Banken haben die Überweisungen gemäss den gesetzlichen Bestimmungen an die Finanzbehörden gemeldet. Die Daten verschwanden aus dem Netzwerk, das ausschließlich von Banken, Versicherungen und den Finanzbehörden verwendet wird. Die Möglichkeit, gemeldete Daten zu manipulieren, besteht rein theoretisch nur durch die Verwendung von Rechnern der Systemadministratoren. Das Wort `Theoretisch´ bedeutet, dass jede Manipulation von der Software erkannt wird und verschiedenen Sicherheitsabteilungen gemeldet wird. Fakt ist, dass die Daten gezielt gelöscht, besser gesagt unterdrückt wurden, und es niemandem auffallen konnte.“
„Gut, dann werden wir unsere Recherchen auf die Unsichere Zone ausdehnen müssen.“ Den Beschluss fasste Rizzardi. „Derart große Mengen Geld müssen Spuren hinterlassen. Es muss Vereinbarungen über die Verwendung, sowie Treffen und Kommunikation von Beteiligten gegeben haben.“
Er machte eine Pause, bevor jemand weiterreden konnte, hob er kurz die Hand, um zu signalisieren, dass er einen Gedanken gleich aussprechen wollte, an dem er gerade herum formulierte. Für kurze Zeit dachte er daran, die CIA mit einzuschalten. Dann aber ließ er es sein. Es war zu früh. Außerdem sollte es nicht nach einem Hilferuf klingen. Als sich Rizzardi der stummen, erwartungsvollen Zuhörer gegenwärtig wurde, gab er ein kurzes Zeichen, dass sie fortfahren sollten.
Es folgten weitere Berichte und Zusammenfassungen der beteiligten Agenten und Experten. Sie alle stellten sich als Bestandsaufnahmen und Analysen dar. Weiterhin gab es keine Spur von den Hintermännern und den Motiven. Die Codes selber wurden auch einer Analyse unterzogen. Mit Hilfe modernster Rechen- und Chiffrierprogramme wurde versucht eine Bedeutung oder irgendeinen Hinweis aufzuspüren. Die Analysten kamen zum Schluss, dass es sich um rein zufällige Symbolfolgen handelte. Von einem Menschen durchgeführt, nicht von einem Zufallsgenerator. So viel konnten sie feststellen.
Selbst auf dem Kunstmarkt gab es keine Auffälligkeiten vor den Anschlägen. Gemälde von Vincent Van Gogh waren bereits vor dem Attentat auf das Museum in Amsterdam sehr selten und wurden noch seltener gehandelt. Trotzdem wurde der hochkarätige Kunstmarkt von einem eigens dafür geschaffenen Team beobachtet und überwacht. Seit den Anschlägen waren die Preise bekannter und vor allem bereits verstorbener Maler ausgeschlagen, wie die Zeiger seismischer Geräte bei einem Erdbeben. Teilweise wurden die Werke auch unter dem Einstandspreis von ihren Besitzern abgestoßen, weil die Versicherungsgesellschaften astronomische Prämien verlangten oder sich konsequent weigerten, weiterhin die hochgefährdeten Meisterwerke zu versichern.
„Dann müssen wir tiefer gehen!“ Rizzardi vergab seinen letzten Auftrag für heute. „Es muss Parallelen geben zwischen den drei bekannten Tätern. Gemeinsame Bekannte, gemeinsame Vorlieben, gemeinsame Aufenthaltsorte. Irgendetwas muss diese Menschen miteinander verbinden. Irina, kümmere Du Dich darum!“, sagte er zu seiner Stellvertreterin, der Rumänin.
01.20 Uhr in der darauffolgenden Nacht. Rizzardi wurde aus dem Schlaf geläutet. Er hatte ein Zimmer in einem Seitentrakt des Wiener ESS-Gebäudes bezogen.
„Wir haben ein neues Fax! Der Code stimmt mit dem aus Bilbao überein.“ Es war Irina Bogdan. Sie schien rund um die Uhr zu arbeiten. Zumindest konnte man es meinen, weil sie es zur Zeit vorzog, auf einer Couch in ihrem Arbeitszimmer zu schlafen.
„Wo?“, fragte der noch vom Schlaf leicht benommene Gruppenleiter.
„Archäologisches Museum Kairo. Heute um 15.30 Uhr Ortszeit.“
„Ist Kairo schon verständigt?“
„Ja. Das Innenministerium und das Kulturministerium haben dort zeitgleich mit dem Überwachungsdienst in Bilbao das Telefax bekommen. Bilbao hat den Ägyptern die Echtheit des Codes bereits bestätigt.“ Die Rumänin hatte alle Informationen bereit.
„Okay. Ich werde sofort nach Kairo fliegen. Wer ist alles in Wien?“ Natürlich meinte er die Mitarbeiter seines Teams.
„Außer mir ist nur noch Anthony Brown da. Alle anderen sind zu Recherchen unterwegs. Oder haben frei.“
Rizzardi musste schlucken. Erst jetzt wurde ihm wieder bewusst, dass er schlecht eingeschlafen war. Es kam ihm so vor, als hätte sich seine Seele stundenlang dagegen gewehrt einzuschlafen. Er vermisste seine Familie. Er konnte wegen seiner Arbeit, seiner Verantwortung, der Gefahr neuer Attentate nicht nach hause.
„Okay. Brown fliegt mit. Gib der Flugbereitschaft Bescheid.“ Und damit schluckte er seinen Frust hinunter.
Zehn Minuten später stürmte er fertig angezogen mit einem kleinen Aktenkoffer, in dem sich sein Laptop samt Kommunikationsanlage befand, in das Büro seiner Stellvertreterin. Brown wartete bereits auf ihn.
„Kommen Sie mit!“, sagte er zu dem jungen, 28jährigen Agenten, der sich eilig von der Rumänin verabschiedete. Hätte Rizzardi nicht unter dem Druck eines bevorstehenden Anschlages gestanden, hätte er die leise Vertrautheit der Beiden bemerkt.
Seine Stellvertreterin reichte ihm noch schnell eine Kopie des Telefaxes, bevor er hinter Anthony Brown aus ihrem Büro hastete. Im Hinausgehen las er es:
Archäologisches Museum Kairo. Explosion um 15.30 Uhr Ortszeit.
Bestätigungscode: WSFEO)§“3746OLUW. Neuer Code: ZWER0§&4DL830.
Die Flugbereitschaft bestand in Form eines Vertrages mit einem zivilen Flugunternehmen, welches dafür bezahlt wurde, dass ein Kleinjet innerhalb von einer Stunde für den ESS abflugbereit verfügbar war. Auf dem Weg zum Flughafen studierte Rizzardi das Fax, diskutierte darüber mit Brown und machte sich Notizen.
Während das geräuscharme Flugzeug vom Wiener Flughafen startete, gab Rizzardi bereits telefonisch Anweisungen an seine Stellvertreterin. „Stell einen Kontakt zum ESS-Mitarbeiter in Kairo her. Der Sprengstoffexperte soll nach Kairo kommen. Finde heraus, wo das Telefax abgeschickt wurde. Ich brauche noch einen Agenten für Ägypten. In der Deutschen ESS-Zentrale gibt es zwei Agenten, die sich dort auskennen. Versuche einen davon für uns abzuziehen und nach Kairo zu schicken.“
Zwanzig Minuten später schickte ihm die Rumänin die Verbindungsdaten für den ESS-Mitarbeiter in Kairo. Die Daten wurden von ihr aus Sicherheitsgründen chiffriert und auf dem Laptop wieder dechiffriert. Ägypten war ein sogenannter Randstaat. In diesen Ländern arbeiteten die ESS-Agenten verdeckt als Mitarbeiter einer Botschaft Europas.
Randstaaten konnte man auch als Schwellenländer bezeichnen. Im Gegensatz zu den Sicheren Ländern, zu denen die Europäische Union, Nordamerika, Australien und Neuseeland, sowie einzelne Länder in Lateinamerika, Nordafrika und Asien, vor allem Arabien, gehörten, verfügten die Randstaaten über einen niedrigeren Sicherheitsstandard und zahlreiche Schlupflöcher für Kriminelle. Die Randstaaten verfügten im Vergleich zu den Ländern der Unsicheren Zone über stabile Regierungen, gut funktionierende Sicherheitskräfte und eine einigermaßen florierende Wirtschaft. Reisen in die Randstaaten waren günstig und bis auf Kleinkriminalität wie Taschendiebstahl grundsätzlich sicher.
Kurz darauf stand die Bildtelefonleitung zu dem Agenten Rudolf Maybach, der als Wirtschaftsreferent an der Deutschen Botschaft in Kairo tätig war.
„Guten Morgen!“ begrüßte ihn Rizzardi auf Deutsch, eine der Sprachen, welche er beherrschte. „Mein Name ist Stefano Rizzardi, Gruppenleiter 23-14. Geben Sie mir bitte einen Lagebericht.“
„Heute Nacht um 02.12 Uhr Ortszeit erhielten das Innenministerium und das Kulturministerium zeitgleich ein Telefax mit der Bombendrohung für das Archäologische Museum. In Folge der Anschläge in Europa wurde hier bereits der Alarmplan überarbeitet und die Sicherheitsmaßnahmen für das Museum und andere kulturhistorisch wertvolle Plätze verstärkt. Das Innenministerium hat inzwischen angeordnet, dass die wertvollsten Ausstellungsgegenstände aus dem Museum evakuiert, und in einen Bunker der Regierung verfrachtet werden. Militär und Polizei haben begonnen, die betroffenen Stadtviertel abzusichern. Im Museum wird bereits fieberhaft nach Sprengstoff gesucht. Außerdem wurde für Kairo ein Überflugverbot verhängt.“
„Vielen Dank. Veranlassen Sie bitte unsere Abholung. Ich benötige in der Botschaft ein abhörsicheres Büro und eine Liste aller beteiligten Sicherheitsbehörden. Bis nachher.“ Noch müde nutzte er die Zeit des dreistündigen