Indira Jackson

Rayan - Der Stich des Skorpions


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Wunsch relativ schnell und unkompliziert entsprochen hatte. Lediglich zwei Leibwächter hatte er ihr „aufs Auge gedrückt“, die jedoch auf ihre Bitte hin entsprechenden Abstand hielten. Jetzt gerade warteten sie zum Beispiel außerhalb des Grundstücks auf der anderen Straßenseite. Wie hätte sie sonst ihren Freundinnen die Anwesenheit der beiden Männer erklären sollen? Auch im Freibad hatten sie draußen vor der Tür gewartet. Carina war klar, dass Rayan einen Tobsuchtsanfall kriegen würde, wenn er davon erfahren sollte. Aber sie hatte nicht vor, es ihm zu berichten, wenn sie sich in Zarifa in einigen Tagen wiedertrafen.

      Nun saß sie also hier, in der Sonne, im Garten ihrer Freundin Sandra, die morgen heiraten würde. Carina graute schon jetzt vor dem kommenden Tag. Bereits heute waren alle so übertrieben romantisch und glücklich und jeder präsentierte seine Partnerschaft im besten Licht. „Hochzeitsfieber“ nannte Carina das. Als müsste jeder dem anderen beweisen, dass die Ehe das höchste aller Ziele im Leben war. Und nicht nur dem anderen – am meisten wohl sich selbst. Sie saß im Moment in einer Runde mit drei ihrer Freundinnen, die morgen auch die Brautjungfern sein würden. Nachdem Carina erst kurzfristig noch zugesagt hatte, war sie selbst leider außen vor. Schon der erste Grund, warum sie sich schon den ganzen Nachmittag lang ausgeschlossen fühlte. Die jungen Frauen diskutieren den Ablauf der morgigen Zeremonie, den Schnitt ihrer Kleider und ihre Aufgaben, die sie übernommen hatten.

      Ein weiterer Punkt, der sie in ihren Augen anders machte, war, dass alle drei ihren Partner mit dabei hatten und in dieser Clique viel Zeit miteinander verbrachten. Es gab also reichlich gemeinsame Erlebnisse, bei denen sie nicht mitreden konnte.

      Das Schlimmste aber war, dass sie Carina offenbar als ihre Chance auf Neuigkeiten und frischen Klatsch und Tratsch betrachteten. Natürlich hatten sie ihr Buch gelesen - oder behaupteten das zumindest - und bearbeiteten sie permanent, wie dieser Scheich denn so privat sei, ob sie mit ihm eine Affäre gehabt habe und so weiter. Und wenn nicht mit ihm, so gab es doch bestimmt noch andere attraktive und geheimnisvolle Männer dort? Ein Tagebuch über ihr Liebesleben – aber bitte mit allen Details! Das wäre der Wunsch der drei Frauen.

      In den vergangenen Tagen hatte sie es geschickt verstanden, allen Fragen auszuweichen. Wie sollte sie nur annähernd ihre Beziehung zu Rayan beschreiben? Und nun saßen sie zu allem Überfluss bereits seit dem frühen Nachmittag zusammen. Irgendwann hatte Carina den Fehler gemacht, entnervt zuzugeben, dass sie „jemanden hatte“. Sie hatte gehofft, dann ihre Ruhe zu haben, weil die Mädels ihr einfach das Jungferndasein nicht abnahmen. Doch das hatte alles noch schlimmer gemacht, nun wollten sie erst recht Details wissen. Sie hätte es wirklich besser wissen müssen - war sie nicht früher genauso gewesen? Aber wie hätte sie ihr Leben mit Rayan erklären können? „Ach wisst ihr, neulich hat er einen Mann hinrichten lassen, weil dieser ihn beleidigt hatte …“, kein allzu gutes Tischgespräch! Ein eigenartiges Lächeln umspielte ihren Mund, als sie sich vorstellte, wie ihre Freundinnen wohl DARAUF reagieren würden.

      Um sich abzulenken, blendete sie alle Fragen aus und betrachtete stattdessen den wunderschönen Garten, den Sandra sich zusammen mit ihrem zukünftigen Mann Joachim hatte anlegen lassen. Seine Familie zählte zu einer der Reichsten in München, weshalb sie sich das Haus mit ausgedehntem Anwesen durchaus leisten konnten.

      Die „Grillparty“, die man anstatt eines Polterabends veranstaltete, hatte sie sich etwas intimer vorgestellt. Im kleinen Kreis, mit alten Bekannten. Stattdessen mussten es wohl etwa siebzig Personen sein, die hier waren. Die arme Sandra kam kaum noch nach, mit allen wenigstens ein paar Worte zu wechseln. Sie wirkte ziemlich mitgenommen, und das bereits am Tag vor dem großen Ereignis!

      „Wenn ich jemals heiraten sollte, dann bestimmt nicht in so einem großen Rahmen!“, dachte Carina ein wenig amüsiert. „Die meisten sind nur hier, um umsonst Champagner zu schlürfen und ihre feinen Klamotten auszuführen.“ Dann fiel ihr ein, dass sie das wohl nie erleben würde. Rayan und heiraten? Diese beiden Worte passten einfach nicht in einen Satz. Wobei er ja sogar genau genommen Witwer war. Amina, die Mutter von Tahsin, war gestorben, als dieser noch sehr klein war. Die genauen Umstände kannte sie nicht. Aber das war wohl genug an offiziellen Verpflichtungen für Rayan gewesen. Sie seufzte, was für ihre Freundinnen ein Signal war, ihre Befragung unbarmherzig fortzusetzen. Doch dann brach Lisa auf einmal mitten im Satz ab. Wie gebannt starrte sie hinüber zum Haus. „Hallo, hallo!“, sagte sie und pfiff wenig damenhaft durch ihre Zähne. „Wen haben wir denn da?“, fuhr sie fort. Was die beiden anderen Mädchen, Susi und Jeanette, ebenfalls Richtung der Terrasse schauen ließen. Aufgeregt begannen sie, den Neuankömmling zu diskutieren. Carina hörte nicht zu. Sie hätte nicht gedacht, dass ihr die gemütlichen Gespräche mit Julie auf der Terrasse des Herrenhauses in Zarifa derart fehlen würden.

      Ende Juni 2015 – Zarifa: Bergwelt – Bezahlung einer Schuld

      „Verzeiht mir Herr“, entschuldigte sich der Junge zerknirscht und setzte sich wieder hin. Seine Freunde hatten ihm schon dermaßen zugesetzt, dass er bei diesem Thema überempfindlich reagierte. Zudem hatte er tatsächlich einen Moment lang vergessen, mit wem er es zu tun hatte. Er konnte es ja noch immer nicht glauben, diese ganze Begegnung war einfach zu unwirklich.

      „Aber es würde Euch sicher auch nicht gefallen, als Feigling bezeichnet zu werden“, setzte er trotzig noch dazu.

      Ernst antwortete Rayan: „Ja, da hast du recht. Also: Erkläre es mir – warum hast du deinen Kameraden den Rücken gekehrt, wenn du so gerne ein Kämpfer wärst?“

      „Es war einfach nicht fair!“, empörte sich der Junge nun. „Ich habe nichts falsch gemacht, und trotzdem wollten sie mich bestrafen!“

      „Du hattest Wache, während dieses Pferd gestohlen wurde – oder willst du das leugnen?“, fragte Rayan ruhig. Also kannte er Alesers Geschichte doch. Mit empörter Stimme rechtfertigte der Junge sich nun: „Nein! Aber sie haben gesagt, ich werde bestraft, weil ich geschlafen habe. Ich weiß, wie wichtig es Euch ist - wie wichtig es für uns alle ist - dass derjenige, der Wache hat, zu jeder Zeit seine Pflicht tut. Ich habe nicht geschlafen! Hätte ich die Strafe akzeptiert, hätte ich zugegeben, dass das Pferd verschwunden ist, weil ich nicht auf meinem Posten war.“

      Rayan seufzte und schüttelte mit dem Kopf: „Du zerstörst dein Leben, deinen zukünftigen Lebensweg, weil du findest, dass diese Situation nicht FAIR war? Hast du dir das gut überlegt? Wie lange glaubst du, kommst du noch damit durch, dich zum Trainieren heimlich wegzuschleichen? Ich denke, du kommst deshalb immer wieder hierher, weil du im Grunde weißt, dass deine Entscheidung falsch war. Was glaubst du, wie zufrieden wirst du in fünf Jahren sein, als Bäcker? Und in zehn?“ Der Scheich ließ dem Jungen einige Sekunden, um über seine Worte nachzudenken, dann fuhr er fort: „Und seit wann ist das Leben immer gerecht? Ich könnte dir so viele Geschichten erzählen. Er hielt inne und versank einige Minuten lang in den Schatten seiner Vergangenheit. Gespannt schwieg Aleser. Er spürte, dass der Scheich noch nicht fertig war.

      „Hör zu, Aleser. Ich werde deine Ausflüge für mich behalten. Aber glaube nicht, dass ich dich schützen werde, wenn jemand anderer dir auf die Schliche kommt. Als Gegenleistung will ich, dass du mir versprichst, dass du ernsthaft darüber nachdenkst, deine Entscheidung rückgängig zu machen. Zeige ihnen, dass die Gerüchte falsch sind und du keine Angst vor der Peitsche hast.“

      „Dann glaubt Ihr mir, Herr, dass ich nicht geschlafen habe?“, fragte Aleser atemlos. Rayan lächelte traurig: „Aber natürlich. Ich weiß es sogar. Denn ich war dort in dieser Nacht, in der Oase von Farah.“

      Fassungslos starrte der Junge seinen Scheich an. „Wieso? Wie?“ Und auf einmal dämmerte ihm die Wahrheit: „Ihr wart das? Ihr habt das Pferd gestohlen? Wieso? Ich hätte es Euch gegeben – Jeder hätte das …?!“ Er verstummte. Mit entschlossener Stimme entgegnete ihm Rayan: „Ja, ich habe dieses Pferd GENOMMEN. Somit war es kein Diebstahl“, er lächelte einen Moment nachsichtig, dann fuhr er fort: „Aber ich werde mich vor dir nicht rechtfertigen. Es muss dir genügen, dass es einen Sinn hatte, warum ich es getan habe und vor allem WIE ich es getan habe.“ Sein Tonfall verriet, dass das Thema damit für ihn abgeschlossen war.

      „Aber dann braucht Ihr doch nur bezeugen, dass ich nicht geschlafen