an und trinkt. An dem Gesicht, das er macht, erkennt sie, dass es Schnaps ist. Sie zieht den Revolver. Ohne Sailor aus den Augen zu lassen, greift sie hinter sich. Der Schlüssel steckt im Schloss. Sie dreht ihn um und vergewissert sich, dass abgesperrt ist. Sailor lächelt. Sie tut einen Schritt auf ihn zu, steht jetzt vor ihm, ein schönes Bild, der Rock, hochhackige Schuhe, enge Bluse, sie legt den Mantel ab.
„Warum?“
„Weißt du noch, wie du Engel zu mir gesagt hast?“ Ihre Stimme ist kein bisschen mehr schrill.
„Es gibt viele, zu denen ich Engel gesagt habe.“ Er erkennt sie nicht. Er weiß nicht, um was es hier geht. „Mein Weihnachtsengel“, sagt er, „komm her und schlaf mit mir.“ Er drückt die Zigarette auf dem Holzboden aus und hält ihr die Flasche entgegen. „Es ist kein angemessenes Getränk, weder für Engel noch für Damen, und ein Glas habe ich auch nicht, aber es ist alles, was ich dir anbieten kann.“
Sie sagt: „Ich knall dich ab. Wie oft kommen die Züge?“
Er holt die Patronen aus der Hosentasche und legt sie nebeneinander auf die Matratze. „Um diese Uhrzeit kommen sie alle paar Minuten.“ Er nimmt eine Patrone zwischen Daumen und Zeigefinger und rollt sie vor und zurück. „Was macht so eine wie du mit einem Revolver, Kind, noch dazu mit einem, der nicht geladen ist, noch dazu heute, am Heiligabend, kein Abend wie jeder andere.“ Die Angst, denkt er, wo ist sie bloß, ich kann sie nicht spüren. Ein Zug kündigt sich an. Sie hebt den Revolver und hält ihn mit beiden Händen und ausgestreckten Armen auf Brusthöhe. Sie sieht durch das Fenster auf den Zug. Der Rumpf eines Mannes und ein paar Hinterköpfe hüpfen vorbei. Sie zielt auf sein Knie. Er lacht und spielt mit den Patronen, die Zähne weiß, der Bart blond, die Augen blau, auch die Augen lachen. Sie schießt und trifft den Oberschenkel. Sein Schrei mischt sich mit dem Rattern des Zuges. Ein roter Fleck auf der Matratze wird schnell größer. Sie hat eine Arterie verletzt. Er presst eine Hand auf die Wunde. „Was soll das?“ Zwischen den zusammengebissenen Zähnen kommt seine Stimme kaum durch.
„Weißt du noch, wie dein Schwanz meinen Unterleib blutig gestoßen hat?“
„Es wird wohl deine Blutung gewesen sein.“ Seine Stimme kommt stoßweise.
„Kleine Mädchen haben keine Blutung.“ Ein weiterer Zug fährt vorbei. Sie schießt, ohne zu zielen. Die Kugel bohrt sich in den Boden. Holz splittert. „Sag, dass du es noch weißt!“
„Deine Angst“, sagt er, „ich kann sie nicht spüren.“
„Angst lässt sich verstecken.“
„Deine Stimme ...“
„Wird wohl so sein, dass ich nervös war, und jetzt, jetzt knall ich dich ab.“
„Die elende Stadt“, sagt er, „zu viele Ecken und Kanten für einen, der auf dem Wasser zuhause ist.“
„Sag, dass du es noch weißt!“
„Wird wohl so sein, dass ich sterbe“, sagt er, „warum also sollte ich lügen?“ Er erinnert sich. Es ist lange her. Die Eltern durften nichts wissen. Der Vater hat es trotzdem gewusst. Es war sein Taubenschlag. Er muss es gewusst haben. Das kleine Mädchen ist groß geworden. Er sieht sie an. Die Frau ist zu jung, um damals das kleine Mädchen gewesen zu sein. Er versucht, nachzurechnen und gibt den Versuch wieder auf. Das Kreischen des Zuges lässt ihn wissen, dass er im Görlitzer Bahnhof einfährt. Er presst die Hand auf die Wunde. „Woher hast du die Waffe?“ Corinna sieht auf die Waffe in ihrer Hand. Es ist ein Revolver der Marke Smith & Wesson. Er hat einen kurzen Lauf und eine Trommel, die acht Patronen fasst. „Kaliber 22“, sagt Sailor, „eher was für Karnickel und Ratten.“ Corinna zielt, bis Kimme und Korn eine Linie bilden. Sie fixiert einen Punkt oberhalb seiner Nasenwurzel. Sie lässt den Fixpunkt über seinen Körper wandern. Die Augen, den Brustkorb, die Stelle, wo sie sein Herz vermutet. Sie führt den Lauf nach unten, bis er auf seine Weichteile zeigt. „Die Waffe macht das, was wir ihr zugedacht haben.“
„Wir?“ Sailors Kräfte schwinden. Er muss die Blutung stillen, wenn er eine Chance haben will. „Eine Kleinmädchengang?“
Sie lässt die Waffe sinken. Er stirbt. Es gibt keinen Grund, es ihm nicht zu sagen. „Familienbetrieb, die Frau Mama lässt grüßen.“
Sailor wischt sich den Schweiß von der Stirn. Sie hat sich nicht gewehrt, hat alles mitgemacht, Herrgott, warum wehrt sie sich jetzt? Er zerrt das Laken von der Matratze, reißt mit den Zähnen einen Streifen weg und verbindet das Bein. Er blickt sich um, greift nach seinem Tabakbeutel, legt ihn auf die Wunde und schnürt ihn mit einem zweiten Streifen fest. Ein Pressverband, der ihn womöglich über die kommenden Stunden rettet. Corinna lässt ihn machen. Die Blutung lässt nach. Er sieht zu ihr auf. „Marianne?“ Auch die Mutter kann er in ihr nicht erkennen. Er versucht, sich zu erinnern, doch alles, an was er sich erinnert, ist der Geruch ihrer Haare, die immer gerochen haben, als wäre sie gerade aus der Dusche gestiegen, selbst in dem verstunkenen Taubenschlag taten sie das. Er kämpft gegen die Bewusstlosigkeit an. Ein neuer Schmerz holt ihn zurück. Ein Zug fährt vorbei. Sie hat ihm eine Kugel in den Bauch gejagt, kontrolliert jetzt die Kammern, füllt Patronen nach, lässt mit einer schnellen Bewegung des Handgelenkes die Trommel zuschnappen, schreit gegen den Lärm an: „Kapierst du, was ich mit der Stille meine, die sich hinter dem Lärm verbirgt?!“ Sie zielt auf sein Geschlecht und schießt. „Scheiß auf Psychologie und Humanbiologie.“ Sie zielt erneut und schießt. Scheiß auf hieb- und stichfest, scheiß auf eure Verhaltensmuster, ich knall euch alle ab, und dafür brauche ich kein Alibi, Männer denken mit dem Schwanz. Sie zielt und schießt, findet in den Rhythmus, es kommt ein zweiter Zug, aus der anderen Richtung, und da kommt noch einer, Herrje die ganzen Züge, sie schießt, bis die Trommel nichts mehr hergibt. Die Kugeln verfehlen ihr Ziel. Seine Hand zittert, ihre Hand zittert, er greift nach dem Schnaps. „Humanbiologie?“
„Sag, dass du es noch weißt!“
Einen Scheißdreck werde ich tun, denkt Sailor und nimmt einen Schluck, ich sterbe, und dieser Dreckskerl von einer Frau hat mich reingelegt. Er liegt da und trinkt und sucht eine Lösung und weiß, dass er keine finden wird. „Du scheißt auf die Humanbiologie?“
„Mein Studium“, sagt sie, „ich studiere dein soziales Verhalten.“
Einen Zug noch, vielleicht auch zwei, dann wird es vorbei sein, denkt er, aber ich werde nicht tun, was sie von mir verlangt, und wenn es das Letzte ist, was ich tue. „Komm her.“ Seine Stimme ist kaum mehr zu hören. „Komm her und lass mich deine Haare riechen.“ Sie wendet sich ab. Er sieht die Gelegenheit und versucht, sich aufzurichten, doch er ist zu schwach. Er sinkt zurück auf die Matratze. Das Loch in der Bauchdecke ist winzig, ein Kleinkaliberloch, kreisrund, blutrot, er presst die Hand darauf und spürt das Pulsieren des Blutes. Nie warst du hilflos, in deinem ganzen Leben nicht, und jetzt bist du es, und das bedeutet, dass du stirbst. Na, überlegt er weiter, du wirst in einer elenden Absteige verrecken, ein schweres Los für einen Matrosen, aber letztendlich ist es egal, denn als toter Matrose bist du nichts weiter als ein toter Matrose. Er schüttet den Schnaps über die Wunde. „Nimm einen Schluck“, sagt er, „wir werden verrecken, du und ich, oder ich an dir, und das sollten wir begießen, weil es nicht oft vorkommt und somit eine Gelegenheit ist, die wir uns nicht entgehen lassen dürfen.“
Dann kommt der Schmerz. Er hat sich nie vor Schmerzen gefürchtet und immer über die Menschen gelacht, die das tun, doch jetzt weiß er, dass es einen Schmerz gibt, über den man nur lachen kann, wenn man ihn nicht kennt. Ihm bricht mehr Schweiß aus. Ein Schleier legt sich vor seine Augen. „Du hast dich nicht gewehrt.“
„Kleine Mädchen wehren sich nicht.“
Sailor starrt durch den Schleier hindurch die Frau an. „Hast mich reingelegt, aber mit den anderen wirst du es schwerer haben.“ Ein Blitz durchbricht den Schleier. „Wie geht es deiner Verdauung?“
„Verdauung?“
„Wollten damals den Dickdarm rausnehmen.“
„Ja wo ist er denn hin?“
Er versucht, sich aufzurichten und fällt abermals zurück. Er winkt die Frau zu sich. Sie beugt