Als Rayan das Flugzeug verließ, atmete er auf. Er hasste Linienflüge! Da halfen auch die Annehmlichkeiten der ersten Klasse nicht viel.
Derart viele Menschen auf einem so engen Raum, waren für jemanden, der oft viele Tage unter freiem Himmel verbrachte, ein Gräuel.
Aber sein Learjet war nun einmal nicht dazu gedacht, über den Atlantik zu fliegen. Und ein Kostenvergleich hatte ihm nur allzu deutlich vor Augen geführt, dass es in keinem Verhältnis stand, sich ein größeres Flugzeug, wie zum Beispiel eine Global XRS anzuschaffen. Natürlich hätte er sich dies leisten können, aber es war gegen seine Natur, so viel Geld "zum Fenster hinaus" zu werfen.
Also biss er jedes Mal, wenn er nach Amerika reiste, die Zähne zusammen.
Diese Tatsache trug allerdings nicht dazu bei, seine Laune zu verbessern. Die war seit den Ereignissen in Alessia auf dem Tiefpunkt. Wie hatten Cho und Hummer ihm eine derart wichtige Information verheimlichen können? Er konnte es einfach nicht fassen!
Da der Scheich wie immer auf diesen Reisen in seine zweite Heimat mit sehr leichtem Gepäck reiste - schließlich hatte er in seinem Apartment vor Ort alles, was er für das Leben hier benötigte - hatte er lediglich einen kleinen Trolli mit an Bord genommen. Diesen zog er nun bis zur „Customs Border Control“ - der Grenzkontrolle zur Einreise in die USA - hinter sich her.
Als er die lange Schlange der Nicht-US-Bürger sah, war er wieder einmal erleichtert, seinen amerikanischen Pass vorweisen zu können. Dank seiner Adoption durch Julie und Jack Tanner war er unter dem Namen Yasin Tanner ganz offiziell amerikanischer Staatsbürger. Natürlich ahnte man hier nichts von Rayan, dem Scheich. Das hatte er bisher zu verhindern gewusst und er würde auch weiterhin alles daran setzen, dies zu tun.
Bei den US-Amerikanern ging die Abfertigung flott voran. Die Beamten an diesen Schaltern blickten auch nicht ganz so streng drein. Schließlich handelte es sich hier um Rückkehrer in die Heimat. Als Rayan an der Reihe war, begnügte sich der Uniformierte mit wenigen Fragen und schon zückte er einen Stempel, um das Formular des Scheichs abzustempeln.
Auf einmal hörte er eine Stimme aus wenigen Metern Entfernung sagen: „Stopp! Diesen Herren müssen wir genauer untersuchen.“ Es war sicher ein interessanter Anblick, als sowohl Rayan als auch der Officer fast gleichzeitig mit offenem Mund zur Quelle dieser Aussage blickten. Einem Uniformierten, dessen Schulterklappen ihn als Angestellten der TSA, der Transport Security Administration, auswiesen. Und dessen Funktion der Scheich nicht sofort abschätzen konnte. „Das darf doch wohl nicht wahr sein?“, schoss es ihm durch den Kopf. Er hatte wirklich Besseres zu tun, als aufgrund von irgendwelchen Wichtigtuern noch mehr Zeit zu verlieren als notwendig. Ausgerechnet jetzt, wo er es eilig hatte! So etwas war ihm noch nie passiert. Und dann erkannte er plötzlich den Mann in Uniform! Es musste etwa zwei Jahre her sein, als sie sich unter erheblich anderen Umständen getroffen hatten …
Kurz verengten sich Rayans Augen, doch in Sekundenbruchteilen hatte er sich wieder im Griff. Rasend schnell wog er seine Möglichkeiten ab. Es half nichts: Wenn er hier kein Aufsehen erregen wollte, musste er zunächst tun, wie ihm angewiesen wurde und mit seinem „alten Bekannten“ mitgehen. Ihm war es ein Rätsel, dass der ihn nach so langer Zeit wiedererkannte, wo sie sich damals nur wenige Tage und mitten in der arabischen Wüste getroffen hatten. „Na das dürfte ja spannend werden“, sagte er sich selbst ironisch, während er dem Mann folgte. Der Beamte, der seinen Pass kontrolliert hatte, verblieb an seinem Posten und wandte sich kopfschüttelnd dem nächsten Einreisenden zu.
Anfang September 2015 – München – Heimweh nach Zarifa
Carina reckte ihr Gesicht in die warme Septembersonne. Sie genoss es, nach so vielen Monaten in Zarifa einmal wieder in München zu sein. Die vergangenen fünf Tage hatte sie mit Freundinnen, Bekannten, vor allem aber mit ihrer Familie verbracht. Sie war einkaufen gewesen, bei ihrem Chef in der Redaktion, hatte beim Kaffee über alte Zeiten getratscht oder sonstige Erledigungen durchgeführt. Ihre Mutter Eva-Maria und ihr Bruder Alex waren genauso wie ihre Tante Martha froh gewesen, sie endlich einmal wieder persönlich zu sehen, auch wenn sie regelmäßig über Skype in Kontakt standen.
Vor allem für ihre Mutter war es allerdings eine herbe Enttäuschung gewesen, dass Carina alleine gekommen war. Es hatte sich bisher weder eine Gelegenheit ergeben, Rayan kennenzulernen, den sie alle nur „Carinas geheimnisvollen Freund“ nannten, noch hatten sie ihre Enkeltochter persönlich getroffen. Es war Alex gewesen, der Eva-Maria und Martha davon überzeugt hatte, dass die moderne Technik die einzige Lösung wäre, ihre Tochter zumindest ab und an zu Gesicht zu bekommen. Genauso wie Sheila.
Die Münchnerin war froh, dass der Scheich seinen Jet, nach seiner überstürzten Abreise zurückgesandt hatte, weil sich sein Aufenthalt in die Länge ziehen würde. So hatte Carina diesen einige Tage später nutzen können und musste nicht den Umweg von Alessia über Dubai im Linienflieger nehmen. Das erschien ihr so mühsam im Vergleich zu der angenehmen und vor allem viel kürzeren Direktstrecke an Bord von Rayans Privatflugzeug.
„Jetzt bin ich auch schon völlig verwöhnt“, lächelte sie über sich selbst. Sie hatte es geschickt verstanden, Tante Martha, die sie am Flughafen München abgeholt hatte, nicht wissen zu lassen, dass sie auf diese elegante Art und Weise eingeflogen worden war.
Spätestens, wenn sie doch irgendwann einmal den Freund ihrer Tochter in natura kennenlernen würden, würde Carina ohnehin einige Erklärungen abgeben müssen. Aktuell dachten sie, die Münchnerin würde in Dubai arbeiten. So war es einfacher, fand sie, obwohl sie die Lüge zunehmend mehr bedauerte. Andererseits: Wie sollte sie sich ein Treffen zwischen dem Scheich der Tarmanen und ihrer Familie, die auf einem Bauernhof außerhalb von München lebten, vorstellen? Die Hartmanns würden mit Sicherheit in kein Flugzeug steigen. Und Rayan? Würde er sie irgendwann einmal in ihr Elternhaus begleiten? Irgendwie erschien ihr die Vorstellung völlig absurd. Sie liebte jeden Quadratmeter an dem alten Gutshaus und sie konnte sich keinen anderen Ort vorstellen, an dem sie lieber aufgewachsen wäre. Aber sie waren einfache Leute, die ihr Leben lang hart für den Erhalt des Hofes gearbeitet hatten. Von daher konnte sie sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie es wäre, wenn diese beiden Welten aufeinanderstießen.
Sie stellte ein wenig bedauernd fest, dass ihr eigenartigerweise mittlerweile vieles aus ihrem alten Leben sehr fremd vorkam.
Zum Beispiel war es ihr früher nie als etwas Besonderes erschienen, einfach nur durch die Fußgängerzone von München zu schlendern. Doch irgendwie hatte sich ihr Fokus komplett verändert. Erstaunt stellte sie fest, dass sie nun Zarifa als ihr Zuhause betrachtete, denn obwohl sie die Abwechslung genoss, sehnte sie sich bereits nach diesen wenigen Tagen dorthin zurück.
Zum einen war es das friedvolle Leben, das sie sich dort inzwischen aufgebaut hatte. Die Gespräche mit Julie und Tahsin, die Treffen mit den anderen Frauen der Tarmanen.
Aber vor allem gab es auch noch einen anderen Punkt: Wenn sie es noch so sehr leugnen wollte, der Hauptgrund, dass sie sich unruhig fühlte, war, dass sie Rayan vermisste. Sie hatte ihn nun seit seiner eiligen Abreise Anfang August nach dem Geständnis dieses Jungen namens Adnan nicht mehr gesehen. Und obwohl sie mehrmals telefoniert hatten, fehlte er ihr. Bei allem, was sie in den vergangenen Tagen gemacht hatte, hatte sie sich gefragt, wie es wohl wäre, dieses Erlebnis gerade mit ihm zusammen zu haben.
Gestern zum Beispiel war sie mit zwei ihrer Freundinnen im Freibad gewesen. Dort waren ihr die vielen glücklichen Pärchen förmlich ins Auge gesprungen. Ach wie gerne hätte sie ebenfalls mit ihrem attraktiven, gut gebauten Freund vor den Mädchen angegeben! Dann musste sie lächeln. Rayan als „ihren Freund“ zu bezeichnen, war schon eine interessante Formulierung. Und sich vorzustellen, wie er mit ihr zusammen genau wie die Anderen durchs Wasser tobte – undenkbar. Das ging vielleicht in Zarifa, aber spätestens, wenn Rayan unter Leuten war, änderte er sich vollkommen. Je nachdem, mit wem er es gerade zu tun hatte. Manchmal konnte er liebevoll und besorgt sein – vor allem ihr und seinem Sohn Tahsin gegenüber – dann wieder war er grausam und gefährlich. Eine explosive Mischung, die Carina aber inzwischen gut zu handeln gelernt hatte.
Nun, da sie bekommen