Indira Jackson

Rayan - Der Stich des Skorpions


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Scheich höchstpersönlich. „Verzeiht mir Herr, ich habe Euch nicht erkannt …“, seine Stimme versagte dem Jungen. Er fiel vor seinem Herrn auf die Knie. Nur zu deutlich wurde ihm bewusst, wie unverschämt er vorhin mit ihm gesprochen hatte. Was sollte er nun tun?

      Doch Rayan lachte wieder leise. „Das habe ich gemerkt. Na komm schon, jetzt setzt dich endlich hin, lass uns essen. Noch einmal möchte ich mich nicht wiederholen.“

      Der junge Tarmane erhob sich. Bevor Aleser jedoch der Aufforderung sich hinzusetzen, nachkam, verneigte er sich abermals tief vor seinem Scheich. Dann setzte er sich völlig angespannt auf den Platz neben seinem Herrn, den dieser ihm vorhin zugewiesen hatte.

      Seine Gedanken überschlugen sich. Sollte er etwas sagen? Sich nochmals entschuldigen? Aber dann beschloss er, einfach weiter zu schweigen. Er war zu dem Schluss gekommen, dass er ohnehin nichts mehr an den Worten ändern konnte, die er vorher gesagt hatte. Wenn sein Herr es ihm verübelte und dafür bestrafen wollte, würde er es früh genug erfahren.

      Aber andererseits schien dieser Humor zu haben, denn das Lachen hatte ehrlich amüsiert geklungen. Nun war ihm auch klar, warum. Aleser konnte nicht umhin zu vermuten, dass Rayan die Situation vorhin genossen hatte. Zumindest hoffte der Junge dies. Eine Weile aßen beide schweigend. Mit Bedauern wurde Aleser bewusst, dass er morgen bereits würde zurückreiten müssen, wenn er abends nicht hungern wollte, denn seine Vorräte waren für eine Person gedacht gewesen. Eigentlich hatte er den morgigen Tag mit dem Training verbringen und erst am Morgen danach zurückreiten wollen. Dann fiel ihm siedend heiß ein, dass der Scheich ihn dabei gesehen hatte: wie er mit seiner Armbrust trainierte! Sein Herzschlag beschleunigte sich erneut – er war erledigt! Aber wieso sollte sich ihr oberster Anführer um einen einzelnen Bäckerjungen kümmern? War es Zufall, dass er ihn überrascht hatte? Vielleicht führte ihn ein ganz anderer Grund in diese Gegend? Zufall oder Schicksal? Wäre möglich, dass alles nur eine unglückliche Fügung war?

      Aleser nahm all seinen Mut zusammen und brach das Schweigen: „Ihr habt gesehen, Herr, was mich hierher in diese Einöde führt – darf ich Euch fragen, was Ihr hier zu finden hofft?“

      Rayan ließ sich Zeit mit der Antwort, und der Junge dachte schon, er habe seine Frage nicht gehört oder sich entschlossen, sie zu ignorieren. „Du bist mutig mein Junge. Nicht viele würden sich trauen, mich nach meinen Beweggründen zu fragen. Ich muss dich enttäuschen. Ich habe nicht vor, dir den Grund meines Hierseins mitzuteilen.“ Als er merkte, dass Aleser bei dieser Abfuhr die Schamesröte ins Gesicht fuhr, lächelte er sanft und fügte etwas versöhnlicher hinzu: „Jetzt jedenfalls noch nicht. Später vielleicht.“

      Unvermittelt wechselte er das Thema: „Dein Brot ist gut. Aber ehrlich gesagt habe ich schon Besseres gegessen.“ Wieder bekam Aleser vor Scham rote Ohren, aber ein wenig ärgerte ihn die Aussage auch. Er überlegte, ob er etwas entgegnen sollte, als der Scheich von sich aus fortfuhr: „Warum willst du Bäcker werden?“ Erstaunt über die Frage, überlegte der Junge einen Moment, bevor er antwortete: „Weil mein Vater Bäcker ist?“, doch es klang mehr wie eine Frage, als eine Antwort. „Es war also dein Wunsch in die Fußstapfen deines Vaters zu treten?“ Es war eine rhetorische Frage, denn ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Rayan fort: „Eine schöne Sache. Bäcker ist ein ehrbarer Beruf. Die Krieger müssen schließlich auch essen, und wie sollten sie stark für den Kampf bleiben, wenn nicht für ihr leibliches Wohl gesorgt ist …“

      Aleser wusste nicht, wie er reagieren sollte. Langsam wurde ihm die Geschichte unheimlich. Machte sich ihr Scheich über ihn lustig? Hatte er eine seltsame Art von Humor, mit dem er ihn quälte? Oder wusste er wirklich nichts von Alesers Vergangenheit? Einige Minuten lang kreisten seine Gedanken um die Worte seines Herrn, dann wurde ihm klar, dass es nur Absicht gewesen sein konnte, dass der Scheich die Krieger erwähnt hatte. Überhaupt fragte er sich langsam, ob das ganze Treffen wirklich zufällig erfolgt war? Er entschloss sich, den Stier bei den Hörnern zu packen und seine Geschichte von sich aus anzusprechen: „Ich hatte eine Wahl, und ich habe die richtige Entscheidung getroffen. Jetzt muss ich damit leben.“

      „Indem du jede freie Minute in die Wildnis schleichst, um zu trainieren?“, fragte Rayan ernst und fuhr fort: „Dir ist bekannt, welche Strafe darauf steht, wenn dich jemand dabei erwischt?“ „Ja“, antwortete der Junge trotzig. Er überlegte gerade, ob die Art, wie der Scheich den Satz formuliert hatte, bedeutete, dass er ihn nicht verraten würde?, als dieser fortfuhr: „Stimmt es eigentlich, dass du deshalb ausgeschieden bist, weil du zu feige warst, die dir auferlegte Strafe anzunehmen?“ Er hatte die Frage bewusst herausfordernd gestellt.

      Wütend sprang Aleser auf: „Was? Wer sagt das?“, verlangte er zu wissen.

      „Ruhig mein Junge! Vergiss nicht, mit wem du sprichst!“ Rayans Stimme war scharf geworden.

      Anfang August 2015 - Alessia: Hummers Haus - Balance auf dem Drahtseil

      Carina stand am Fenster ihres Zimmers und starrte hinaus. Trotz der Wärme fröstelte sie und der Blick hinunter in den liebevoll angelegten Garten war auch kein Trost für sie.

      Mehrfach hatte sie sich in der Vergangenheit vor Augen geführt, dass sie sich auf einen Drahtseilakt eingelassen hatte. Irgendwie musste sie stets aufs Neue die Balance finden: zwischen dem Mann, den sie liebte und der sie zärtlich sowohl sexuell als auch emotional ins höchste Glück führte und dem eiskalten Despoten, dessen Taten sie schockierten.

      Sie würde wohl nie nachvollziehen können, wie jemand mit einer derartigen Selbstverständlichkeit über Leben und Tod anderer entschied.

      Die letzten Wochen seit Rayans Rückkehr waren für Carina der Siebte Himmel gewesen. Voller prickelnder Erotik, nächtlicher Zärtlichkeiten und schönen gemeinsamen Erlebnissen auch während des Tages. Ausflüge in die Bergwelt von Zarifa, Ritte in die Wüste und dann die Reise hierher nach Alessia, wo sie heute Nachmittag den Basar hatten besuchen wollen.

      „Ich hätte wissen müssen, dass die letzten Wochen viel zu harmlos waren. Irgendwann musste der Wandel kommen!“, schalt sie sich selbst.

      Die Szene, deren Zeugin sie gerade geworden war, hatte sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt. Dieser arme Junge - und erst der panische Ausdruck auf seinem Gesicht, diese Gewissheit, nun sterben zu müssen! Noch mehr aber beschäftigte sie Rayans Miene: Wie konnte er im einen Moment so zärtlich und kurz darauf wiederum so gnadenlos sein? Sie kannte ihn als einen Mann, der durchaus Humor hatte und gerne lachte - wie konnten dann seine Augen so eiskalt blicken?

      Erneut schauerte sie trotz der Wärme, die in ihrem Zimmer herrschte.

      Es klopfte leise an ihrer Tür, aber sie machte sich nicht die Mühe darauf zu reagieren. Sie wusste, dass ER es war und dass er auch ohne ihre Antwort eintreten würde. Stattdessen schaute sie weiterhin aus dem Fenster.

      Wenige Sekunden später bereits trat er dicht hinter sie. Ohne etwas zu sagen, legte er seine Arme um ihre Schultern und zog sie an seine muskulöse Brust. Ein wenig gegen ihren Willen ließ Carina es zu.

      Sie hatte sich längst entschieden und war nun dankbar, dass er zu ihr gekommen war. Auch ohne Worte zeigte es ihr, dass er verstand, welche Gefühle sie durchfluteten. Und auch wenn es weder ihn noch seine zukünftigen Handlungen beeinflussen würde, war Carina froh um das Verständnis, welches er ihr entgegenbrachte.

      Sie kuschelte sich tiefer in seinen Arm hinein und sog den Duft seines Körpers in sich ein. Eine leise Stimme ganz hinten in ihrem Gehirn wies darauf hin, dass es nicht korrekt von ihr war, sich nun derart geborgen zu fühlen, doch sie unterdrückte diesen Gedanken vehement.

      Eine kleine Ewigkeit später erst sprach Rayan zum ersten Mal, seit er in das Zimmer gekommen war: „Komm. Lass uns hinuntergehen in die Sonne. Dort erkläre ich dir, was gerade passiert ist.“

      Und nachdem sie gehört hatte, dass dieser Mann für das Unglück verantwortlich war, das ihnen so viel Leid vor einigen Wochen gebracht hatte, spürte sie – vor allem im Hinblick auf ihre Tochter Sheila, die im Falle ihres Todes ebenfalls niemals geboren worden wäre - eine ihr unbekannte Form der Genugtuung.