Heinrich Zschokke

Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke


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      «Gut, Suschen, das hab ich gehört. Wie weiter?»

      «Wir haben vier Kinder.»

      «Die hoffentlich zu den Schönsten in der Stadt gehören. Alle sind so fromm, zärtlich, folgsam . . .»

      «Ach, wahre Engel sind's, o lieber Mann.»

      «Da hast du recht. Wahre Engel. Aber du grämst dich doch nicht über diese Engelschaft, hoff ich?»

      «Nein, lieber Mann; aber, wie wird's in der Zukunft werden?»

      «O du ungläubiges Suschen! Wer nur den lieben Gott läßt walten.»

      «Ach, es wird uns schwer, sie anständig zu erziehen. Je älter sie werden, je mehr braucht's.»

      «Sie sind doch schon älter geworden, und hat's da schon gefehlt?»

      «Aber, lieber Mann, wenn nun . . .»

      «Was denn?»

      «Ach!» seufzte sie und schluchzte heftiger.

      «Was denn?» rief der Doktor mit wahrer Seelenangst.

      Sie verbarg ihr Gesicht an seiner Brust, und umklammerte ihn mit beiden Armen fester. Dann sagte sie leiser: «Ich soll nun zum fünften Male Mutter werden.»

      Dem Papa ward's bei dieser unverhofften Nachricht zwar auch etwas weinerlich, doch verbarg er seine Bestürzung so gut es ging. «Herzenskind! Ist's nicht mehr, wie das?» rief er: «Gut Suschen, so kömmt der fünfte Engel zu den vier andern, die schon da sind. Es kann garnicht fehlen, wir müssen selig werden.»

      «Aber, lieber Mann, wir sind aber so arm.»

      «Die Engel werden und müssen uns Segen bringen. Der Alte der Tage, der die jungen Raben füttert, wird mich auch noch Brosamen für unsere Kleinen finden lassen. Beruhige dich.»

      Suschen hatte sich satt geweint, darum ward sie von selbst ruhiger. Aber der Doktor konnte nicht weinen, darum blieb er in der Unruhe. Er ging in der Stube auf und ab und sah zum Fenster hinaus; nichts konnte ihn zerstreuen. «Alle Jahre mehr Kinder und weniger Brot. Alle Jahre größere Tischgänger und kleinere Bissen!» seufzte er innerlich. Er würde die sterbende Jungfrau Sarah Waldhorn über die Geschichte vergessen haben, wenn ihn nicht Suschen erinnert hätte, zu ihrem Sterbebette zu laufen.

      Das blaue Wunder.

       Inhaltsverzeichnis

      Er nahm den Hut, doch lief er eben nicht. Das häusliche Gespräch drückte ihn noch. Er dachte nur an seine wenigen Kunden, an seine dürftigen Finanzen. Er drückte den Hut tief ins Gesicht, sah starr vor sich hin, wie ein Versemacher; grüßte nicht links nicht rechts auf den Straßen, und hätte beinahe den Generalsuperintendenten über den Haufen gerannt, der doch eins der helleuchtendsten Kirchenlichter war.

      Als er zur vielgeliebten Tante kam, fand er sie zwar nicht auf dem Sterbebette, aber doch mit der Brille auf der Nase vor einem großen Andachtsbuch, worin sie Todesbetrachtungen und Gebete für Sterbende in letzten Nöten aufgeschlagen hatte. Sie sah in der Tat übel aus, obgleich man auch von ihrem Gesicht nicht behaupten konnte, es hätte jemals sehr gut ausgesehen. Um die Stirn hatte sie ein Tuch, und wieder ein Tuch unters Kinn über den Kopf zusammengebunden.

      «Wo fehlt's?» fragte Doktor Falk und legte Hut und Stock weg.

      «Der Herr weiß es,» seufzte sie mit leiser Stimme kläglich, «ich leide viel, schon seit einigen Tagen leid ich. Es ist nicht anders, als wenn mein Stündlein vorhanden wäre. Und es wäre doch schrecklich.» Der Doktor faßte gedankenlos ihren Puls und sagte, ohne zu wissen, was, vor sich hin: «Er geht etwas voll.» Im Geist war der gute Mann noch immer bei Suschen zu Hause.

      «Das dachte ich wohl!» seufzte hochbeängstigt die Jungfrau. «Finden Sie mich gefährlich, lieber Falk?»

      «In Ihren Jahren nicht mehr!» sagte der Doktor aus langer Weile.

      «Nun, das wäre doch etwas Trost!» versetzte sie freundlicher: «In der Tat, ich bin in meinen besten Jahren; meine Kräfte unverdorben. Meine Natur muß mich selber herausreißen. Meinen Sie nicht, lieber Falk? Wenn's nicht Not ist, nur keine teure Arzneien. Seit China, Rhabarber und Mixturen Kolonialwaren geworden sind, ist nicht auszukommen. Daß sich der Herr erbarme! Aber, lieber Falk, mir ist doch nicht wohl.»

      Die Tante ließ ihrer Zunge nun den Lauf, sprach von hunderttausend Dingen, die weder zum Übel- noch Wohlsein gehören, alles nach ihrer lieben Gewohnheit. Der Doktor aber trommelte sinnend auf dem Tische und hörte gar nicht zu; ebenfalls nach seiner lieben Gewohnheit. Endlich ward ihm die Zeit zu lang.

      «Aber was fehlt Ihnen?» rief er.

      «Ach, der Appetit! Ich habe seit zwei Tagen keinen Löffel Suppe mögen; habe Kopfweh zum Sterben.»

      «Vielleicht den Magen verdorben, Tante, mit irgend einer philosophischen Gänsleberpastete?»

      «Ei, du gerechter Himmel! Falk, kein Gedanke davon! – Das kömmt unmöglich vom Magen. Ich lebe so einfach, so mäßig. In allem Ernst, ich wüßte nicht, daß ich seit vielen Wochen etwas Schwerverdauliches genossen hätte. – Auch hab ich zuweilen Zahnweh; – zuweilen Übelkeiten, Herzweh, Erbrechen – – gerechter Himmel, sehen Sie mich doch nur an, Falk, und trommeln Sie nicht beständig den Zapfenstreich, da werden Sie sehen, wie blaß ich bin, wie eingefallen meine Augen. Mir ist gewiß nicht wohl!»

      «Meinetwegen,» rief der Doktor ärgerlich, der hier eine Litanei hörte, welche ihn an Suschens Zustand erinnerte: «So sind Sie schwanger!» Er nahm Stock und Hut.

      «Ei du gerechter Himmel!» kreischte Jungfrau Sarah Waldhorn, daß man's in den benachbarten drei Gassen ohne Mühe bis ins dritte und vierte Stockwerk hören konnte: «Ei, du gerechter Himmel, das wäre mir doch ein blaues Wunder!»

      Als der Doktor diese lebhaften Töne des jungfräulichen Waldhorns hörte, überlief es ihn eiskalt. Er besann sich, daß er in Unmut und halber Zerstreuung eine Albernheit ohnegleichen ausgestoßen hatte; aber eine Albernheit, die keine züchtige Jungfrau verzeiht; zumal eine Jungfrau, die ihre mühsame Würde siegreich den fünfziger Jahren entgegenführte, die keinem andern Mädchen auch nur einen Blick, einen Händedruck im Pfänderspiel verziehen hätte; die aus lauter Heiligkeit zusammengesetzt – genug, eine Jungfrau, wie eben Jungfrau Sarah Waldhorn war.

      «Ich will das Wetter austoben lassen und mein Heil in der Flucht suchen, eh die ganze liebe Nachbarschaft zusammenströmt!» dachte Falk, öffnete behend die Tür und rannte davon.

      Krankenbesuche.

       Inhaltsverzeichnis

      Diesmal hätte er schier auf der Gasse seinen eigenen Schwager, den berühmten Advokaten Zange, über den Haufen geworfen, wenn Herr Zange, langbeinig, hoch, breit, vierschrötig wie er war, nicht als ein echter Goliath seinen Mann gestanden hätte. So lief's zum Glück für beide mit einem blauen Fleck an den Rippen ab, indem sie zusammenrannten.

      «Holla! Herr Bruder!» rief der Advokat, indem er sein breites fleischiges Gesicht schmerzhaft verzog: «Wären Sie nicht mein leibhaftiger Schwager: für den mörderischen Überfall auf offener Straße hing ich Ihnen einen verdammten Prozeß an den Hals. Wenn Sie mir eine Rippe kassiert haben, müssen Sie sie mir unentgeltlich reparieren, und ich verlange nichts, als das Schmerzensgeld von Ihnen.»

      «Tut mir leid, bitt' um Verzeihung!»stammelte der Doktor und wollte davon. Der Advokat hielt ihn beim Arm: «Woher denn, Doktorchen, wohin so eilig? Woher?»

      «Von der Tante Waldhorn. Sie ist sterbenskrank!»erwiderte der Doktor.

      «Sterbenskrank, Herr Bruder? Sterbenskrank? Gott befohlen, auf Wiedersehen, Herr Bruder!» rief der Advokat und steuerte mit großen Schritten dem