als Ausprägung der Steuergleichheit und der Steuergerechtigkeit
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Das Prinzip der Besteuerung nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist nicht nur ein finanzwissenschaftliches Postulat, sondern als Ausprägung der Steuergleichheit und damit als Konkretisierung geltenden Verfassungsrechts für den Steuergesetzgeber unmittelbar bindend. Es handelt sich um ein Rechtsprinzip, um die Konkretisierung von Rechtssätzen und damit um mehr als eine bloße Direktive, eine bloße Gerechtigkeitserwägung[193]. Durchbrechungen[194] bedürfen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Regelmäßig verfälschen steuerliche Lenkungszwecke die Besteuerung nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, wenn sie wirksam einen Verhaltensbefehl oder eine Verhaltensempfehlung überbringen wollen. Auch die im (Einkommen-)Steuerrecht häufig anzutreffenden Pauschalierungen und Typisierungen können als „Vereinfachungsnormen“ einer leistungsfähigkeitsgerechten Besteuerung im Einzelfall zuwiderlaufen.
Wie viele Besteuerungsprinzipien wurde das Leistungsfähigkeitsprinzip zunächst durch die Finanzwissenschaften entwickelt und diskutiert, bevor es in Gesetzestexten oder durch die Rechtsdogmatik rezipiert wurde[195]. Mögen sich die Finanzwissenschaften zwischenzeitlich von der Forderung nach leistungsfähigkeitsgerechter Besteuerung abgewendet haben und die Diskussion in der Ökonomie teilweise andere Wege gegangen sein, so kann dies die (verfassungs-)rechtliche Betrachtung wegen ihrer grundsätzlich autonomen Begriffs- und Prinzipienbildung nicht unmittelbar beeinflussen[196].
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Das Leistungsfähigkeitsprinzip besagt zunächst, dass die Steuerlast eines jeden nach seiner Fähigkeit zu bemessen ist, Steuerleistungen aus seinem Einkommen zu erbringen[197]. Leistungsfähigkeit meint dabei tatsächliche (effektive, in Geldwert vorhandene) Ist-Zahlungsfähigkeit. Das Einkommen (die Einkünfte) ist der Indikator, den der Gesetzgeber zur Bestimmung dieser Größe ausgewählt hat[198]. Damit gibt das Prinzip eine Antwort auf die Frage, nach welchem Maßstab die Bürger zu den öffentlichen Lasten beitragen sollen. Das Prinzip der Besteuerung nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit hat zwei Seiten: Infolge seiner Herleitung (auch) aus Grundrechten (vorrangig Art. 3 Abs. 1 GG) hat es eine begrenzende, den Bürger schützende Funktion; als Zugriffsprinzip (Lastenausteilungsmaßstab) hat es darüber hinaus jedoch auch eine fordernde, u. U. eine Besteuerung gebietende Funktion. Auch eine (relative, d.h. im Verhältnis zu anderen Steuerpflichtigen bestehende) „Unter-“ oder „Minderbesteuerung“ kann gegen das Prinzip verstoßen. Das Prinzip wirkt nicht nur innerstaatlich, sondern nach richtiger Ansicht hat es der deutsche Steuergesetzgeber auch bei grenzüberschreitenden Besteuerungsvorgängen zu beachten.
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Die Prinzipien der Allgemeinheit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung erweisen sich als Unterfälle des Prinzips der Besteuerung nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Dies folgt daraus, dass „Gleichmäßigkeit“, als steuerliche Gleichheit, immer verhältnismäßige Gleichheit sein muss[199]; auch eine Steuer, die nicht „allgemein“ ist, sondern nach unsachgemäßen Differenzierungen unterscheidet, kann nicht an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichtet sein. Die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts leitet aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ein „grundsätzliches Gebot der Steuergerechtigkeit“ her, das sich als Gebot der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erweist[200]. Im Laufe dieser Rechtsprechungslinie trat dabei die Argumentation aus der „Steuergerechtigkeit“ zugunsten einer Entfaltung des Leistungsfähigkeitsgebots zurück, gleichzeitig wurde – zumindest seit den achtziger Jahren – die verfassungsrechtliche Bindung des Steuergesetzgebers verstärkt[201].
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Im Schrifttum sind diese Herleitungsansätze des Bundesverfassungsgerichts ergänzt worden. Das Leistungsfähigkeitsprinzip wird nicht allein aus dem allgemeinen Gleichheitssatz in seiner steuerspezifischen Konkretisierung hergeleitet, sondern auf weitere Normen des Grundgesetzes gestützt und so in seiner Ableitung aus der Verfassung erweitert. Neben den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG können spezielle Gleichheitssätze mit strengeren Anforderungen an Differenzierungen treten, beispielsweise der entsprechende Teilgehalt des Art. 6 Abs. 1 GG. Hinzu kommen Freiheitsgrundrechte – insbesondere die für die Besteuerung relevante Eigentumsgarantie des Art. 14 GG sowie die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG – , das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) und die Zentralnorm der bundesstaatlichen Finanzverfassung (Art. 106 GG), die traditionelle Steuertypen des deutschen Rechts aufnimmt, die in ihrem kondensierten Kern ebenfalls Hinweise auf der Besteuerung offen stehende Quellen steuerlich abzuschöpfender wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit bieten[202].
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In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird in einer Deduktion aus dem allgemeinen Gleichheitssatz der Grundsatz der Steuergerechtigkeit hergeleitet, aus dem wiederum das steuerverfassungsrechtliche Leistungsfähigkeitsprinzip folgen soll[203]. Der allgemeine Gleichheitssatz erweist sich jedoch als weitgehend formale, inhaltsleere Vorschrift, die als solche keine Belastungskriterien enthält[204]. Während das Differenzierungsziel bzw. der Zweck des Gesetzes üblicherweise eine erste normative Orientierung bezüglich der für die Gleichheitsprüfung maßgebenden Gesichtspunkte ermöglicht, muss die gleichheitsrechtliche Überprüfung der steuerlichen Lastenausteilungsnormen auf diese Anhaltspunkte, insbesondere auf die Bewertung der Differenzierungskriterien aus dem Zweck des Gesetzes verzichten. Einziger Zweck der Lastenausteilungsnormen (Fiskalzwecknormen) ist die Beschaffung staatlicher Finanzmittel zur Finanzierung der Staatsaufgaben. Dieser Finanzzweck ist aber – im Gegensatz zu Lenkungsabsichten bei steuerlichen Lenkungsnormen – im Prinzip „maßlos“[205]. Damit scheitert sowohl eine grundrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Lastenausteilungsnormen wie auch die Bewertung gleichheitsrechtlicher Differenzierungen an unterschiedlichen steuerlichen Zwecken[206]. Soll verfassungsrechtliche Steuergerechtigkeit eine bloß formale Ebene überwinden, müssen steuerliche Belastungs- und Verschonungsentscheidungen als Konkretisierungen eines bedarfsgerechten Belastungsmaßstabs ausgestaltet werden[207]. Die inhaltliche Begrenzung des allgemeinen Gleichheitssatzes als verfassungsrechtliche Ableitungsbasis für Steuergerechtigkeitserwägungen bedarf der Anreicherung durch andere Wertentscheidungen der Verfassung[208]. Hier sind vorrangig die Freiheitsgrundrechte[209] und das damit in steuerlicher Hinsicht zusammenhängende verfassungsrechtliche Prinzip der Steuerstaatlichkeit einzuführen; daneben kann das Sozialstaatsprinzip der Art. 20, 28 Abs. 1 GG zur Maßstabsverdeutlichung herangezogen werden.
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Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz hat inzwischen dessen personale Ausrichtung auf die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG wieder stärker in das Bewusstsein gerufen[210]. Die Formulierung, dass „alle Menschen“ vor dem Gesetz gleich sind, verdeutlicht die Bezogenheit jeder aus dieser Bestimmung fließenden Gerechtigkeitsidee auf die verfassungsrechtliche Verbürgung der Würde des Menschen[211]. Damit wird zugleich die Trennung zwischen dem Gleichheitssatz und dem Willkürverbot vollzogen[212]. Die „neue Formel“ des Bundesverfassungsgerichts zum allgemeinen Gleichheitssatz bringt die besondere Rechtfertigungsbedürftigkeit bei Unterscheidungen mit einem solchermaßen personalen Bezug zum Ausdruck, weil sie betont, dass Art. 3 Abs. 1 GG „vor allem dann verletzt [sei], wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass diese die Ungleichbehandlung rechtfertigen können“[213]. Freilich ist dies nicht die einzige, die formale Struktur des allgemeinen Gleichheitssatzes anreichernde Ergänzung[214].
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Das Prinzip der Besteuerung nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bedarf als verfassungsrechtlicher