Frank Strick

Null Jahreszeiten


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der Waffe in die Seite.

      „Lange her“, flüstert er, „noch bevor ich das erste Mal zur See bin.“

      „Wie lange?“ Er antwortet nicht. „Wann bist du das erste Mal zur See, Sailor?“ Er drückt seine Hand auf den Pressverband. „Was tut das jetzt zur Sache.“ Er hustet, lacht, hustet Blut, sieht die Waffe. „Du hältst ihn verkehrt, mein Engel, zu verkrampft, dein Finger wird sich einen Bluterguss holen.“ Seine Hand fällt zur Seite. Der Pressverband verrutscht. Corinna springt zurück. Ein einzelner Blutstrahl spritzt bis an die Decke. Seine Hand zieht den Verband zurück über die Wunde, ein Reflex, der nach dem Leben greift. Er schließt die Augen. Corinna sieht auf den leblosen Körper. Blut findet seinen Weg an dem Verband vorbei und läuft in das Laken. Sie nimmt die Patronen von der Matratze, sieht sich um, sucht die abgefeuerten Projektile, findet nur zwei von zwölf, vier stecken im Holzboden fest. Sie beugt sich über ihn. Es wird sich nicht vermeiden lassen, wenn sie Gewissheit haben will. Sie will Gewissheit. Sie greift nach seinem Handgelenk und wendet sich ab. Das Fensterglas zittert. Eine U-Bahn hüpft vorbei. Sie tastet nach seinem Puls. Findet ihn nicht. Sie sucht, bis sie sicher ist, dass es keinen Puls mehr gibt. Sie wirft die Hand von sich und betrachtet sein Gesicht. Es ist das Gesicht eines Mannes, der seine Jugend hinter sich hat. Er muss über fünfzig sein. Sie hat ihn sich jünger vorgestellt. Es ist ein markantes Gesicht. Kinn, Wangenknochen und Nase stechen hervor. Der wild gewachsene Vollbart kann die Markantheit nicht verstecken. Unter anderen Umständen hätte sie ihn wohl für attraktiv gehalten. Die Wunde hat aufgehört zu bluten. Sie richtet sich auf und ruft ihre Mutter an.

      „Wo bist du?“

      „In seinem Zimmer, ich werde jetzt das Adressbuch suchen.“

      „Hast du die Speisekarte?“ Corinna nimmt das Faltblatt aus der Handtasche und liest: „Chicorée in Schinkenmantel, Hackbraten, gefüllte Kalbsbrust, Linsen mit Backpflaumen ...“

      „Hör zu“, unterbricht die Mutter, „er serviert Obst wenn überhaupt, dann als Nachtisch. Seine Spezialität sind scharfe Senfgerichte.“

      „Da war noch ein Henry Schleyer, aber ich habe ihn nicht erkannt.“

      „Henry Schleyer?“, wiederholt die Mutter, „ich bin schlecht mit Namen.“

      „Mama, ich habe Sailor erschossen.“

      „Wir sind im Krieg, meine Liebe, so ist das, und jetzt suchst du, und das gründlich. Namen, ein Adressbuch, irgendwas. Und dann gehst du zurück in das Lokal und siehst zu, dass du mehr über diesen Henry rauskriegst.“

      „Ich habe auch Sailor nicht erkannt.“

      „Du hast es verdrängt, meine liebe Süße, mach dir keine Sorgen.“

      „Mutter?“

      „Was noch?“

      „Mein Dickdarm ist mit dem Bauch verwachsen.“

      „Wenn, dann ist es mein Dickdarm, der mit dem Bauch verwachsen ist.“ Die Mutter stutzt. „Woher hast du das?“

      „Von Sailor.“

      „Sailor ist tot.“ Die Mutter legt auf. Corinna sucht und findet den Berliner Bären auf der Innenseite seines rechten Oberarms. Es ist kein schönes Motiv. Der Bär streckt ihr seine rote Zunge entgegen und ist in einen weinroten, kreisförmigen Hintergrund gebettet. Auch die Platzierung lässt darauf schließen, dass es sich nicht um eine Tätowierung handelt, mit der sich Sailor schmücken wollte. Eher ein Zeichen. Ein Adressbuch findet sie nicht.

      05. Dienstag, 24.12.2013 |

      05. Dienstag, 24.12.2013 |

      Schleyer hat den Flipperautomaten aufgegeben und sitzt am Tresen. Die Gäste sind mit dem Essen fertig und zusammengerückt. Ein paar haben sich an die Bar begeben, der Koch hat die Küche seinen Gehilfen überlassen und sich dazu gesellt. Es ist heimelig, kann aber jederzeit kippen. Die Gäste haben kein Zuhause. Das macht sie zu Raubtieren.

      „Wo ist Sailor?“

      „Bei seiner Familie?“

      „Sailor hat keine Familie.“

      „Na, dann wird er wohl in seinem Loch sein, ohne Familie.“

      „Haben Sie wirklich gedacht, er hätte Familie?“

      „Kann ein jeder denken, wie er will.“ Corinna stellt die Handtasche auf einen Barhocker. Schleyer sieht sie an. Sie hält dem Blick stand. Er will wissen, was passiert ist. Er will wissen, ob sein Freund dich gevögelt hat. Er will wissen, wo sein Freund jetzt ist. Sie sagt: „Pimpern, Zigarette, Haustür. Sie wissen, wie das ist.“

      Schleyer stößt ein Lachen aus, das nach Husten klingt. „Und Sie, was ist mit Ihrer Familie?“

      Corinnas Hand wischt das Thema aus der Welt. Die Finger bleiben in den Schlaufen der Tasche hängen und fegen sie vom Hocker. Sie beeilt sich, die Utensilien einzusammeln. Lippenstift, Geldbeutel, Schlüssel, Handy, Schmerztabletten. Der Revolver ist nicht dabei. „Sie kennen sein Loch?“

      Er schüttelt den Kopf. „Nichts für eine Dame?“

      „Ein Loch wie im Krieg.“ Corinna beschließt, die Sache diesmal anders anzugehen. Die Menschen lassen sich besser beobachten, wenn man ihrem Blick nicht ausweicht. „Ihr Freund hält Sie für schwul?“

      „Es ist der Bart, den er für schwul hält.“

      „Sie und er, Sie sehen sich ähnlich, aber Ihr Bart, der wirkt gepflegter.“

      „Stört Sie sein Bart?“ Er streicht sich über das Kinn. „Ein sekundäres Geschlechtsmerkmal.“

      „Ich studiere Humanbiologie.“ Jetzt ist es raus, du hast den Köder gelegt, für einen Beweggrund, der mit Vögeln nichts zu tun hat. Lass den Köder liegen, ein Alibi für den Notfall, er wird sich an keine Frau ranmachen, die sein Freund für sich klargemacht hat, Ehre unter Männern, große Wer-Fickt-Wen-Ehre, Männer denken mit dem Schwanz.

      „Humanbiologie?“

      „Humanbiologie, Verhaltensmuster.“

      „Verhaltensmuster?“

      „In der Humanbiologie.“

      „Hat Sie überhaupt irgendetwas an ihm gestört?“ Schleyer verrät mit keiner Geste, was er von ihrem Studium hält. „Ich bin keiner, der Ihnen einen ausgibt und keiner, der einen Bloody Mary zu schätzen weiß.“ Sein Blick erfasst den zweiten Kellner, der im Lokal nach dem Rechten sieht. Geschirr abräumen, Speisekarten einsammeln, Aschenbecher wechseln, Kerzen anzünden. „Und daran kann ich nichts Verkehrtes finden.“

      Corinna geht auf die Bemerkung nicht ein. „Sie kennen sein Zimmer also nicht?“

      „Sag ich doch.“

      „Wie lange kennen Sie Sailor?“

      „Wer will das wissen?“

      „Egal jetzt.“ Sie winkt dem Kellner und bestellt Kaffee. „Schwarz.“ Und an Schleyer gewandt: „Er war Matrose?“

      „Er hat Ihnen nichts von sich erzählt?“

      „Es hat sich nicht ergeben“, weicht Corinna aus.

      „Sieht ihm ähnlich, dass er nichts von sich hergibt.“

      „Er war also Matrose?“

      „Sailor wird seinen Grund haben, wenn er Ihnen nichts erzählt.“

      „Wird er wohl“, stimmt ihm Corinna zu, „und jetzt frage ich Sie.“ Sie zieht einen Barhocker heran und setzt sich. „Er war also Matrose?“

      „Ja“, gibt Schleyer nach, „wer will das wissen?“

      „Und jetzt ist er kein Matrose mehr, so, wie Sie keiner mehr sind?“ Schleyer antwortet nicht. „Kennen Sie sich aus der Zeit,