dramatisch wird es oft, wenn auch noch die vielbeschriebene Schwarmintelligenz ins Gegenteil umschlägt. Friedrich Nietzsche brachte es auf den Punkt: „Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes – aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.“
Ein Großteil der Bevölkerung lebt ein wissenschaftsfernes Leben. Für sie gilt als oberste Maxime: „Führe ein angenehmes Dasein. Die Auseinandersetzung mit Themen unter Beachtung von formellen Standards zählt dazu sicher nicht. Es ist daher auch nicht überraschend, dass sich in der Bevölkerung eine große Informationswüste ausgebreitet hat. In dieser werden immer wieder Korrelation und Kausalität gleichgesetzt. (Positive) Korrelation bedeutet, dass zwischen zwei Merkmalen ein Zusammenhang besteht. Allerdings kann man daraus nicht schließen, dass ein Merkmal die Ursache für das andere Merkmal darstellt (Kausalität). Ein Beispiel: Man kann feststellen, dass Männer mit Glatze reicher sind als Männer ohne Glatze. Sollten sich deshalb alle Männer den Kopf kahl rasieren? Natürlich nicht. Denn beide Merkmale, Reichtum und Glatze, weisen zwar eine Korrelation auf, aber keine Kausalität. Mit dem Alter steigt der Anteil der Männer mit Vollscheitel. Da ältere Männer auch durchschnittlich reicher sind, ergibt sich diese Korrelation.
Auch um die Allgemeinbildung ist es in der Bevölkerung nicht gut bestellt. „Fast die Hälfte der Deutschen weiß nicht, wofür Erst- und Zweitstimme eigentlich gut sind.“2 Bei einer Emnid-Umfrage konnten nur elf Prozent der Befragten beantworten, was man unter Tarifautonomie versteht.3 Als einer der Grundpfeiler etwa zur Findung der Lohnhöhe wichtig für alle Arbeitnehmer – und dennoch herrscht darüber weitverbreitete Unkenntnis. „Dass Kurt Beck SPD-Chef war, wussten selbst ein Jahr nach seinem Amtsantritt im April 2006 nur 35 Prozent.“4
Bei so wenig grundlegendem Wissen über politische Begebenheiten stellt sich unwillkürlich die Frage, nach welchen Kriterien diese Menschen ihre Wahlentscheidung treffen. Wen verwundert da noch die Aussage Winston Churchills: „Das beste Argument gegen Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit dem durchschnittlichen Wähler.“
Mentale Buchstaben- und Zahlensuppe
Sicher wird man in Deutschland nur wenige Menschen finden, die bar jeder Kenntnis über Buchstaben und Wörter sind – ausgenommen durch bei Krankheiten oder Unfällen hervorgerufene Gehirnschädigungen. Was man jedoch neben diesem Analphabetismus im engeren Sinne finden kann – in einer viel größeren Zahl als man annehmen würde – ist sogenannter Funktionaler Analphabetismus. „[Dieser] ist gegeben, wenn die schriftsprachlichen Kompetenzen von Erwachsenen niedriger sind als diejenigen, die minimal erforderlich sind und als selbstverständlich vorausgesetzt werden, um den jeweiligen gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden. Diese schriftsprachlichen Kompetenzen werden als notwendig erachtet, um gesellschaftliche Teilhabe und die Realisierung individueller Verwirklichungschancen zu eröffnen.“5 Was hier kompliziert definiert wird, heißt umgangssprachlich ausgedrückt: Wer zwar einzelne Sätze lesen, aber keine Texte verstehen kann, ist von funktionalem Analphabetismus betroffen. Dies sind in Deutschland etwa 14 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung, das entspricht ungefähr 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten in Deutschland.
Zudem findet sich bei weiteren 25 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung – das sind über 13 Millionen Menschen in Deutschland – fehlerhaftes Schreiben trotz gebräuchlichen Wortschatzes.6 Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass über 40 Prozent der Deutschen im erwerbsfähigen Alter nicht in der Lage sind, Texte angemessen fehlerfrei zu verfassen. Männer schneiden in dieser Hinsicht schlechter ab. So liegt bei ihnen der Anteil der funktionalen Analphabeten bei 17,4 Prozent – im Gegensatz dazu bei den Frauen bei nur 11,6 Prozent.7 Nach Alter aufgeschlüsselt fällt auf, dass die Lesefähigkeit mit dem Alter wieder abnimmt. Durch mangelnde Übung verlernen einige Menschen die einmal erworbenen Kenntnisse wieder. Diese Illiteralität tritt besonders bei Menschen auf, die Deutsch nicht als Erstsprache erlernten. Ihr Anteil an den funktionalen Analphabeten beträgt über ein Drittel, obwohl ihr Bevölkerungsanteil nur bei 15 Prozent liegt.
Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, dass die Vermittlung von Lese- und Schreibfähigkeiten gefördert wird – sei es in der Schule bei nicht Deutsch sprechenden Kindern oder in der Erwachsenenbildung. Als Lohn winkt eine bessere Inklusion der Geförderten in die Gesellschaft, welche zudem das Entstehen von separierten Gruppen verhindert und auch in wirtschaftlicher Hinsicht positiv wirkt. Dass dies bisher nur eingeschränkt funktioniert hat, zeigt sich darin, dass der Lohnabstand zwischen Gastarbeitern und Einheimischen auch mit zunehmender Aufenthaltsdauer langfristig bestehen bleibt – ganz im Gegensatz zu Erfahrungen in anderen Ländern.8
In der Studie leo. (Level-One) wurde festgestellt, dass 57 Prozent der funktionalen Analphabeten in Deutschland angeben, erwerbstätig zu sein.9 Allerdings sind gerade sie es, die in schlecht bezahlten Stellen einfache un- oder angelernte Tätigkeiten verrichten und immer wieder Gefahr laufen, arbeitslos zu werden. Der Grad der Lese- und Schreibkompetenz – das Sprachkapital – und die weiteren Fähigkeiten einer Person (d. h. das sonstige Humankapital) sind in vielerlei Hinsicht wechselseitig miteinander verbunden. Zum einen bildet das Sprachkapital seinem Wesen nach überhaupt erst die Grundlage für den Erwerb weiteren Humankapitals. Beim Erlernen der Sprache handelt es sich um eine „Basisinvestition“.10 Mehr als eine Basis sollte eine korrekte Sprache für jeden Studenten darstellen, aber gerade auch hier scheinen die Sprachfähigkeiten immer weiter abzunehmen.
Ruft jemand, der mit der Rechtschreibung auf Kriegsfuß steht, in weiten Teilen der Bevölkerung noch Befremden hervor, stellt sich dies bei Dyskalkulie ganz anders dar. Hat doch fast jeder aus seiner Schulzeit von Anekdoten seines Kampfes mit der Zahlenwelt zu vermelden. Wer Probleme mit der Prozentrechnung hat, gehört zur Mehrheit. Deutsche und amerikanische Studien besagen übereinstimmend, dass die meisten Leute Schwierigkeiten mit der Beantwortung folgender Frage haben: Wenn 1 Prozent einer Gruppe Krebs bekommt, wie viele sind das dann bezogen auf 1000 Personen? Amerikanische Ärzte haben diese Frage 300 zufällig ausgewählten Freiwilligen gestellt. Fast die Hälfte gab eine falsche Antwort. […] Noch größer waren die Schwierigkeiten, wenn die Probanden aufgefordert wurden, die Häufigkeit 1 von 1000 Personen in Prozent auszudrücken: Die richtige Antwort – 0,1 Prozent – wusste nur jeder siebte Testkandidat.“11
Nur eine Minderheit der Bevölkerung fühlt sich wohl, wenn sie mit Mathematik konfrontiert wird. Wahrscheinlichste Begründung: Es ist ein Fach, in dem man durch Auswendiglernen nur wenig und durch verbale Begabung so gut wie überhaupt nichts erreichen kann. Denn es besteht eine hohe Korrelation zwischen Mathematikzensuren in der Schule und dem Intelligenzquotienten. Dieser Zusammenhang ist so stark, dass schon Charles Spearman, einem Pionier der Intelligenzforschung, aufgefallen war, dass mathematisch begabte Schüler auch in anderen Fächern bessere Leistungen erzielten. Es besteht die Tendenz bei intellektuell durchschnittlich begabten Menschen, sich gegen geistig überlegene Mitmenschen abzugrenzen, da sie sich von ihnen bedroht fühlen. Dies zeigt sich besonders am Arbeitsplatz, wo „Intelligenzbestien“ als gruppenschädlich eingestuft werden. Zum einen demoralisieren sie die Kollegen, da sie ihre Aufgaben schneller erledigen, zum anderen wird ihnen das Streben nach einer schnellen Karriere unterstellt.
Alle machen mit
Menschen fürchten sich allgemein vor den falschen Dingen, nicht zuletzt weil die Medien ihre Berichterstattung nicht an den Grad der Bedrohung anpassen, sondern aus jeder Mücke einen Elefanten machen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Als Beispiel seien hier zwei Lebensmittelskandale aus dem Jahr 2011 genannt. Fall 1: Dioxid in Hühnereiern. Fall 2: Ehec-Erreger. Während sich im ersten