Frank Strick

Null Jahreszeiten


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Das elektrische Schwinggerät macht 3000 Stiche pro Minute. Die Farbe wird mit einem Farbblock von sieben Nadeln in die zweite Hautschicht injiziert. Es wird davor gewarnt, selber Hand anzulegen. Sie betrachtet die Motive. Es gibt Old School, Asiatisch, Schriften, Fantasy, Blüten, Keltisch, Christlich, Tribals. Den Berliner Bären gibt es nicht. Sie geht weiter, tritt nach einer Zigarettenschachtel. Wer Schutz braucht, wird angegriffen, da geht es schon mal los. Sie wählt Julias Nummer und legt auf, bevor die Freundin abhebt. Das Telefon klingelt.

      „Du hast mich angerufen.“

      „Es ist nichts.“

      „Wieso hast du mich angerufen?“

      „Lass gut sein.“ Corinna bleibt vor einem Schaufenster stehen, in dem ein Weihnachtsmann den Kindern einen Sack voll Holzbausteine vor die Füße schüttet. Die Kinder machen große Augen.

      „Du rufst an, und dann ist da nichts und ich soll es gut sein lassen?“

      „Ich wollte deine Stimme hören.“

      „Schön, da ist sie, sie ist ein bisschen erkältet.“

      „Wer Schutz braucht, wird angegriffen, da geht es schon mal los.“

      „Ist alles in Ordnung?“

      „Wirklich, ich wollte nur deine Stimme hören.“

      „Das sagst du, damit ich es gut sein lasse.“

      Vor dem Schaufenster steht ein Stuhl. Corinna setzt sich, spürt augenblicklich die Kälte, die durch den Stoff ihrer Kleidung dringt und hat augenblicklich Angst um ihre Blase. Sie legt auf und geht weiter. Erreicht die Oranienstraße. Das Telefon klingelt erneut. Es ist ihre Mutter. „Und?“

      „Ich werde sie morgen in dem Restaurant treffen.“

      „Was ist mit dem Koch?“

      „Er liebt das Rauschen der Bäume.“

      „Bäume interessieren mich nicht. Du hast ihn erledigt?“

      „Ich komme über ihn an die anderen ran. Und dann spiele ich sie gegeneinander aus, ja genau.“

      „Du bist ein Kind.“

      „Die können so etwas am besten.“

      „Kinder?“ Sie hört die Mutter lachen. „Kinder?!“ Das Lachen entfernt sich, kommt wieder. „Mutter?“ Corinna sieht auf das Display. „Mama?“ Es ist 21 Uhr 30. „Mama?!“ Sie fährt herum. Ein Zeitungsverkäufer parkt sein Moped am Eingang zur U-Bahn und trägt die Zeitung von morgen in das Untergeschoss. Er macht sich nicht die Mühe, den Motor abzustellen. Die Abgase lassen die Luft kondensieren. Eine Frau stochert mit einem Stock im Mülleimer. „Mutter?“

       „Kinder“, meldet sich die Mutter zurück, „tun das, was sie tun sollen, hörst du, das, was man ihnen sagt, dass sie tun sollen.“ Sie macht eine Pause. Betonungspause, denkt Corinna, je länger sie dauert, desto weniger darf ich's verbocken. „Ich will, dass du sie erledigst, hörst du, und ich will, dass du es gründlich tust.“

      „Morgen“, sagt Corinna, „ich treffe sie im Radieschen, oder denkst du, dass es zu gefährlich ist?“

      „Du bist den Schritt voraus, Liebes.“ Sie würde sich wünschen, dass die Mutter ihr zur Vorsicht rät, wenigstens das. „Er hat gesagt, dass sich die Erle bei Südwind anhört wie ein Streichorchester.“ Die Mutter zündet sich eine Zigarette an. Inhaliert. Drückt die Zigarette aus und zündet sich eine neue an. „Zum Henker mit dem Streichorchester. Ich gehe jetzt trainieren.“

      „Morgen Abend, Mutter, im Radieschen.“

      „Ich bin bei fünfunddreißig Kilo, meine Liebe, ich komme in Fahrt, deine Mutter ist eine Macherin.“

      „Vergiss nicht die Tabletten.“ Corinna legt auf. Ihr kommt sein Zimmer in den Sinn. Sie ruft noch einmal an. „Er liegt in dem Zimmer.“ Die Mutter atmet schwer. „Du hast mich aus dem Rhythmus gebracht.“

      „Er ist noch im Zimmer, Mutter, und der Koch weiß, dass ich mit ihm dort war.“

      „Du hättest den Koch erledigen sollen.“ Die Mutter nimmt den Hörer in die andere Hand. „Erwartest du, dass ich da reingehe und den Kerl raushole? Ist es das, was du von mir erwartest?“ Corinna antwortet nicht. „Wer hat hier wen gemacht, meine Liebe?“

      „Du hast Klara gemacht, und dann hast du mich gemacht.“

      „Du sollst deine Schwester aus dem Spiel lassen.“

      „Du hast mich gemacht.“

      „Vergiss das nie.“ Die Mutter lässt ein Glas volllaufen. „Du tust, was ich dir sage.“

      „Er kauft mir die Seminararbeit nicht ab.“

      „Diese Arbeit macht die Sache hieb- und stichfest, hörst du, so, dass ihr keiner etwas anhaben kann.“

      „Hokuspokus.“

      „Hokuspokus“, bestätigt die Mutter, „die Welt will getäuscht werden.“

      „Und wenn sie es mir nicht abnehmen?“

      „Wenn sie es dir nicht abnehmen, dann deshalb, weil sie es nicht verstehen, hörst du, und das ist gut, denn wenn jemand etwas nicht versteht, dann wird er es nicht hinterfragen, er wird es so akzeptieren, wie es ist, ich kenne diese Matrosen, sie ziehen den Hut vor Dingen, die sie nicht verstehen.“

      „Ist gut, Mutter.“

      „Und wenn du noch einmal von den Tabletten anfängst, dann muss ich mir etwas überlegen.“

      „Zweiter Stock, Mutter, dritte Tür rechts.“ Corinna legt auf. Sie geht die Adalbertstraße runter und kauft einem Dealer am Kottbusser Tor eine Tageskarte für den Innenraum ab, die um diese Uhrzeit für zwei Euro hergeht. Sie steigt in die U-Bahn, sucht sich ein leeres Abteil, setzt sich ans Fenster und beobachtet die Gebäude, die an ihr vorbeihüpfen. Sie erinnert sich an einen türkischen Imbiss im Erdgeschoss, kann ihn aber nicht ausmachen. Am Görlitzer Bahnhof steigt sie um und fährt in die entgegengesetzte Richtung zurück. Auf der dritten Fahrt sieht sie den Imbiss. Dann glaubt sie, das Fenster zu seinem Zimmer zu erkennen. Vom Zimmer selber sieht sie nichts. Sie wird es bei Tageslicht noch einmal versuchen. Sie steigt am Kottbusser Tor aus, kauft eine Flasche Rotwein, fährt mit dem Taxi nach Hause, legt sich in die Badewanne und lässt sich volllaufen.

      07. Mittwoch, 25.12.2013 |

      07. Mittwoch, 25.12.2013 |

      Corinna schreckt hoch. „Hast du etwas gesagt?“ Der Kater starrt ihr in die Augen. „Was siehst du, Konrad, das sind die Fenster zu meiner Seele.“ Die Temperatur des Wassers ist weit unter die ihres Körpers gesunken. „Siehst du meine Seele, Konrad, ist sie tot?“ Sie steigt aus der Wanne, trocknet sich ab und geht ins Bett. Der Kater rollt sich neben ihren Füßen zusammen. Vier Stunden später klingelt das Telefon.

      „Hast du geschlafen?“

      „Was willst du?“

      „Deine Stimme hören?“

      „Ich bin verabredet, und ja, es sind drei Männer.“ Julia macht ein Geräusch, das nach Lachen klingt. „Und Konrad?“ Corinna geht in den Flur. Der Kater hat das Futter nicht angerührt. „Zwei Tage, dann erzähle ich dir alles.“

      „Und dann ziehen wir zusammen, du und ich?“

      „Abwarten, was passiert.“

      „Deine Wohnung ist groß. Ich mag deine Wohnung. Und was soll schon passieren?“

      „Alles Mögliche, und das hat dich dann am Wickel.“ Corinna steckt das Telefon in die Ladestation. Aussöhnung, die passiert, genau, kann ein jeder zu sagen, wie er will. Jemand hat einen Anruf hinterlassen. Es ist die Frau Mama. Du erledigst die Sache im Restaurant, und ich mach das Zimmer sauber, hörst du. Eine Pause. Schläfst