gebe den Kurs zu meinem Vergnügen, und es ist mir egal, ob Sie das glauben oder nicht. Moderne deutsche Literatur, Sprachdiplom - höhere Weihen sozusagen. Elf Teilnehmer hatte ich im letzten Jahr. Sie blieben mir treu bis zum Schluss, vor ein paar Wochen haben wir bei mir zuhause den glorreichen Abschluss gefeiert. Jede hat ein kurzes selbst verfasstes Gedicht vorgetragen, gereimt oder nicht. „Jede“ stimmt schon, es handelt sich nur um Damen aller Altersgruppen. Die späten Kurse sind ja bei den Lehrern nicht sehr beliebt, wie Sie sich denken können. Bei den lernbegierigen jungen Leuten, die tagsüber malochen, aber sehr wohl. Deshalb sah Isemuths Vorgänger darüber hinweg, dass ich keinen Uni-Abschluss vorweisen kann. Schließlich bin ich Muttersprachler. Eigentlich mehr Vatersprachler, denn meine Mutter ist wenige Jahre nach unserer Ankunft in Argentinien gestorben. Den richtigen Schliff, den hat mir der alte Schill beigebracht. Er war darin konsequent bis zum geht nicht mehr. Harte Schule, ich sag´s Ihnen! Er ließ mir keinen Fehler durchgehen und schon gar kein „Belgrano-Deutsch“, wie wir die manchmal etwas unglückliche Mischung von Deutsch und Spanisch bezeichnen. Sachen wie „Der Zug hat mich gelassen“ statt „Ich habe den Zug verpasst“ fielen der Zensur zum Opfer, sosehr sie ihn auch amüsierten.
Mittlerweile sind wir im Vorstadtgürtel angelangt. Sieht aus wie in einem Film mit Django, finde ich. Darf man natürlich nicht laut sagen, man will ja niemand verletzen. Aber die winzigen Flachdachhäuser, links wie rechts, mit den schiefen Fernsehantennen und den kaputten Bürgersteigen, ab und zu eine Grillbude oder eine vergammelte Tankstelle, dazwischen verwilderte unbebaute Grundstücke, also, alles das können Sie getrost vergessen. Wenn es noch ein bisschen wärmer wird, dann stellen die Leute den Fernseher in die Türöffnung und schauen vom Garten aus in die Wohnung. Das könnte fast romantisch sein, ist es aber nicht. Zu viel Neon.
Augenmenschen kommen in der Innenstadt schon eher auf ihre Rechnung. Viele Häuser sind im Kolonialstil erbaut, nicht alles authentisch, macht aber nichts, schafft Identität. Die alte Universität, der die Stadt den Ehrennamen „la docta“ verdankt, kann sich wirklich sehen lassen, ebenso wie der Cabildo, das alte Rathaus. In letzter Zeit lümmelt hier allerdings mehr Militär herum als der Optik gut tut. Gleich daneben erhebt sich die ehrwürdige Kathedrale, und da stören Uniformen, finden Sie nicht auch? Nachts werden die Soldaten auf Jagd geschickt, hört man. Häuser würden sie durchsuchen, heißt es. Hörensagen, klar, in der Zeitung suchen Sie danach vergebens. Es herrscht nämlich Ausnahmezustand. Keine schöne Situation, wirklich nicht. Immerhin, endlich haben sie mal was zu tun, die Milicos. Wie sagt mein Schulkamerad Alfredo Vasquez, jetzt Oberleutnant: Beim Militär tun wir rein gar nichts, aber das machen wir alles sehr früh.- War schon auf der Penne immer drollig, der Vasquez. Unüberwindlich im Sport, sonst eher schwach, Fremdsprachen Zero. Was sie jetzt so treiben, hier mitten in der Stadt oder nachts in den Häusern? Linke Terroristen bekämpfen, die sich bei uns Montoneros nennen? Es wäre gut, etwas genauer Bescheid zu wissen. Ich muss mal den Vasquez fragen, bei Gelegenheit.
Jetzt den Boulevard Junin hoch, dann den Boulevard Chacabuco rein. Die Flaschenbäume in seiner Mitte sind nun nach dem trockenen Winter etwas dünn. In den regenreichen Sommermonaten werden sie sich vollsaufen und dann schön mollig aussehen. Parken kann ich in der Einfahrt des Instituts, wenn jemand raus will, soll er sich bei der Doctora beklagen. Im Institutshof ist Quevé damit beschäftigt, mit zwei Schauspielern in einem Riesenkarton zu wühlen. Quevé ist ihr Künstlername, sie leitet eine Theatergruppe, die in den Räumen des Kulturinstituts probt und ihre Stücke dort auch aufführt. Wir rufen einander „Hola, wie geht´s?“ zu, dann stecken die drei wieder die Köpfe in die Schachtel, und ich stiefle weiter zum Sekretariat.
Herzliche Begrüßung mit der Habach. Sie ist eine fleißige Kraft, das weiß jeder. Der letzte Leiter hat mir verraten, er würde nach Möglichkeit stets Kräfte mit leicht hervorstehenden Augen wie die Habach einstellen. Basedow, wissen Sie, erklärte er, leichte Schilddrüsenüberfunktion, stets tätig, rastlos. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut, so eine hinterhältige Einstellung, wo er doch so abgeklärt und weise tat. Egal, die Habach ist immer guter Laune, außer sie ist mit der Ablage beschäftigt. Dann kann man mit ihr kein vernünftiges Wort wechseln. Da wird sie total flatterig. Ich habe beobachtet, dass sie dabei noch mal in der Korrespondenz schmökert, und das sollte sie natürlich besser bleiben lassen, deshalb kommt sie nie zu Rande. Die blonden Haare liegen glatt am hoch getragenen Haupt, mit Dutt hinten, wie eine BDM-Führerin. War sie vielleicht auch, schon denkbar. Ich hab mir sagen lassen, dass sie nach ihrer Ankunft hier, vor fünfundzwanzig Jahren oder so, ohne viel Zeit zu verlieren eine Frauensportgruppe gegründet hat. Ich stelle mir das komisch vor, Medizinball und Reck unter dem Kreuz des Südens. Die Kommandos waren deutsch, weil sie damals im Spanischen noch nicht so fit war. Ich nehme an, dass sie heute noch nicht weiß, was „Bauchaufschwung“ auf Spanisch heißt.
- Die Chefin erwartet sie schon, sagt sie, und ich gehe durch.
Mir bleibt fast die Puste weg. Nicht nur, weil sie verdammt gut aussieht, die Doctora, sondern vor allem wegen der antarktischen Temperatur in ihrem Büro. Mag ja für die Arbeit förderlich sein, führt jedoch zunächst zu einer Erkältung und auf mittlere Sicht zu ärgerlichen Gelenksproblemen. Muss ich ihr unbedingt bei Gelegenheit sagen. Eine hübsche schlanke Hand reckt sich mir da entgegen. Wenn der alte Schill noch leben würde, dann würde er jetzt mit baltischer Grandezza einen Handkuss anbringen. Reizendes Begrüßungslächeln, zierliche Figur, dunkles Haar. Sie sehen ja aus wie eine Hiesige, wird man sagen, und sie wird nie wissen, ob das ein Kompliment ist oder das Gegenteil. Etwas blass ist sie, kein Wunder, sie kommt ja aus dem deutschen Spätherbst. Über meinen Unterricht reden wir später, die Doctora und ich. Bis zum Kursbeginn vergehen noch ein paar Monate, und im Augenblick dürfte sie andere Sorgen haben. Ein Haus zu finden, zum Beispiel. Ich biete mich an, ihr dabei zu helfen, schließlich bin ich Makler. Unter anderem. Und dass sie gerne auf mich zukommen kann, wenn es etwas zu dolmetschen gibt, bei den Behörden und so. Ach nein, entgegnet sie, das ist nicht nötig, ich komme ganz gut zurecht mit dem Spanischen. Wie das denn, Sie sind doch Germanistin? frage ich. Sieh da, sie ist jedoch Historikerin im Hauptfach, erfahre ich, und hat über den spanischen Bürgerkrieg promoviert. Spanisch und Italienisch nebenbei, Respekt! Bürgerkrieg und internationaler Krieg, fügt sie hinzu, und ich weiß nicht, ob wir damit recht weiterkommen werden, gesprächsmäßig. Aber keine Sorge, im Augenblick führt sie das Wort, und sie bleibt auch dran. Sie will in der Richtung weiterarbeiten, sagt sie, und zwar über die Emigration vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie hat schon von Villa General Belgrano gehört, dem Ort in der Sierra von Córdoba, wo die Matrosen des versenkten Panzerkreuzers „Graf Spee“ sich angesiedelt haben, das interessiert sie. Darüber können Sie mir sicher erzählen, fügt sie hinzu. Dann macht sie eine kleine Pause und ergänzt mit einem kleinen entschuldigenden Lächeln, bei Gelegenheit, wenn ich hier im Institut aus dem Gröbsten raus bin. Ich verstehe, das war ein dezenter Hinweis auf die knappe Zeit, gut gemacht, bravo. Ich erwähne noch, dass ich ein treuer Besucher der Veranstaltungen bin, und vor allem der Bibliothek. Wissen Sie, ein Leben ohne Ihr Institut könnte ich mir gar nicht vorstellen, sage ich, und sie macht schelmisch mit dem Zeigefinger aber-aber. Es ist nur geringfügig übertrieben, bekräftige ich und lege eine kleine Pause ein, bevor ich „Doctora“ anfüge - ich darf doch Doctora sagen, einverstanden? Das klingt schöner als Frau Doktor. Aber natürlich, sagt sie, Herr von Schill. Einfach Marcos, sage ich, das ist hier so üblich. Oder Markus, wie Sie wollen. Gern, antwortet Sie, und damit haben wir das auch abgehakt.
Dann macht sie einen kleinen Schritt Richtung Tür. Als wir uns die Hand geben, sagt sie noch, dass sie von der Habach erfahren hat, ich würde nach den Ferien wieder den Literaturkurs übernehmen und dass sie sich darüber freut. Und ich werde schnell noch los, dass ihr Vorgänger verdienstvoller Weise die neuen Zeitungen immer sehr schnell gelesen hat und deshalb die Bibliothek von allen ausländischen Kulturinstituten die aktuellste ist. Sie sieht mir nämlich ganz so aus, als würde sie den Spiegel gerne genüsslich in der Badewanne lesen, und das kann dann dauern, bis sie durch ist und ihn an die Bibliothek weitergibt, selbst wenn sie jeden Tag mit dem Blättchen in die Bütt steigen sollte. Drehen Sie die Clim runter, sonst enden Sie eines Tages als rheumatischer Eiszapfen, sage ich noch und seile mich ab.
Sonnenwende
Anschließend bin ich im Generalkonsulat angemeldet. Ich gehe auf dem Boulevard Chacabuco hoch zur Plaza España, vorbei am Palacio Orellano.