Frank Strick

Null Jahreszeiten


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sich, dass die Revolvertrommel bestückt ist. Sie sieht über die Schulter zu Schleyer hin, der mit dem Rücken zu ihr dasteht. Sie tritt mit gezogener Waffe von hinten an ihn heran. „Wissen Sie“, sagt Schleyer, ohne dass er sich zu ihr umdreht, „auf dem Boot ist es wie im Krieg.“ Sie zielt auf seinen Nacken. „Man hält zusammen, ob man will oder nicht, weil man zusammenhalten muss, und um die Sache erträglich zu machen, nennt man es Freundschaft.“

      Sie steckt die Waffe weg. „Interessant.“

      „Für die Humanbiologin?“ Sie antwortet nicht. „Es ist eine böse Freundschaft, Frau Humanbiologin, in einer bösen Welt, einer Welt, die zusammenschweißt, was nicht zusammengehört.“ Er dreht sich zu ihr um. „Was macht eine Frau wie Sie mit einer Waffe?“ Sie spürt das Adrenalin, das ihr in den Kopf schießt. „Sie hatten im Radieschen einen Revolver in Ihrer Handtasche. Sailor hat ihn gefunden und glaubt, dass ich es nicht mitbekommen habe.“ Corinna starrt den Mann an. „Radieschen“, sagt der Mann, „das Lokal, in dem Sie sich heute begegnet sind?“

      „Er hat meine Handtasche durchsucht?!“ Du musst Zeit gewinnen, jetzt, sofort.

      „Als Sie auf der Toilette waren. Er hat die Patronen entfernt.“

      „Er hat sich an meinen Sachen zu schaffen gemacht?!“

      „Es fällt mir schwer zu glauben, dass Sie ihm so etwas nicht zugetraut hätten.“

      Sie hört das Rauschen ihres Blutes, bewegt den Kopf, das Blut bewegt sich mit, das Rauschen verdichtet sich, löst sich auf, kommt wieder, dann steht da ein Satz: Dieser Mann geht davon aus, dass der Revolver nicht geladen ist, du bist den Schritt voraus.

      „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“

      „Die Waffe ist ein Familienstück und eher was für Karnickel.“

      „Sie sollten trotzdem vorsichtig sein mit so etwas.“

      „Mit so etwas, ja genau.“ Das Rauschen ist weg oder woanders, die Gedanken sind wieder klar. Der Mann rät dir zur Vorsicht, und das tut keiner, der sich bedroht fühlt. Ihre Hand steckt in der Tasche und hält die Waffe. „Fühlen Sie sich bedroht?“

      „Sollte ich?“

      „Ach.“ Sie fällt in einen Zustand der Erschöpfung. Sie spürt den Alkohol und will mehr davon. Ihr Blick wird glasig. „Er hat mich gepimpert, und wo ist er jetzt hin?“ Erst das hier, und dann kannst du dich volllaufen lassen. „Und Sie?“ Sie überkommt das Bedürfnis, den Mann zu verletzen. „Sind wohl einer, der mit dem Kopf denkt?“

      „Ich kann auch anders“, sagt Schleyer, ohne dass es bösartig klingt.

      „Und die anderen?“

      „Können nur anders.“ Er deutet auf die Handtasche. „Seien Sie vorsichtig. Mit der Waffe und mit Männern wie Sailor.“

      „Ich studiere den Mann an sich. Und das Verhältnis der Männer untereinander.“

      Sein Lächeln wirkt aufgesetzt. „Den Mann an sich.“ Er hört auf zu lächeln. „Sie erwarten von mir, dass ich Ihnen das abnehme?“

      „Ich wollte Ihren Freund studieren, und dann hat sich etwas anderes ergeben, ja warum denn nicht, er ist doch Ihr Freund?“ Pass auf, was du sagst, hörst du, und pass auf, wie du es sagst, genau, sag, was du willst, aber sag es so, dass er es dir abnimmt. „Vielleicht, dass Sie sich doch bedroht fühlen?“

      „Ja wie hätten Sie es denn gerne?“

      „Ein Mann, der sich von einer Frau bedroht fühlt.“

      „Da müssen sie schon mehr auffahren.“ Er setzt sich auf die Mauer, die die Kirche umgibt. „Sie wollen uns verstehen?“ Corinna setzt sich neben ihn und hält einen Meter Abstand. „Los jetzt, erzählen Sie. Von der Schutztruppe und Dingen, die man ungeschehen machen will.“ Schleyer greift nach seiner Hand und massiert die Narbe. „Weihnachten 1973. Wir haben ein Geschäft aufgezogen und waren zu jung, um zu begreifen, wie so etwas läuft.“

      „Wie jung, welches Geschäft?“

      „Wir waren dreizehn und haben es neben der Schule betrieben. Das erste Mal auf dem Weihnachtsmarkt. Zwei haben Weihnachtsclown gespielt, zwei abkassiert.“ Corinnas Blick fordert mehr. „Die beiden sind Bilderbuchclowns, waren sie damals schon. Der Lange und der Dicke.“

      „Und Sie waren der, der abkassiert hat?“

      „Sailor und ich haben den Volksfestbesuchern die Taschen leergeräumt, bis wir an den Falschen geraten sind. Hausarrest, ein bisschen Prügel, ein Jahr später haben wir Ware verschoben. Anlagen, Fahrräder, alles. Bis wir wieder an den Falschen geraten sind.“

      „Mit vierzehn?“

      „Wir sind im Heim aufgewachsen. In Schöneberg.“ Es klingt nach Rechtfertigung.

      „Und da darf man Sachen machen, die andere Jungs nicht machen dürfen?“

      „Im Heim, da musst du dich durchsetzten, wenn du nicht vor die Hunde gehen willst.“

      „Was kam danach?“

      „Es hätte uns eine Lehre sein sollen.“

      „War es aber nicht.“

      „Sailor hatte eine neue Idee, und dann kam Peter dazu.“ Er winkt ab. „Schluss jetzt.“

      „Ist es die Sache mit der Schutztruppe, ist es die?“ Bohr ein bisschen weiter, nur noch ein bisschen, gleich ist er soweit, er wird dir die Schweinerei beichten, und dann knallst du ihn ab, komm nur her du, Mama wird zufrieden sein.

      „Ein Jahr später hat uns Sailor einen Job auf dem Schiff verschafft.“

      „Und jetzt sind Sie wieder hier“, sagt Corinna, und dann: „Die Sache mit der Schutztruppe, Schleyer, los jetzt.“

      Schleyer starrt in den Himmel. „Warum geht eine Frau wie Sie mit einem wie Sailor mit?“

      „Er ist ihr Freund, und Sie reden gerade so, als wenn er es nicht wäre.“

      „Sie müssen sich vor diesen Männern in Acht nehmen.“

      „Und vor Ihnen?“

      „Früher, da hätten Sie sich vor mir auch in Acht nehmen müssen. Heute bin ich Gärtner.“

      „Die Gärtnerei ist ein brutaler Beruf.“

      Ihn fröstelt. Er zieht den Mantel enger an seinen Körper. Er spürt die Narbe an der Hand. Er steckt die Hand in die Manteltasche. „Wenn ich in einem Baum stehe und seine Äste schneide, dann weiß ich, dass es das Beste für den Baum ist.“ Er sieht zu einem Baum hoch, der selbst die Kirche überragt. Über seiner Krone reißt die Wolkendecke auf. Die Zweige und Blätter, die der Herbst dem Baum gelassen hat, sind im nächtlichen Licht gut zu erkennen. Schleyer erhebt sich und tut einen Schritt zur Seite, um sich besser zu positionieren. Ein Windstoß fährt durch die Krone. „Erle“, sagt Schleyer, „ist gut zu besteigen, und bei Südwind hört sie sich nach einer Unzahl von Streichern an.“ Er sieht ihren zweifelnden Blick. „Südwind ist hier selten, und entsprechend hat der Baum sein Blattwerk ausgerichtet.“ Corinna starrt in die Baumkrone und versucht vergeblich, Nuancen in dem Geräusch auszumachen. „Es dauert, bis man es hört“, erklärt Schleyer, „und hier unten kommt man nicht weit.“

      „Jeder, wie er will“, sagt Corinna, und dann versucht sie es erneut: „Was ist passiert, bevor Sie angeheuert haben? Was ist hier in Berlin passiert?“ Schleyer starrt Richtung Osten. „Es wird Winter.“ Sie sieht ihm hinterher und denkt sich, dass das Matrosendasein vielleicht eine schöne Sache wäre, wenn da nicht die anderen Matrosen wären. „Der Winter kommt aus dem Osten und wird nicht haltmachen, bevor er das offene Meer erreicht.“ Er dreht sich zu ihr hin. „Sie sollten sich jetzt einen Ort suchen, der nach Weihnachten aussieht, und morgen Abend, wenn Sie uns dann immer noch verstehen wollen, dann kommen Sie ins Radieschen.“ Corinna wendet sich ab. „Zum Henker mit der Jahreszeit, Hauptsache, das Wetter passt.“ Sie geht. Seine