der am meisten mit inneren Konflikten geplagten Tiere auf der Welt. Es ist in unglaublichem Maße zur Vernichtung sowohl seiner Umwelt als auch seinesgleichen fähig, und zugleich verfügt es über Quellen der Empathie und der Liebe, die tiefer reichen als alles zuvor gekannte. Da dieses Tier die Herrschaft über alle anderen erlangt hat, ist es umso wichtiger, dass es ehrlich in den Spiegel blickt, damit es sowohl den Erzfeind erkennt, der ihn da anblickt, als auch den Alliierten, der bereit ist, ihm beim Bau einer besseren Welt zu helfen.“38
Um das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe zu stärken, werden jedoch oftmals Mitglieder stigmatisiert. Für die Gruppe ergibt sich ein Machtgefühl, wenn Schwächere verachtet werden. Auch in unseren Tagen ist dies noch häufig zu beobachten, etwa bei HIV-Infizierten oder Menschen mit psychischen Krankheiten. Hieran zeigt sich einmal mehr, wie gespalten sich das menschliche Verhalten offenbart.
Ein wichtiger Schritt auf der Entwicklungsleiter des Menschen war die stärkere Zusammenarbeit mit anderen Gruppen. Zwar kam es auch immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen und Überfällen, aber der friedliche Austausch mit „fremden Kulturen“ fand bereits sehr früh statt. Daraus folgt: „Wir müssen die emotionalen Reaktionen, die durch Millionen von Jahren des Lebens in kleinen Stammesgruppen in unsere biologische Natur eingeprägt sind, nicht als unumstößlich hinnehmen. Wir sind fähig zum Vernunftgebrauch und können Entscheidungen treffen, und wir können diese emotionalen Reaktionen ablehnen. […] Wir allein – einzig und allein auf der Erde – können uns gegen die Tyrannei der egoistischen Replikatoren auflehnen.“39
Indem man die Mitglieder einer anderen Gruppe nicht mehr nur als Bedrohung ansah, wurde das Tor aufgestoßen zu gewinnbringender Kooperation. „Friedenschließen ist eine erworbene soziale Fähigkeit und kein Instinkt. Es ist Teil der sozialen Kultur. Jede Gruppe stellt ihr eigenes Gleichgewicht zwischen Konkurrenz und Kooperation her. Das gilt [auch] für Menschen.“40
Globales Affentheater
In diesem Kapitel habe ich einen sehr weiten Bogen gespannt von der Sexualität des Menschen über die Funktionsweise seines Gehirns bis hin zu hierarchischen Ordnungen. Mir war dabei besonders wichtig zu zeigen, dass der Mensch mehr Tier ist als er weiß oder eingestehen möchte. Nur mit diesem Verständnis ist es in meinen Augen möglich, das Dilemma zu erkennen, in dem sich die menschliche Spezies zu Beginn des 21. Jahrhunderts befindet. Von mächtigen Interessengruppen wird eine Scheinwirklichkeit aufgebaut, die der Bevölkerung vorgaukelt, dass zumindest in den Industriestaaten gerechte Zustände herrschen. Sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht als auch in rechtlicher und sozialer. Die meisten Menschen sind dafür sogar dankbar und hinterfragen diese „künstliche Realität“ nicht. Wie Marionetten lassen sie sich von einzelnen Vertretern der Menschheit an unsichtbaren Fäden über eine Bühne führen. Und diese Bühne befindet sich im Affentheater Erde. Die Gründe dafür, dass so viele Bürger dies nicht zu erkennen vermögen, liegen vor allem im animalischen Kern des Menschen.
1 Waal, Frans de: Der Affe in uns, S. 125
2 Waal, Frans de: Primaten und Philosophen, S. 181
3 http://researchnews.osu.edu/archive/sexsurv.htm (Abgerufen am 9.8.13)
4 http://www.shortnews.de/id/663391/studie-frauen-schauen-beim-mann-als-erstes-auf-den-penis (Abgerufen am 9.8.13)
5 Waal, Frans de: Der Affe in uns, S. 303
6 Siehe http://www.zfu.ch/service/fartikel/fartikel_03_jub.htm. (Abgerufen am 24.6.2013).
7 Swaab, Dick: Wir sind unser Gehirn, S. 402ff.
8 Siehe http://www.zfu.ch/service/fartikel/fartikel_03_jub.htm. (Abgerufen am 24.6.2013).
9 Swaab, Dick: Wir sind unser Gehirn, S. 402ff.
10 Swaab, Dick: Wir sind unser Gehirn, S. 405
11 Swaab, Dick: Wir sind unser Gehirn, S.