Indira Jackson

Rayan - Der Stich des Skorpions


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das Leben nicht immer gerecht ist. Und selbstverständlich erwarte ich, dass du zu niemandem auch nur einen Laut darüber sprichst. Das ist mein voller Ernst! Ein Wort zu irgendjemandem, und ich komme dich holen!“ Den letzten Halbsatz hatte der Scheich so hart ausgesprochen, dass dem Jungen ein eisiger Schauer den Rücken hinunterlief.

      „Ich werde niemandem etwas sagen, ich verspreche es!“, versicherte er schnell. Rayan nickte zufrieden. Er war sich sicher, dass Aleser seine Zusage halten würde. Gerne hätte er ihm geholfen. Doch damit würde er zugeben, dass er verzweifelt und ohne jede Erinnerung nach einem Strohhalm gegriffen hatte. Nicht gerade der Stoff, aus dem Heldengeschichten gemacht waren. Hanif hatte recht: Niemals sollte jemand erfahren, wie schwach und verletzlich er gewesen war. Nur seinem Ruf war es zu verdanken, dass der größte Teil seiner Gegner es gar nicht erst wagte, gegen ihn oder die Tarmanen vorzugehen. Somit diente die Unversehrtheit seines Rufes dem Schutz seines ganzen Volkes. Das durfte er nicht für einen einzelnen Jungen gefährden.

      „Aber warum habt Ihr mir dann überhaupt davon erzählt?“, unterbrach Aleser vorsichtig Rayans Gedankengänge.

      „Weil ich will, dass du deine Entscheidung rückgängig machst. Du hast viel Potential, du wirst ein guter Krieger werden. Besser als du es als Bäcker je sein könntest“, fügte er grinsend hinzu. „Wie wichtig ist es dir, dass dein Gruppenführer eine falsche Vermutung hat, wenn ich, dein Scheich, die Wahrheit kenne?“

      Sprachlos sah Aleser seinen Herrn an - auf diese Idee war er noch nicht gekommen.

      „Und was wäre mit der Strafe? Auf Einschlafen bei der Wache stehen zwölf Peitschenhiebe …“, die Stimme des Jungen versagte, offenbar stellte er sich gerade das Ausmaß vor. Er schluckte und konnte nicht verhindern, dass er eine Gänsehaut bekam.

      „Es tut mir leid, aber das Urteil wurde bereits gefällt. Wir sind ein stolzes Volk. Dieser Stolz ist es, der uns von anderen unterscheidet. Ich kann den Beschluss eines meiner Gruppenführer nicht rückgängig machen, ohne ihn bloßzustellen. Und schon gar nicht ohne einen Grund anzugeben. Die Entscheidung liegt bei dir.“

      „Wird er mich denn überhaupt noch einmal neu entscheiden lassen?“, fiel Aleser ein.

      „Das kann ich dir allerdings versprechen. Soviel könnte ich tun, ohne jemandem zu schaden.“ Er stand auf. „Jetzt lass uns schlafen gehen. Ich werde morgen sehr früh zurückreiten.“

      Als Rayan schon fast in seinem Zelt war, holte ihn eine weitere Frage des Jungen ein: „War dies der Grund, warum Ihr hier seid, Herr? Seid Ihr wirklich nur wegen mir gekommen und damit Ihr mich jetzt erneut vor diese Entscheidung stellt?“

      „Du bist ein kluger Junge. Ich war der Meinung, dass ich dir zumindest einen Teil der Wahrheit schulde. Und ich bezahle meine Schulden immer. Gute Nacht!“

      Mit offenem Mund sah Aleser dem Scheich hinterher. Dann starrte er noch lange ins Feuer.

      Anfang August 2015 - USA: Flughafen Charlotte - Die Befragung

      Als Rayan in einem der kleinen Büros der Homeland-Security angekommen war, das für diese Art von Befragungen reserviert war, verriet sein Gesicht nichts mehr von seiner Verwirrung. Er hatte alle Emotionen ausgeschaltet: seine Wut über den Verräter genauso wie seine Verblüffung über das unerwartete Erkanntwerden durch diesen wilden Texaner. Was machte der überhaupt hier? Hätte er ihn damals nur nicht laufen lassen. Da sah man wieder einmal, was man von Mitleid hatte.

      Andererseits war ihm klar, dass diese oder eine ähnliche Situation irgendwann einmal hatte kommen müssen. Schon viel zu lange führte er seine beiden Leben strikt voneinander getrennt. Ärgerlich war nur, dass es ausgerechnet hier und jetzt sein musste, wo er förmlich darauf brannte, mit Cho und Hummer zu sprechen – aber wann passte so eine Enthüllung überhaupt? Dann verbannte er auch diesen Gedanken. Stattdessen war er nun doppelt so wachsam. Jetzt zählte jedes Wort. Für derlei Situation war er jedoch trainiert worden, er hätte gegebenenfalls sogar einen Lügendetektor überlistet. Er brauchte sich also keine Sorgen zu machen. Oder?

      Nach einem intensiven Blick in Rayans Pass, sah der zuständige Beamte fragend den Kollegen der TSA an, der den Scheich wiedererkannt zu haben glaubte. „Der Pass scheint mir völlig einwandfrei zu sein, worauf gründen sich deine Bedenken?“

      „Ich kenne diesen Mann, unter einem völlig anderen … Namen.“ Er sagte es verächtlich. „Kein Wunder“, dachte sich Rayan und unbewusst fasste sich der Tarmane dabei links an seine Rippen. Im gleichen Moment verfluchte er sich selbst, als er seinen Fehler erkannte. Er war heute wirklich nicht er selbst! Obwohl er noch versuchte, seine Körperhaltung unauffällig zu ändern, entging ihm nicht das triumphierende Grinsen des anderen. Auch der wusste noch, wo er den Scheich damals verletzt hatte. Und nun stand zu allem Übel die absolute Überzeugung in seinem Blick, wenn da vorher noch ein kleiner Zweifel gewesen wäre. „So viel zum Lügendetektor“, dachte Rayan selbstironisch. „Wer braucht den schon, wenn man sich selbst verraten kann?“

      Er beschloss, dass es für den Moment das Beste war, den Mann zu ignorieren, der hier im Befragungsbüro ganz offensichtlich nichts zu sagen hatte. Stattdessen konzentrierte er sich nun voll und ganz auf den zuständigen Beamten, der gerade begann, ihm allerlei Fragen zu stellen. Auch seine Fingerabdrücke wurden genommen, zudem wurde er fotografiert, um nochmals in diversen Karteien nachzusehen. Doch die Adoption war damals in Rayans Jugend absolut korrekt und legal durchgeführt worden. Sowohl seine Identität, als auch seine Papiere waren echt. Natürlich kam er nicht umhin, auch noch sein Gepäck vorzuzeigen, doch der magere Inhalt seines kleinen Trolli war schnell kontrolliert.

      Der Blick des Texaners veränderte sich, je länger die Kontrolle anhielt. Von gehässiger Genugtuung in Ärger bis hin zum puren Erstaunen. Am meisten machte ihm zu schaffen, dass dieser vermeintliche Betrüger ihre Sprache perfekt beherrschte. Noch nicht einmal der kleinste Hauch eines Akzents verriet, dass er nicht hier in den Staaten geboren war. Das war unheimlich! So gut konnte man doch nicht in zwei Jahren Englisch lernen. Aber er war sich damals sicher gewesen, dass dieser verfluchte Scheich kein Wort von dem verstand, was sie gesagt hatten. Hatte er sich etwa so perfekt verstellt? Ausgeschlossen.

      Aus diesem Grund war ihm deutlich anzusehen, dass er am liebsten die Sachen im Koffer alle selbst noch einmal inspiziert hätte. Er war sich so sicher, sein Gegenüber erkannt zu haben und selbst nach der absolut negativen Überprüfung, hatte er an der doppelten Identität keinen Zweifel. Dafür war er schon viel zu lange in diesem Job. Es musste also eine andere Erklärung geben. Das hatte wohl auch der zuständige Beamte dem ungläubigen Gesicht seines Kollegen entnommen, denn er sagte langsam und betont, wie zu einem Kind: „Da hast du dich wohl getäuscht, nicht wahr Burt? Burt, wir werden diesen Mann jetzt gehen lassen!“

      Seine Stimme machte klar, dass er die unangenehme Situation nicht noch verfahrener machen wollte. Einen US-Bürger, der noch dazu ein erfolgreicher und angesehener Geschäftsmann mit allerlei Kontakten war, derart auseinanderzunehmen, war kein gutes Unterfangen. „Wir danken Ihnen für Ihre Kooperation, Mr. Tanner.“

      Er reichte daher dem Scheich entschlossen die Hand und Rayan rang sich ein freundliches Lächeln ab: „Kein Problem. Unsere Sicherheit geht uns alle ja an und Sie machen ja nur Ihren Job.“ Erleichtert hoffte der Beamte, dass der Manager das auch so meinte und er sich nicht im Nachhinein noch mit jeder Menge Papierkram herumschlagen würde müssen.

      Anfang September 2015 – München – Ein weiterer Gast

      Carina hatte die Augen wieder geschlossen und genoss es, zur Abwechslung einmal nicht das Ziel der Fragen ihrer Freundinnen zu sein. Was wäre, wenn sie heute bereits zurückfliegen würde? Je länger sie die „hühnerhaufenartige“ Diskussion mit halbem Ohr verfolgte, sehnte sie sich nach der Ruhe der Wüste. Sie stellte sich vor, sie würde morgens dem Wind zuhören und die Farbenpracht der aufgehenden Sonne verfolgen.

      Auf einmal rammte ihr Lisa, die Carina am nächsten saß, den Ellbogen in die Seite. Erschrocken fuhr sie herum und sah Lisa vorwurfsvoll an: „Autsch – du spinnst wohl?!“ Doch Lisa ließ