persönliche Gegenstand in seinem Büro. Das Gemälde begleitete ihn bereits sein ganzes Berufsleben. Im Vordergrund lag ein großer Frachter an Dalben vertäut und leichterte seine Waren auf Schuten. Offenbar anfangs des 20. Jahrhunderts gemalt. Im Hintergrund die lange Reihe von Hafenkranen im Europahafen. Das Bild bedeutete für Beyer sowohl Verbundenheit mit seiner Vaterstadt und den Schifffahrtsinteressen, die seine Familie über mehrere Generationen gehabt hatte, als auch die Verbindung zur Welt. Gleichzeitig strahlte es Ruhe und Zuversicht aus.
Frau Schmidt hatte ihm eine zum Bersten gefüllte Postmappe auf den Schreibtisch gelegt. Ein kleiner gelber Zettel klebte auf dem Deckel: „Anruf von Mr. Stones aus Chicago. Bitte Rückruf, dringend“. Stones war der Chief Executive Officer, der CEO, der für die Beratungsgruppe weltweit verantwortliche Repräsentant, die unbestrittene Nummer eins unter den sonst gleichberechtigten Partnern. Er wurde von ihnen auf einem der jährlichen Partner Meetings jeweils für eine Amtszeit von zwei Jahren gewählt, war aber im vergangenen Jahr schon zum dritten Mal in seinem Amt bestätigt worden. Intern nannte man ihn Jack, wie sich alle Partner und Prinzipale untereinander grundsätzlich mit dem Vornamen anredeten, Firmenphilosophie eben.
„Man kann keinen Tag mal richtig abschalten, die erwischen einen immer“, seufzte Beyer, lehnte sich in seinem Sessel zurück, griff zum Telefon und rief Heinz Müller an.
„Wie weit seid Ihr mit der Stein-Präsentation? Sie ist am Mittwoch, nicht wahr?“
„Ja, um 10 Uhr“
„Dann haben wir noch 24 Stunden Zeit zu korrigieren, und wenn das nicht reicht, nehmen wir die Nacht dazu“, schlug Beyer betont fröhlich vor.
„Du hast gut scherzen, Urlauber! Treffen wir uns im großen Besprechungsraum, wir haben schon alles vorbereitet!“
An der Stirnwand hing eine große Anzahl von Hard Copies der Folien, die am folgenden Tag der Geschäftsführung der Firma Stein, einem bedeutenden Hersteller von Nahrungsmitteln, gezeigt werden sollten: Texte wechselten mit Grafiken und Tabellen, Diagramme waren teilweise farbig gestaltet. Das ganze ‘Stein-Team‘ war vollständig versammelt.
Beyer war Spezialist für strategische Unternehmensplanung. Früher hatte er in einem großen Chemiewerk in der strategischen Planungsabteilung gearbeitet. Vor drei Jahren war er durch die gezielte Ansprache von einem Head Hunter zur Beratung gekommen und hatte sich in seiner neuen Position erfolgreich entwickelt. Er wartete jetzt auf seine Beförderung zum ‘Prinzipal‘.
Er gab einen kurzen Überblick über die Ergebnisse der Marktanalyse und simulierte in einem ‘Trockenlauf‘ die Klienten Präsentation wie eine Generalprobe. Er erläuterte, das Hauptprodukt: Schwäbische Spätzle, das im Markt einen hohen Bekanntheitsgrad besaß und von den Kunden in Baden-Württemberg und Bayern gut beurteilt wurde. Außerhalb Süddeutschlands nahm der Bekanntheitsgrad ab. Er schlug vor, eine regional-spezifische Werbekampagne zu starten. Bei bestimmten Verbrauchermärkten sollten Werbeteams zum Einsatz gebracht werden, ein Einsatzplan war ausgearbeitet worden. Es folgten Tabellen mit Umsatzerwartungen und Kostenprojektionen. Im zweiten Teil der Präsentation wurde die gezielte Entwicklung von neuen Produkten vorgeschlagen.
Die Kundenbefragung hatte die Notwendigkeit von ergänzenden Fertigprodukten auf der Basis der ‘Schwäbischen Spätzle‘ ergeben. In Zusammenarbeit mit dem Klienten Team war man hier sehr konkret geworden und hatte – neben der Produktspezifikation – sogar bestimmte Verpackungsformen vorgeschlagen.
Die Generalprobe hatte knapp eine Stunde gedauert. Die sich anschließende Diskussion mit Müller konzentrierte sich in erster Linie auf die Stichhaltigkeit der Argumentation. Es wurden Fragen zur Bewertung der Befragungsergebnisse wie auch zu den Marktdaten gestellt. „Sind wir sicher, dass wir eine ausreichende Anzahl von Kunden ausgewählt haben?“
„Die Stichprobe umfasst 10% der Kunden, das ist mehr als sonst üblich.“
Insgesamt war Beyer mit dem Inhalt der Präsentation einverstanden, aber die Art des Vortrags war in seinen Augen verbesserungsbedürftig. Beyer legte großen Wert auf eine ausdrucksstarke Präsentation und verlangte vollen Einsatz von seinen Mitarbeitern. Dazu gehörten auch die Körperhaltung sowie die Sprechtechnik. Alles musste perfekt sein. Schließlich wollten sie einen überzeugenden Eindruck hinterlassen. Also: Alles noch einmal von vorne!
Die Wiederholung wurde von einem Telefonanruf eines großen Warenhauses unterbrochen, ein Geschäftsführer verlangte den Verantwortlichen für die ‘Stein-Studie‘ zu sprechen. Beyer nahm den Anruf in seinem Büro entgegen.
„Ziehen Sie sofort Ihre Leute vor meinen Läden ab. Die belästigen seit Tagen unsere Kunden. Wenn das nicht sofort aufhört, werden wir Sie schadenersatzpflichtig machen“, brüllte der Geschäftsführer, Herr Kleinschmidt, erregt in seinen Hörer. „Und im Übrigen können Sie sich ihre ‘Stein-Produkte‘ an den Hut stecken, wir werden sie aus der Lieferantenliste streichen.
„Wie soll ich das verstehen?“ fragte Beyer völlig überrascht.
„Haben Sie denn gestern im Fernsehen die Regionalschau nicht gesehen?“
Beyer verneinte.
„Das hätten Sie aber sollen. Der Name Stein ist auf ewig ruiniert!“
„Verzeihen Sie“, entgegnete Beyer, „ich war gestern im Ausland. Was ist denn geschehen?“
„Liest denn niemand bei Kanders Zeitung oder sieht die Regionalschau? Was geschehen ist, fragen Sie. Stein hat verdorbene Eier in seinen Produkten verarbeitet. Das ist geschehen! Das Fernsehen hat gestern darüber ausführlich berichtet und Sie wissen das nicht?“
Beyer war schockiert. Offensichtlich hatte niemand seiner Kollegen am gestrigen Tag die Regionalschau gesehen und bundesweit war darüber noch nicht berichtet worden. Er lehnte sich erschöpft in seinem Sessel zurück. Das durfte nicht wahr sein! Aber wenn es stimmte, dann konnten sie die ganze Präsentation in den Papierkorb werfen. Er stürmte in den Besprechungsraum:
„Vergesst die Präsentation, Stein ist erledigt!“
„Mach keine Witze, danach steht uns nicht der Sinn“, lachte Heinz.
„Ich meine es ernst. Wenn das stimmt, was mir der Geschäftsführer Kleinschmidt von der ‘Bewo-Gruppe‘ eben am Telefon ins Ohr gebrüllt hat, dann hat Stein einen handfesten Skandal. Sie sollen verdorbenes Flüssig-Ei verwendet haben, und das regionale Fernsehen hat darüber gestern ausführlich berichtet. Hat das keiner von Euch gesehen?“
Alle verneinten. Sie sahen grundsätzlich nicht das regionale Fernsehprogramm, wenn überhaupt, dann das Nationale Programm. Sei es das Erste oder das Zweite.
„Ich werde gleich mit Herrn Stein sprechen, um zu hören, was da los ist.“
Die Frau am anderen Ende der Leitung klang verstört. Sie teilte ihm mit, dass sich Herr Stein gegenwärtig an einem unbekannten Ort aufhalte und die Präsentation von Kanders im Haus abgesagt sei.
Beyer legte auf und trommelte nervös mit den Fingern auf seine Schreibtischplatte. Da ist wohl nichts mehr zu retten, dachte er, die ganze Arbeit für die Katz! Enttäuscht ging er zu den anderen in den Besprechungsraum.
„Leute, wir können die Arbeiten für Stein abbrechen. Packt die Präsentation zusammen und schickt sie mit einem persönlichen Anschreiben an die Geschäftsführung. Alle Termine sind storniert. Walter Stein ist verschwunden, verreist mit unbekanntem Ziel. In der Firma herrscht Ratlosigkeit, aber ich glaube, dass sich Stein wehren wird. So schnell gibt der nicht auf, ich kenne