Frank Strick

Null Jahreszeiten


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fest umschlossen. Er ist der Frau einen Schritt voraus. Er fühlt die Vorfreude auf das, was ihn erwartet. Ich werde dorthin kommen, wo ich hin will, denkt er, und du kommst mit mir, mein Engel. Dennoch, er spürt, dass er nicht sicher ist. Etwas läuft verkehrt.

      „Maria ist ein hübscher Name“, sagt Schleyer, „mein Freund hält mich für schwul.“

      Die Frau sieht zu ihm auf.

      „Hier geht es nicht um dich“, geht Sailor dazwischen und greift nach der Frau. „Ich muss mit dir schlafen, mein Engel.“ Sie zuckt zurück und nickt, ohne dass er es mitkriegt. Engel, er hat mein Engel gesagt. Schleyer beugt sich zu ihm hin. „Sie hat genickt, hast du das nicht gesehen?“

      „Trink dein Bier aus“, gibt Sailor zurück, „sie ist gleich so weit.“

      Ein Küchengehilfe geht durch das Lokal und legt Speisekarten aus. Corinna lässt sich eine geben und steckt sie ein. Sailor nimmt einen Geldschein und zieht ihn am Tresen glatt. Corinna sieht an ihm vorbei und trinkt ihr Glas leer. Der Kellner stellt ihr ein neues hin. Schleyer gesellt sich zu dem Mann am Flipperautomaten.

      „Willst du Geld?“ Sailor sieht keine Reaktion und ist irritiert. Nach seiner Erfahrung lässt die Aussicht auf Geld jeden reagieren. „Jede Frau ist eine Hure“, setzt er ihr auseinander, „selbst eine Dame ist eine Hure.“ Er zieht einen weiteren Schein am Tresen glatt. „Es gibt Frauen, die damenhafte Getränke trinken, ohne dass sie Damen sind, aber es gibt kein Getränk, das nicht damenhaft wird, wenn es von einer Dame getrunken wird.“ Er legt die geglätteten Scheine übereinander. „Zwei Monatsmieten für eine Dame.“ Die Frau sagt nichts. Weder mit ihrer Stimme, noch mit ihrem Körper.

      „Es gibt Damen“, fährt Sailor fort, „die ein Getränk für immer damenhaft machen, und das Getränk ist selbst dann damenhaft, wenn es nicht getrunken wird.“ Verdammt, denkt Sailor, was rede ich hier, und warum rede ich hier, sie reagiert kein bisschen. „Nimm zum Beispiel Greta Garbo, sie hat den Martini zum damenhaftesten Getränk gemacht, ja ohne Greta Garbo wäre der Martini längst ausgestorben.“ Es ist ein Bluff. Er hat keine Ahnung, was Greta Garbo getrunken hat. Er sieht sich um. Es sitzen inzwischen einige Gäste an den Tischen. Sie sind festlich gekleidet. „Du bist eine Dame“, sagt er, auch wenn er sich dessen nicht mehr sicher ist, „und dein Getränk ist ein damenhaftes Getränk.“ Sie nickt, und dieses Mal sieht er es, auch ohne dass er darauf geachtet hat. Der Küchengehilfe ist auf dem Weg zurück in die Küche und sieht fragend zu ihr hin. „Was ist?“, geht ihn Sailor an, „scheiß auf Greta Garbo, und essen tun wir auch nichts.“ Sie lächelt. Links unten ist der Eckzahn mit Gold überkront. Sie nimmt Handtasche und Mantel. „Los jetzt, bevor ich es mir anders überlege.“ Er hat keinen Mantel. Er liebt die Kälte. Sie macht ihn stark und trennt ihn auf eine Art von den Mitmenschen, wie es die Hitze nie tun könnte. Er zahlt und lässt ein paar Münzen als Trinkgeld zurück. Auf dem Weg nach draußen macht er sich an Schleyer ran. Schleyer spielt den Flipperautomaten. „Wir sehen uns morgen, und ruf die beiden an und sag ihnen für heute ab, kapiert?“ Schleyer sieht kurz hoch und wendet sich dann wieder dem Automaten zu, und sein Freund weiß, dass er die Sache regeln wird.

      Auf der Straße bleiben sie stehen und drehen sich zur Eingangstür hin, wie um sich von dem Lokal und von dem, was sie mit dem Lokal verbindet, zu verabschieden. Corinna zieht ihren Mantel über. Sie spürt den Wodka im Blut. Ihre linke Hand hat Schwierigkeiten, in den Ärmel zu finden. Sie schließt die Augen und holt tief Luft, und als sie die Augen wieder öffnet, ist die Konzentration zurück. Auf das, was getan werden muss. Sie greift in die Tasche und schaltet das Handy aus. Sailor beschließt, den Wagen stehen zu lassen. Er zieht einen Parkschein für zwei Stunden und legt ihn unter die Windschutzscheibe. Corinna beobachtet ihn.

      „Zwei Stunden?“

      „Wir gehen zu Fuß“, erklärt Sailor, „ist gut für den Kreislauf.“

      Auf dem Gehsteig klebt Herbstlaub. In den Schaufenstern hängt Weihnachtsschmuck. Es ist dunkel, auch wenn es in der Stadt nie wirklich dunkel wird. Die Luft trägt die Feuchtigkeit und die Kälte der Nacht. Er geht schweigend und versucht nicht, sich ihr anzunähern. Das kommt später. Er greift in die Hosentasche und hält die Patronen fest umschlossen. Hamburg wird noch ein paar Stunden warten müssen.

      Sie folgt ihm so zielstrebig, dass ihn bald das Gefühl überkommt, von ihr geführt zu werden. Er geht langsamer. Sie passt sich seinem Tempo an. An der nächsten Kreuzung hält er inne und wartet darauf, dass sie den Weg wählt. Sie wählt ihn nicht. Ihre Augen sind geradeaus gerichtet. Er geht weiter. Sie bleibt an seiner Seite, und ihn überkommt erneut das Gefühl, von ihr geführt zu werden.

      Nach zwei weiteren Blocks bleibt er in der Skalitzerstraße Höhe 32 stehen. Corinnas Blick scannt die Fassade. Seine Finger suchen ihre Hand. Die Hand zuckt zurück. „Ein Versuch“, sagt er, „hat noch keinem geschadet.“ Sie ballt die Hand zur Faust. Dunkle, tiefhängende Wolken kündigen Schnee für den kommenden Tag an. Eine Flussmöwe fliegt über das Dach. Im obersten Stock steht eine Pflanze auf dem Fensterbrett, Wasser tropft auf den Gehsteig, ein Windstoß zerrt an ihrem Mantel. „Flussmöwe“, sagt Corinna.

      „Ein Vogel wie jeder andere“, sagt Sailor, „braucht Luft nicht nur zum Atmen.“ Sie steigen über das Treppenhaus in den zweiten Stock. Er bleibt vor einer der Türen stehen, die von einem schmalen Gang rechtsseitig abgehen. Sie prägt sich ein, dass es die dritte ist. Er macht eine Weile rum, bis der Schlüssel seinen Weg in das Schloss findet. Sie sieht eine Matratze auf dem Boden des einzigen Zimmers. Die Tapete ist von den Wänden gerissen, der rohe Putz mit Kalk überstrichen. Einen Schrank gibt es nicht. Es gibt das Fenster, durch das man die Bahngleise und einen Kirchturm mit Kirchturmuhr sieht. Es ist 17 Uhr 15. Da, wo der Fensterrahmen eingelassen ist und die Feuchtigkeit sich ihren Weg in das Zimmer sucht, ist die Wand mit Schimmel überzogen. Die U-Bahngleise sind auf Stützen gebaut und thronen über der Straße. Er folgt ihrem Blick. Er mag die Gleise. Er mag das Rumoren der Züge, das sich steigert, wenn sie näher kommen und jedes Wort überflüssig macht, sobald sie auf der Höhe des Fensters sind, und das dann wieder verebbt und schließlich mit einem Kreischen erstirbt, wenn die Züge am Görlitzer Bahnhof halten. Er mag das Vibrieren der Fensterscheibe und seine eigene Gestalt, die sich zitternd darin spiegelt. Er sagt: „Die älteste U-Bahn in unserem Land.“

      „Ich mag den Lärm.“ Er hat das Gefühl, dass sie gerade etwas gesagt hat, was von Bedeutung ist. „Wegen der Stille“, fügt sie hinzu, „die sich dahinter verbirgt.“ Sie deutet auf eine Tür, die am Ende des Ganges als einzige linksseitig abgeht. „Ist das die Toilette?“

      „Das ist die Toilette“, bestätigt Sailor, „sie ist heute gereinigt worden.“

      „Wann?“ Corinna spürt Panik.

      „Heute Nachmittag“, gibt er zurück, „sie ist sauber. Auch für eine Dame wird sie es tun.“

      „Eine Kloschüssel ist eine Kloschüssel“, sagt Corinna lauter als nötig und sucht Halt an der Wand. Wichtig ist, dass du einen Schritt voraus bist, und dass der Gegner davon ausgeht, dass er derjenige ist, der den Schritt voraus ist, denn dann bist du zwei Schritte voraus, deinen und den vom Gegner, denn der geht in die falsche Richtung. Sie geht auf die Tür zu. Der Boden schwankt unter ihren Füßen. Sie zieht die Tür hinter sich zu und schiebt den Riegel vor. Ihre Hände zittern. Sie fällt auf die Knie und greift unter das Waschbecken. Ihre Finger fliegen über die Keramik, verheddern sich in Schläuchen, ein Schwamm fällt zu Boden. Sie umschließt mit der Linken das rechte Handgelenk. Spürt den Puls, schließt die Augen, macht weiter, führt die rechte Hand mit der linken. Findet die Schachtel mit den Patronen. Arbeitet sich hoch und stützt sich am Waschbecken ab. Lässt Wasser in ihre hohle Hand laufen und wirft es sich ins Gesicht. Sieht sich im Spiegel. Das Wasser tropft vom Kinn. Sie glättet mit dem Daumen die Falte auf der Stirn. Die Panik lässt nach. Sie nimmt den Revolver aus der Handtasche und sieht, dass Sailor die Patronen entfernt hat. Die Panik kommt zurück. Sie zwingt sich, tief und regelmäßig zu atmen. Die Luft strömt in den Körper, aus dem Körper, rein, raus, rein, raus. Er hat die alten Patronen. Sie hat die neuen Patronen. Sie ist den Schritt voraus. Sie füllt die Kammern auf, entsichert den Revolver, legt ihn zurück in die Tasche, zieht die Spülung und tritt auf den Gang. Neben