Niemand darf zurückbleiben. Vermutlich ist eine halbe Tonne des fürchterlichsten nicht-nuklearen Sprengstoffes in dem Gebäude verteilt. Von den Tätern fehlt immer noch jede Spur.“
Der stellvertretende Direktor des Überwachungsdienstes lehnte sich in der Zentrale in seinen Sessel zurück, als er die Nachricht an seinen Vorgesetzten im Guggenheim-Museum übermittelt hatte. Er selbst war hier sicher und konnte derzeit nicht mehr tun als zu beobachten und bei Bedarf steuernd eingreifen. Und darauf zu warten, dass sein Team ihm die Nachrichten der eingesetzten Sicherheitskräfte zukommen ließen, die sie zuvor von Unwichtigkeiten gefiltert hatten.
Er konnte nicht mehr tun, als auf einer Vielzahl von Monitoren, die aufgrund der feierlichen Wiedereröffnung des Guggenheim in Bilbao eigens in seinem Büro aufgestellt wurden, die Räumung des Museums zu verfolgen. Die Sicherheitsleute gingen effizient und geschult vor, wirkten beruhigend auf die Menschen ein und unterbanden so von Anfang an Panik. Vor dem Gebäude wurden Schaulustige und Medienvertreter zum Verlassen der Umgebung des in bunten Lichts getauchten Metallkomplexes aufgefordert. Die Zeit drängte. Fieberhaft begannen Sprengstoffteams das Gebäude zu untersuchen. Immer in dem Bewusstsein, dass sie nicht mehr viel Zeit hatten.
Dabei wollte er nicht glauben, dass sich eine Bombe in dem Museum befand. Alles war genau untersucht worden. Jeder Besucher, jeder Lieferant, jeder Angestellte. Sprengstoffspürhunde suchten mehrmals jeden Winkel ab. Nichts. Er hätte es nicht für ernst genommen, nicht so ernst, wenn es nicht der Code gewesen wäre. Der Code! Der Code, welcher mit zwei bereits verübten spektakulären Attentaten warnte. Davor warnte, die Drohung nicht ernst zu nehmen.
„Ihr habt noch 19 Minuten. Um 23.20 Uhr muss jeder das Gebäude verlassen haben.“ Der stellvertretende Direktor sprach mit einem Zugführer, der ihm die Räumung der Sonderausstellung meldete. Als der Polizist schnellen Schrittes den Saal verließ und damit auch vom Monitor verschwand, zeigte die Kamera im Hintergrund das „Trojanische Pferd“.
Die Reaktion des Mannes vor dem Monitor war eine Mischung aus Schock und Entsetzen:„Oh, mein Gott!“
Die Dachterrasse der Königssuite bot einen herrlichen Blick auf das Guggenheim-Museum. Der silberne Gebäudekomplex mit seinen geschwungenen Flügeln und Ausläufern erstrahlte im Glanz zehntausender, teils farbiger Glühlampen und riesiger Scheinwerfer, die sich zum Teil überkreuzten und in grellen Säulen in den Himmel strahlten.
Thomas Jensen-Mendez zog die bereits geöffnete Champagnerflasche aus dem Eiskübel und goss die prickelnde Flüssigkeit in ein elegant geschwungenes Glas. Nach einem Blick auf seine Uhr, die 22.28 Uhr zeigte, trank er das Glas aus und füllte es erneut. Zwei blaue Tabletten, die neben dem Eiskübel auf dem Tisch lagen, nahm er auf und schob sie behutsam in seinen Mund. Dann spülte er die viereckigen Pillen mit einem kräftigen Schluck hinunter.
Der Knall der gewaltigen Explosion in dem Museum ließ die Scheiben der Dachterrasse erzittern, als er das Glas gerade ausgetrunken hatte. Kurz darauf breitete sich eine wohltuende Wärme in seinem Körper aus. Eine Wärme, die man allenfalls nachts im Schlaf, während besonderer Träume, spürt. Wenn man sich geborgen und wohl fühlt. Glücklich. Ohne Bedürfnisse. Eins mit dem Universum. Das Champagnerglas, welches aus seiner Hand rutschte und auf dem Fliesenboden der Terrasse zerschellte, nahm er nicht mehr wahr. Mit dem Verlöschen der Scheinwerfer schloss er die Augen.
Kapitel 5
Am nächsten Vormittag.
„Ich definiere unsere Aufgaben folgendermaßen:
Verhinderung neuer Attentate, und
Aufspüren der Täter und Hintermänner.“
Er machte eine demonstrative Pause, um seinen Zuhörern Zeit zum Nachdenken zu geben. „Nicht mehr und nicht weniger. Und bis jetzt sieht es so aus, als würden wir die Stecknadel im Heuhaufen suchen.“
„Ist es denn nicht möglich, dass Jensen-Mendez der Hintermann ist? Ist es denn nicht wahrscheinlich, dass mit seinem Tod auch die Attentate vorbei sind?“ Einer der jungen Agenten meldete sich zu Wort. Er sprach aus, was viele hofften. Doch Hoffnung war etwas für die Öffentlichkeit, die in den Medien stattfand. Genauso wie es Mutmaßungen und Gerüchte waren.
„Ich persönlich glaube nicht daran, dass er der alleinige Hintermann war.“ Es folgte wieder eine kleine Pause. Dann fuhr der fünfundvierzigjährige Agent des ESS fort: „Aber, was ich glaube, ist hier nicht gefragt. Gefragt sind Fakten. Wir müssen herausfinden, welche Motive hinter all diesen Kunstvernichtungen stehen. Wir brauchen Beweise, gleich welcher Art, um die Täter und Hintermänner zu überführen.“
Drei Stunden nach der Explosion in Bilbao übertrug das Europäische Innenministerium dem ESS die Leitung der Ermittlungen im Fall des sogenannten Kunstterrors. Dies bedeutete für alle bisher gebildeten Sonderkommissionen Unterordnung und Zuarbeit, sofortige Weitermeldung neu gewonnener Erkenntnisse und uneingeschränkten Einblick in Aufzeichnungen und laufende Ermittlungen.
Zum Leiter der Ermittlungsgruppe 23-14 wurde der fünfundvierzigjährige Italiener Stefano Rizzardi von der Zentrale des ESS ernannt. Seine Laufbahn begann Rizzardi beim italienischen Militär, in welchem er aufgrund seiner Sprachbegabung und hochgradiger Kombinationsfähigkeit auffiel. Mit 27 Jahren wechselte er in den militärischen Geheimdienst und wenige Jahre darauf wurde er für den neu gegründeten ESS empfohlen. Innerhalb des europäischen Geheimdienstes galt er als Legende, da alle Ermittlungen erfolgreich beendet wurden, in denen er mitwirkte. Jetzt wurde er mit dem 23. Fall des laufenden Jahres in der vierzehnjährigen Geschichte des ESS betraut.
Kurze Zeit nach seiner Ernennung begann er sein Team zusammenzustellen. Er hatte die Möglichkeit, jeden verfügbaren Mitarbeiter des ESS in sein Team zu holen. Als verfügbar galt jeder, der derzeit nicht zu einer Ermittlungsgruppe gehörte oder nach Rücksprache mit anderen Gruppenleitern frei gegeben wurde. Das ESS arbeitete in seiner Personalzusammenstellung hochflexibel. Ermittlungsgruppen wurden laufend erweitert, umgruppiert, neu strukturiert. Die Arbeit zeichnete sich durch Kreativität, Selbständigkeit und von hoher Motivation aus.
Jeder Ermittlungsgruppe wurden zwei stille Beobachter zugeteilt, welche in sämtliche Arbeitsvorgänge Einblick nehmen durften, ohne selbst mitzuarbeiten. Ihr einziger Auftrag war die Rechtmäßigkeit der Arbeit der Ermittlungsgruppe zu überwachen und die Zentrale über alle bedeutenden Vorkommnisse zu unterrichten.
Der einzige Mitarbeiter seines Teams, den sich Rizzardi nicht selbst aussuchen konnte, war der englische Agent Anthony Brown. Als erster, auf „ein mögliches Vorkommnis von besonderer Bedeutung“ angesetzter Agent hatte er seine bisher gewonnenen Erkenntnisse und Informationen an die Ermittlungsgruppe weiterzugeben. Es stand Rizzardi frei, ihn danach aus seinem Team zu entlassen.
„An Fakten haben wir bisher sehr wenig.“ Anthony Brown griff damit die Worte von Rizzardi auf, als er zu einer ersten Zusammenfassung aufgefordert wurde. „Was wir haben, sind die Namen der ausführenden Täter. Diese sind entweder verschwunden oder tot. Wir wissen, was zerstört worden ist, mit welchem Material und welcher Technik. Aufgrund von Kodierungen auf Bekennerschreiben und Telefaxen wissen wir, dass die Anschläge in Amsterdam, Paris und Bilbao im Zusammenhang zueinander stehen.“
Brown machte eine kurze Pause, um Kopien des ersten Bekennerbriefes und der beiden Telefaxe in die Runde zu geben. Die Mitglieder der Ermittlungsgruppe fanden sich in Wien in der nationalen ESS-Zentrale zusammen. Rizzardi bevorzugte Wien wegen seiner relativ zentralen Lage in der Europäischen Union.
„Wenn ich mir das zweite Telefax anschaue, dann wird hier ein weiteres Attentat angekündigt.“ Rizzardi stellte die Bemerkung als Frage an Brown.
„Das ist richtig. Es bedeutet für uns, dass noch mehr Leute hinter den Anschlägen stecken. Diesen Schluss lassen auch die bisherigen Untersuchungsergebnisse zu.“ Als keiner der Anwesenden dazu etwas sagte, fuhr Brown fort: „Die verwendeten Explosivstoffe sind Spezialentwicklungen, welche bisher ausschließlich Sprengstoffexperten des europäischen oder amerikanischen Militärs, beziehungsweise Spezialeinheiten der Polizei zur Verfügung stehen. Die eingesetzte Technik des in Paris verwendeten Rollstuhls ist auf einem Stand der Technik, den selbst unsere Experten erst in ein paar Jahren für