Magdalena Pauzenberger

Feuerglimmen


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den anklagenden Blick kaum zu ertragen, sinkt immer weiter in sich zusammen. So habe ich den Alten noch nie gesehen und hätte mir dieses Bild auch nie vorstellen können.

      »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie oft ich tatsächlich mit dem Gedanken gespielt habe, mir einen Dolch ins Herz zu rammen, um still zu verbluten.«

      »Du hättest es tun sollen«, zischt Valentin durch zusammengebissene Zähne. Entsetzt keuche ich auf. Das kann nicht sein Ernst sein.

      »Wie kannst du nur …« Doch beide meiner Tischnachbarn ignorieren mich.

      »Nein«, erwidert Silva. »das wäre zu einfach gewesen. Schlichtweg feige. Ich sollte für meine Taten büßen. Und das tue ich am besten, wenn ich mich jeden einzelnen Tag an alle Gräuel und meine Schuld erinnere, die mich von innen heraus zerfressen, und ich mich dazu zwinge, damit zu leben.«

      »Und doch sitzt du hier, in deiner gemütlichen Hütte, schlürfst Tee und lässt deinen Vater weiterhin das Leben von Kindern stehlen. Deinen Vater! Ich glaube dir immer noch nicht. Warum solltest du denn bitte ein Greis sein? Silva war nur wenige Jahre älter als ich. Er müsste jetzt vielleicht etwas über dreißig sein. Aber nicht älter.« Die Kälte in Valentins Stimme lässt auch seine Iriden gefrieren. Bevor ich weiß, was ich da eigentlich tue, strecke ich meine Hand nach ihm aus und versuche ihn davon abzuhalten, von seinem Hass verschlungen zu werden.

      »Der Tod nimmt von jedem eine Bezahlung mit sich. Das wurde mir zumindest immer gesagt. Bei dir ist es das Eis, bei mir ist es Lebenszeit. Doch anstatt sie mir zu stehlen, war es wie bei einer Droge: Ich merkte erst, wie sehr sie mich kaputt macht, als ich sie nicht mehr zu mir nahm. Ich hatte mich entschlossen, nicht mehr zu töten, zu fliehen. Und die Entzugserscheinungen begannen. Nach einigen Tagen war das Schlimmste überstanden, dachte ich zumindest. Doch eine Nebenwirkung blieb bis jetzt: Meine Lebenszeit rinnt mir wie Sand durch die Finger. Nicht nur mein Körper altert zu schnell. Auch mein Geist. Und doch verbindet uns wahrscheinlich mehr, als dir lieb ist. Was mein früheres Leben betrifft: Ich weiß, dass das alles mit nichts zu entschuldigen ist. Doch ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wie ich etwas ändern sollte. Bis ich einfach blindlings davon gelaufen bin wie ein Feigling. Doch jetzt habe ich vielleicht die Möglichkeit dazu, ein klein wenig Rechenschaft abzulegen.« Ohne, dass jemand fragen muss, deutet er auf mich und setzt sofort eine Erklärung nach. »Du bist etwas Besonderes, Kindchen. Und ich werde dir helfen, dass du das erkennst. Außerdem sollst du dein volles Potential ausschöpfen, was nicht ganz ungefährlich werden könnte. Doch ich denke, dass ich genau der Richtige bin, um dich auszubilden.«

      »Du wirst ihr kein Haar krümmen, sie keiner Gefahr aussetzen. Und vor allem wirst du sie niemals berühren. Niemals wieder schüttelst du ihre Hand, berührst ihren Arm und wenn sie sich verletzt, dann verarzte ich sie, hast du mich verstanden?!«

      Der Alte ist gar nicht alt, sondern ein fast weißhaariger Dreißigjähriger und Valentin hat nichts Besseres zu tun, als sein nicht vorhandenes Revier zu markieren. Wann ist mein Leben bloß so kompliziert geworden?

      »Können wir bitte einfach mit dem Training beginnen? Es ist noch nicht einmal Mittag und mir ist schon wieder sehr danach zumute, mich unter einer Decke zu verkriechen und den restlichen Tag zu heulen. Wir sollten also mein letztes bisschen Willenskraft nicht noch weiter strapazieren.«

      Silva nickt lediglich konzentriert, während Valentin ihn gedanklich wahrscheinlich gerade ausweidet. Ich weiß nicht genau, was früher zwischen den beiden vorgefallen ist, oder was Silva so viel schlimmer als die anderen preaditii iuveni macht, aber ich will gerade gar nicht weiter darüber nachdenken.

      »Also, zuerst werden wir uns darum kümmern, dass du geistig auf Durchzug schalten kannst. Nicht dein Geist, sondern dein Herz soll dich leiten. Vielleicht hast du bislang gedacht, dass du eine geistige Gabe trägst, aber es ist ziemlich sicher eine emotionale.« Ich bin mir nicht ganz sicher, was das alles bedeuten soll. Das steht mir scheinbar auch ins Gesicht geschrieben, denn wieder ist es Valentin, der geduldig zu erklären beginnt. »Es gibt vier Typen von Gaben. Physische, geistige, sinnliche und emotionale. Und bevor du gleich rot wirst: Mit sinnlich ist schlichtweg gemeint, dass sie einen oder mehrere der Sinne betreffen. Physische Gaben sind, denke ich, selbsterklärend – man kann schnell laufen, ist außergewöhnlich stark oder geschickt. Geistige Gaben sind um einiges seltener als physische oder sinnliche, sie ermöglichen es, Gedanken zu formen, zu verändern oder für kurze Zeit sogar einzuflößen. Doch nein: Gedanken zu lesen ist noch nie jemandem gelungen. Und dann gibt es noch emotionale Gaben. Grundsätzlich. Nur kenne ich keine einzige Person, die so eine Gabe besitzt oder jemanden kennt, der jemanden kennt, der diese Gabe besitzt. Zumindest kenne ich bis auf dich niemanden – falls das alles so stimmt. Es gibt Geschichten darüber, Legenden, über starke Brüder, die Gefühle sogar verändern konnten. Doch keiner weiß, wie viel Wahres dran ist, oder wie es funktioniert. Aber unser Freund hier scheint sich trotzdem wie ein Profi auf diesem Gebiet zu fühlen.« Abschätzig schnaubt er, was mich augenblicklich an einen wütenden Stier erinnert.

      »Okay …«, versuche ich das Gesagte in mein Hirn einzubrennen. »Wenn ich also eine emotionale Gabe besitze … und sie nicht mit dem Kopf steuere, sondern mit dem Herzen … wie soll ich dann überhaupt irgendwie aktiv steuern, was passiert? Ich kann ja nicht mal meinen Herzschlag beruhigen, wenn ich unnötig nervös werde, wie soll ich dann eine verdammte Gabe kontrollieren können?«

      Verzweiflung macht sich in mir breit. Ich fühle mich vollkommen überfordert und wünsche mir gerade so sehr die tröstenden Worte meiner Mutter, die mir sagt, dass ich alles schaffen kann. Wie oft hat sie mich aufgebaut, wenn ich mich unfähig und von meinen ungewissen Zukunftswünschen erschlagen fühlte. Schmerzlich wird mir bewusst, wie sehr mir meine Familie fehlt. Mamas tröstende Nähe, Papas schützende Arme … Und schnell kommen auch Schuldgefühle in mir auf, weil ich mich dabei ertappt habe, dass es in letzter Zeit tatsächlich Momente gegeben hat, in denen ich so viel über mein verzwicktes Verhältnis zu Valentin und die Bürde dieser neuen Gabe nachgedacht habe, dass ich schlichtweg keine Zeit für andere Sorgen gefunden habe. Dafür schlingt sich das Heimweh nun wieder unerbittlich um mein Herz.

      Ich versuche noch, es zu verhindern, doch schon bildet sich ein Kloß in meinem Hals, der mir das Herunterschlucken der aufsteigenden Tränen erschwert. Doch jetzt ist keine Zeit für Gefühle. Ich muss trainieren, wenn ich auf Dauer überleben will.

      »Alles okay, Marlena?« Valentin mustert akribisch mein Gesicht, als versuche er, alles darin zu lesen. Auch Silva blickt mich besorgt an, jedoch bei weitem weniger auffällig. Ich nicke mit einem gezwungenen Lächeln.

      »Ja, alles gut. Ich musste mich nur kurz daran erinnern, dass mein Kopf frei sein soll und es niemandem hilft, wenn ich mir ständig Sorgen mache.«

      Valentins raue Handfläche streicht über meinen Unterarm und verursacht eine kribbelnde Wärme, dort, wo er mich berührt hat. »Wir bekommen das schon hin. Keine Angst.«

      Für einen Moment meine ich, Liebe in seinem Blick zu lesen, doch im nächsten Moment sehe ich darin nur reine Zuversicht und schüttle über mich selbst den Kopf. Ich sehe auch nur das, was ich sehen will. Doch will ich das überhaupt? Seine Liebe? Ich bin mir nicht sicher.

      »Sollen wir die Trainingsstunde lieber auf den Nachmittag verschieben oder denkst du, du bist jetzt bereit dazu, Kindchen?«

      Am liebsten würde ich dieses Training für immer vor mir herschieben, doch ich muss mich dieser Gabe, die seltsame Dinge mit mir geschehen lässt, endlich stellen.

      »Lasst es uns zumindest versuchen«, fordere ich deshalb.

      »Na gut. Also, wie bereits erklärt, denke ich, dass du eine emotionale Gabe in dir trägst. Gaben sind allgemein vor allem dann sehr aktiv, wenn der Begabte sich in einer Situation befindet, die in ihm starke Gefühle hervorruft. Meist sind Wut und Hass die stärksten Emotionen und lassen so auch die Gabe kraftvoll wirken. Am Anfang kommt sie meist unkontrolliert, vor allem in Ausnahmesituationen, zum Vorschein. Liebe und besonders Angst können ebenfalls dazu führen, dass die Gabe für einen Moment die Oberhand gewinnt.«

      Aufmerksam höre ich Silvas Erklärungen zu und finde mich selbst darin wieder.

      »Deshalb