Sie bestellt das Essen. „Sailor ist pleite?“
„Mag sein.“
„Wer in so einem Loch wohnt und nicht pleite ist, mit dem stimmt etwas nicht.“
„Sie sollten aufpassen, dass Sie nicht ausfallend werden.“
„Es ist auch nicht gerade der Platz, wo man eine Frau hinführt.“
„Es gibt sicher Schlimmeres“, sagt Schleyer, „eine Schiffskoje wäre da als Beispiel zu nennen.“
„Sein ganzes Gerede von der Damenhaftigkeit“, sagt Corinna, und plötzlich überkommt sie eine Wut, auf Sailor, Schleyer, das Studium, die ganze Welt, in die sie sich da hat reinziehen lassen, eine Alibiwelt, sie erhebt die Stimme, der Kellner wirft ihr einen Blick zu, „und dann ein Loch wie ein Puff, ja wahrscheinlich war es genau das, ein Puff für die Dame.“
„In Ordnung.“ Schleyer hebt beschwichtigend die Hände. „Er ist pleite. Und jetzt lassen Sie es gut sein.“
„Und was macht einer, der pleite ist?!“ Sie gibt dem Kellner durch eine Geste zu verstehen, dass sie keine Szene machen wird, nicht am Heiligabend, und sie dämpft ihre Stimme, doch das, was sie sagt, das dämpft sie nicht. „Billige Flittchen pimpern tut der, und vielleicht andere krumme Geschichten?!“
„Sie gehen zu weit, liebe Frau.“
„Zum Henker mit der Liebe“, macht Corinna weiter, und die Lüge setzt ihr zu, und auch das macht sie wütend, ein Verrat an sich selber ist diese Lüge, sie macht sie zum billigen Flittchen, diese Lüge, „gepimpert in einem dreckigen Puff.“ Sie greift nach der Handtasche, ihre Finger krallen sich in den Stoff, die Stickerei schneidet sich ins Fleisch, sie wirft den Kopf zurück und starrt an die Decke. Herrje, auf was hast du dich da eingelassen, Verhaltensmuster in der Humanbiologie, und wenn das einer nicht begreifen will, dann knall ihn ab, komm nur her du.
„Scheint Ihnen ja mächtig zuzusetzen“, sagt Schleyer, der die Situation beruhigen will und nicht weiß, wie er das anstellen soll, „pimpern, wer sagt denn so etwas.“
Sie lacht, kurz und hysterisch, lässt den Kopf fallen, ihr Blick ist jetzt hart. „Kann ein jeder sagen, wie er will.“
„Vorher, als ich hier aufgeschlagen bin und Sie waren schon da, da kamen Sie anders daher, Sie waren ...“ Er sucht nach dem passenden Ausdruck. „... bescheiden. Sie waren bescheiden.“ Er lacht. „Stand Ihnen gut, aber diese Tour hier steht Ihnen auch nicht schlecht.“ Sein Lachen wirkt gekünstelt. „Ich will Ihnen etwas sagen.“ Er sieht an ihr runter und denkt sich, dass die Frau ein Kaliber ist und mächtig reif für ihr Alter, sie denkt und sagt, was sie für richtig hält, und er begreift nicht, wie sich so eine auf einen wie Sailor einlassen kann. Er sagt: „Wenn Sie sich auf so einen wie Sailor einlassen, dann kommen Sie mit Bescheidenheit nicht weit.“
„Wie sieht es bei Ihnen aus?“
„Ich bin anders. Mag sein, dass wir uns ähnlich sehen, aber ich sag Ihnen, dass wir es nicht sind.“
„Und was hatten Sie sich zu erzählen?“
„Sie meinen heute am frühen Abend?“
„Ich meine heute am frühen Abend.“
„Wir waren verabredet“, weicht Schleyer aus, „und dann kamen Sie ins Spiel.“
„Sie wollten gemeinsam Flipper spielen“, fragt Corinna, „und andere männliche Dinge tun?“
„Es ging um das Geschäft.“ Er sieht sie abschätzend an. „Was wollen sie von einem Mann wie mir, wenn der Ihnen nicht einmal einen Bloody Mary spendiert?“
„Es geht um Sailor, und um Männerfreundschaft. Sie sind doch Männerfreunde?“ Er antwortet nicht. „Ich habe Sie beobachtet, wie Sie miteinander umgehen.“
„Die Humanbiologin“, sagt Schleyer ohne Boshaftigkeit und lässt seinen Blick durch das Lokal schweifen. Die meisten Tische sind wieder mit Gästen besetzt, die genug vom Rumstehen haben und solchen, die genug von Zuhause haben und neu dazugekommen sind. Der Koch wird seinen Feierabend verschieben müssen. Schleyers Blick ist der Blick eines Mannes vom Fach, und dann bleibt dieser Blick an einer Schiefertafel hängen, die neben der Küchendurchreiche angebracht ist. „Ach ja.“ Der Blick wechselt von der Tafel zur Speisekarte auf dem Tresen. „Hier stehen nur die Standardgerichte drin.“ Er deutet auf die Schiefertafel. „Ich empfehle die Pute in scharfer Senfsoße.“
Corinna starrt auf die Tafel. Sie winkt dem Kellner. „Die Pute, wenn sich das noch einrichten lässt.“
„Aber ja“, sagt der Kellner, „Pute statt Kalb.“
„Noch viel los in der Küche?“, fragt Schleyer aus purer Höflichkeit.
„Zweiter Schub, jetzt kommen die, die nichts auf Weihnachten geben.“ Das Kinn des Kellners weist Richtung Küche. „Du kannst ab morgen aushelfen, bis zum Neujahrsabend. Der Koch braucht ein paar Tage Pause.“
„Werde es mir überlegen.“
„Pute in scharfer Senfsoße, wer macht denn so was?“ Corinnas Hand greift nach dem Tresen. Die tiefe Falte auf der Stirn ist eine Idee tiefer geworden. „Kennen Sie den Koch?“
„Ich habe ihn angelernt. Die Pute hat er von mir.“
„Sie sind Koch? Ja leckst du mich am Arsch.“ Der Satz kommt aus ihr raus wie jeder andere Satz.
„Im Winter“, scherzt Schleyer, „da braucht ein Garten keinen Gärtner, und jetzt scheint die kalte Jahreszeit ja mächtig Einzug zu halten.“
Corinna winkt erneut dem Kellner. „Einen Bloody Mary auf Eis.“ Sie nimmt eine Flasche und eine Pipette aus ihrer Tasche. Es ist eine etikettfreie 50-Milliliter-Flasche aus dunkelbraunem Glas. Sie schüttelt die Flasche. Die Flüssigkeit bildet Schlieren an der Innenwand. Der Kellner stellt ihr den Bloody Mary hin.
„Warum sind Sie nicht bei Ihrer Familie“, will Schleyer wissen, „da, wo Sie hingehören?“
Sie saugt mit der Pipette ein paar Tropfen von der Flüssigkeit ab und lässt die Tropfen in das Getränk fallen. „Meinen Vater kenne ich nicht, meine Schwester ist tot, meine Mutter woanders.“ Sie rührt mit dem Strohhalm um, nimmt einen Schluck und schiebt ihm das Glas hin. „Familie kann täuschen, und dann hat sie dich am Wickel.“ Sie beobachtet, wie die Flüssigkeit durch den Halm nach oben wandert. Als das Getränk seine Lippen erreicht, reißt Schleyer die Augen auf. Er stößt das Glas von sich. „Teufel auch.“
„280.000 Scoville, wissen Sie, was das heißt?“
„Teufel auch, ich bin Koch.“ Schleyers Lippen brennen, seine Zunge brennt, es brennt der ganze Rachen. Corinna steckt die Flasche weg. „Sie sind also auf scharfe Senfsoßen spezialisiert?“
06. Dienstag, 24.12.2013 |
06. Dienstag, 24.12.2013 |
„Die Freundschaft unter Matrosen ist böse.“ Sein Unterkiefer zittert, die Augen irren umher, der Mann steht unter Anspannung. Sie haben das Radieschen verlassen. Schleyer greift nach dem rechten Ärmel seines Mantels, schiebt ihn den Ellenbogen hoch, knöpft den Hemdsärmel auf, zerrt am Stoff, bis der Oberarm frei liegt. Sie ist nicht überrascht, die Tätowierung zu sehen. Sie ist überrascht, dass er sie ihr zeigt. Und dass sie keine Angst spürt. „Wer hat das gemacht?“
„Tut nichts zur Sache.“
„Einer, der nichts davon versteht, würde ich meinen.“ Die Ränder des Tattoos sind ungenau. Die Farben gehen ineinander über, die Geometrie des Kreises ist schlampig.
„Wir hatten unsere eigene Schutztruppe. Es war Sailors Idee.“
„Sein Tattoo ist genauso schlampig.“
„Böse Freundschaft und böse Rituale, und wer einmal dabei ist, der kommt