Frank Strick

Null Jahreszeiten


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machen will.“

      „Wenn man ein anständiger Mensch ist“, ergänzt Corinna, „sind Sie ein anständiger Mensch?“

      „Ich würde es gern ungeschehen machen.“ Schleyer starrt auf das Tattoo. „Es war Sailors Idee, und die von Peter, aber der war anders.“ Er stiehlt sich davon, aus seiner Verantwortung, aber wenn ich ihm genug zusetze, dann packt er aus, egal, wessen Idee es gewesen ist, und seine Verantwortung, die wird er nicht loswerden, ja ich knall ihn ab, und dann kann er mal sehen, wie das ist. Sie sagt: „Es ist nicht verwerflich, jemanden zu beschützen.“

      „Wer Schutz braucht, wird angegriffen“, sagt Schleyer, „da geht es schon mal los.“

      „Angriff und anschließender Schutz. Ausgehend von denselben Personen, ist es das?“

      „Es war Sailors Idee.“

      „Und die von Peter?“

      „Und die von Peter.“ Corinna zieht seinen Arm in das Licht der Straßenbeleuchtung. Bär, Zunge, weinroter Kreis, schlecht gemacht, das war's. Sie deutet auf die rechte Hand. „Sailor hat die gleiche Narbe.“

      „Eine defekte Ankerwinde, das Stahlseil ist beim Ablassen von der Winde gesprungen und hat sich ins Fleisch geschnitten. Erst hat es ihn und dann hat es mich erwischt.“

      „Da lässt sich ein Mann von überraschen und dann noch einer?“

      „Es gibt Situationen, da muss der Anker auf Grund, selbst wenn es zwanzig Matrosen ihre Hand kostet.“

      „Jetzt hab ich Sie wohl bei Ihrer Ehre“, stellt Corinna fest, „bei Ihrer Matrosenehre.“ Sie kickt eine Bierdose auf die Straße. „Sie haben sich gekannt, bevor Sie Matrosen waren?“

      „Wo haben Sie das her?“ Schleyer deutet auf die Dose.

      „Vom Schulhof, von den Schulhofjungs.“

      „Sie machen einen auf Jungs“, stellt Schleyer fest, und dann: „Wir sind hier aufgewachsen.“ Sie sind am Heinrichplatz, Kreuzberg 36. Bis auf die Menschen, die rauchend vor den Kneipen stehen, in denen das Rauchen untersagt ist, sind die Straßen leer. Die Luft ist feuchtkalt. Sie sind beide in Mäntel gehüllt. „Hier?“ Corinna deutet auf ein Tätowierstudio auf der anderen Straßenseite. „Da zum Beispiel?“

      „Hier in Berlin.“ Schleyer klopft zwei Zigaretten aus einer Schachtel. „Schöneberg.“ Er hält ihr eine hin und zündet sie an. „Was lief verkehrt mit Sailor?“

      „Pimpern, Zigarette, Haustür.“ Corinna stößt den Rauch aus ihren Lungen. „Männer denken mit dem Schwanz.“ Sie wirft die Zigarette in den Rinnstein. „Und das gefällt mir nicht.“

      „Ich sage Ihnen jetzt etwas, und auch das wird Ihnen nicht gefallen.“ Corinna wartet auf mehr. „Sailor schert sich einen Dreck, um die Welt und so weiter, und ihr Stolz ist da als Beispiel zu nennen, und jetzt sage ich Ihnen noch etwas: Mir gefällt das auch nicht.“ Er erschrickt, doch dann fühlt es sich gut an. Er ist seinem Freund in den Rücken gefallen, und es ist ihm egal.

      „Sie machen auf Frauenversteher?“ Sie muss vorsichtig sein. Der Mann ist einer von ihnen. Auch, wenn sie sich nicht an ihn erinnern kann. Auch, wenn sein Verhalten nicht darauf schließen lässt. Auch, wenn sie keine Angst vor ihm hat. Ihr Blick deutet auf seinen Oberarm. „Sie gehören dazu, Schleyer.“ Schleyer antwortet nicht. Sie sieht ihn an, ohne dass ihr Blick etwas hergibt. Vielleicht ist es, weil ich getötet habe, dass ich die Angst nicht spüre, vielleicht ist es das, was das erste Mal aus einem macht. Man verliert die Angst, und der Rest des Lebens ist ein Trauerspiel. „Mögen Sie Kirchen, Schleyer?“

      „Ich mag Friedhöfe, aber am liebsten mag ich das Meer.“

      „Egal jetzt, weiter.“ Sie geht über den Heinrichplatz Richtung Michaelskirche. Ihre rechte Hand steckt in der Handtasche und umschließt den Revolver. Schleyer folgt ihr, und sie achtet drauf, dass er sich links von ihr hält. Sie wendet ihr Gesicht ab, wenn sie anderen Passanten begegnen. „Flüsse?“

      „Wenn sie mich an das Meer erinnern würden, dann würde ich sie wohl mögen, aber das hat noch keiner geschafft.“ Er zieht den Ärmel nach unten. „Mississippi, der könnte es schaffen.“

      Sie umklammert den Revolvergriff, spürt die Riefen in der Handinnenfläche. „Wir gehen zum Friedhof.“

      „Auch gut“, sagt Schleyer, und als sie vor der Michaelskirche stehen: „Diese Kirche hat keinen Friedhof.“

      „Ja wo ist er denn hin?“

      „Zu kompakt.“ Schleyer gräbt mit einer Drehbewegung der Verse den Stiefelabsatz in den Boden. Er bückt sich, zerreibt die lose Erde zwischen Daumen und Zeigefinger und führt sie an die Nase. „Mangelnde Durchlüftung verlängert den Verwesungsprozess.“ Corinna steht hinter ihm. „Und das führt zur Verunreinigung des Grundwassers, wussten Sie das?“ Sie will den Revolver ziehen. Die Situation ist günstig. Etwas hält sie zurück. „Die meisten wissen es nicht, und ich wette, dass es so mancher Friedhofsgärtner nicht weiß.“ Erst die anderen, und dann der Mann, der dich zu den anderen führt. Sie sagt: „Ich muss telefonieren.“ Sie entfernt sich, bis sie außer Hörweite ist und tippt die Nummer ein. „Mutter, ich habe den Koch. Er macht scharfe Senfsoßen und mag Friedhöfe, aber am meisten mag er das Meer.“

      „Hast du ihn erledigt?“

      „Er ist anders.“

      Sie hört die Mutter schwer atmen. „Du erledigst ihn, hörst du, und tu es gründlich.“

      „Er kann mich zu den anderen führen.“

      „Dann mach ihm Angst, hörst du, er braucht Angst um sein Leben, und dann wird er reden.“

      „Ich glaube nicht, dass er sich viel aus seinem Leben macht.“ Corinna hört, wie die Mutter ein Streichholz entflammt. „Und aus unserem Leben, was hat er daraus gemacht?“ Die Mutter inhaliert. Corinna sieht sie vor sich, in der Küche am Esstisch, den Aschenbecher in Reichweite, im Rücken Herd und Boiler, jenseits des Tisches die Balkontür, die zum Hinterhof rausgeht, in dem die Mülltonnen stehen. „Er hat einen Peter erwähnt.“

      „Ich bin schlecht mit Namen, aber da war einer, vielleicht, dass er Peter hieß, und der war wirklich anders. Hat Geld gehabt, ein schönes Haus in Hamburg, und eine Nazifamilie.“

      „Der Mann war ein Rechtsradikaler?“

      „Das waren sie alle, es war modern, aber dieser Mann war politisch.“

      „Und du?“

      „Ich war ein Kind.“

      „Was ist es, dass du dich nicht an die Namen erinnerst?“

      „Es tut weh.“

      „Wie willst du dich von etwas befreien, an das du dich nicht erinnerst?“

      „Manchmal, da weiß ich sie ja.“

      „Schreib sie auf.“

      „Versuch ich, aber sobald ich es versuche, sind sie weg oder woanders. Ich gehe jetzt trainieren.“

      „Du bist wieder am Trainieren?“

      „Wir brauchen Kraft, meine Liebe, wir sind im Krieg. Ich bin seit sechs Monaten dran.“ Corinna stellt sich das schmerzverzerrte Gesicht beim Stemmen der Hanteln vor, die Entschlossenheit, wenn die Mutter das nächste Gewicht auf die Stange schiebt. „Zum Henker mit der Liebe, Mutter.“

      „Red nicht so mit mir, meine süße Liebe, ich bin deine Mutter.“

      „Klara, das ist deine Liebe.“ Es kommt aus ihr raus wie alles andere. Sie hat es nicht kommen sehen.

      „Lass deine Schwester aus dem Spiel, hörst du?!“

      „Und du, sprich du nicht von Liebe.“

      „Kann jeder zu sagen, wie er will, aber lass deine Schwester aus dem Spiel, hörst du?!“

      „Danke