Heinrich Zschokke

Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke


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in den Saal. wo Leuenberg ihn mit noch etwas stolzerer Haltung als zuvor die Herren von Bern empfing. Der Untervogt überreichte unter tiefer Verbeugung das Patent der eidgenössischen Tagherren.

      »Morgen mag das Schreiben am versammelten Landtage verlesen werden,« sprach Leuenberg, »und Ihr werdet alsdann Antwort empfangen. Unterdessen, Herr Untervogt, soll Euch geziemende Nachtherberge und Verpflegung angewiesen werden. Ich hoffe, Ihr sollet nicht zu klagen haben.«

      Mit diesem kurzen Bescheide wurde der Untervogt entlassen; welcher, unter Rebellen, wohl kaum eines so milden Empfangs gewärtig gewesen sein mochte.

      40.

       Des Landtags Ende.

       Inhaltsverzeichnis

      Addrich beschloß mit rastloser Thätigkeit sein Tagewerk erst nach Mitternacht. Schon vor Sonnenaufgang weckte ihn die Ungeduld und das Getöse der im Städtchen umherwogenden Volksmenge. Fabian neben ihm erhob sich schwer vom Lager und verwunderte sich über die seltsame Heiterkeit des Alten und das Fröhliche, Leichte in dessen Bewegungen.

      »Du sollst mich noch andere sehen,« erwiderte Addrich. »Ich bin wie die Seemöve, welche verbannt zwischen den Klippen des Meerufers hausen muß; ihr Element ist der Sturm. Laß mich im Aufruhr der Dinge meine Flügel ungestört zwischen Wolken und Wogen schlagen.«

      »Nur allzu gut gesagt,« entgegnete Fabian. »Vergiß nicht, daß die beweglichen Wogen das Volk sind, heute wütend, morgen lachend, und daß die Obrigkeit wie die Wolke Blitze trägt.«

      »Und wenn das!« sagte der Alte, indem er das nach der Straße gelegene Fenster öffnete und mit Lust in das Getümmel der Leute hinab sah. »Was steht zu fürchten? Der Mensch kennt das Ziel seiner Tage nicht, aber das Ziel seines Willens. Ich möchte die Ketten brechen; ich möchte den Unsinn entthronen: ich möchte das Recht und die gesunde Vernunft in die zum Tier gewordenen Ebenbilder Gottes hineinbringen. Ist das nicht etwas, des Sterbens wert?«

      »Brechen wir ab davon!« sagte der Jüngling. »Wir werden uns nie verstehen. Auch bin ich ohne Willen hier, weil ich dem Laban um Rahel diene. Für mich bleibt alles ein bloßes Schaugericht.«

      »Und Du wirfst mir damit kein Katzenhaar in die Suppe,« entgegnete ihm Addrich. »Möge mir die Karte zuletzt einschlagen oder nicht, Bursche, das Spielen selbst macht die wahre Lust. Wenn ich mir die Seligkeit des Schöpfers denke, so sehe ich sie blos in der allwirkenden Gewalt, die eine neue Welt erbaut. Ich will eine Welt bauen; darum muß die Zerstörung des alten Wracks vorangehen. Mich belästigt die ungeheure Klugheit des Leuenbergers und seiner vielweisen Ratgeber, welche an den Schleusen des breiten Stroms vorsichtig rütteln, um ihre kleinen, dürren Matten ein wenig zu bewässern. Durchs Maulwurfsloch jedoch bricht die Überschwemmung herein; jetzt ist das Dämmen zu spät . . . Komm, Fabian, erst zum Imbiß, dann zum Acker! Heute soll die Saat eingeeggt werden. Verliere mich nicht aus den Augen, denn mir stehen viele Geschäfte bevor; ich kann mich nicht um Dich bekümmern.«

      Sie gingen, und nach flüchtig genommenem Frühstück eilten beide hinaus und verloren sich im Gewühle.

      Es war früh um fünf Uhr. Alles strömte, sobald die Sonne hinter den buschigen Höhen hervorblitzte, in die weite Almend. Eine unzählige Volksmenge war aus den Thälern der benachbarten Kantone gekommen, um Zeuge des Schauspiels zu werden. Sie lagerte im weiten Halbkreise am Hügelrain. Etwas tiefer im Wiesengrunde sammelten sich die Volksausschüsse der Landschaften, die längs der Aar von deren Ursprung bis zur Ausmündung in den Rhein, längs den Ufern der Emme und Reuß gelegen sind, oder die in den Hochgebirgen des bernischen Oberlandes in der Nähe der Eisberge wohnen. Es waren dieser Abgeordneten zur großen Landsgemeinde nicht weniger als dreitausend Männer, abweichend in Mundart, Sprache, Sitte, Landestracht und religiösem Glauben; aber insgesamt von starkem, kräftigem Schlage und trotzigem Aussehen. Der Anblick dieser zahlreichen Haufen erregte in der Brust jedes Einzelnen Mut und Stolz. Sie grüßten sich ohne einander zu kennen mit Ruf und Handschlag brüderlich, fragten um die Lage ihrer gegenseitigen Heimat und deren besondere Beschwerden und Lasten. Verschiedenartiger Druck ihrer Vögte und Regierungen, und eine gleiche Begierde nach Freiheit durch gemeinsamen Beistand hatte alle zusammengeführt.

      Man sah vom Städtchen her einen neuen Zug langsam gegen die Almend vorrücken. Es war Niklaus Leuenberg, welchen man seit dem Tage von Sumiswald den »Bundesobmann«, sowie die Ausschüsse der Landschaften »Bundesgenossen« nannte. Er erschien in einem roten Kleide, stattlich und mit höherer Sorgfalt angekleidet. Vor ihm her schritten sechs Trabanten mit Hellebarden; ihm nach zog ein Gefolge ausgewählter Sprecher der Kantone.

      Leuenberg bestieg eine Erhöhung von Erde, die oben abgeplattet und für ihn und sein Gefolge mit Stühlen und mit einem schwarz behangenen Tische besetzt war. Er selbst nahm den obersten Platz ein; ihm zur Rechten und Linken saßen vier Schreiber. Die Hellebardenträger umringten seinen Stuhl.

      Nachdem es still geworden, erhob sich der Obmann von seinem breiten, altertümlichen Lehnsessel, begrüßte in feierlicher Anrede die Versammlung der »edeln, mannhaften, treuen, lieben Bundesgenossen«, und schilderte die Wichtigkeit dieses Tages, der für des gesamten Vaterlandes »Freiheit, Ehre und Wohlfahrt« den spätesten Enkeln heilig bleiben würde. Dann sprach er, mit Anführung vieler biblischer Stellen, vom Widerstand und Hochmut der Städte und von der Arglist ihrer Versprechungen, womit er den Übergang zu den Geschäften des Tages machte. Diese begann er damit, daß er durch seinen Schreiber Brömer eine beträchtliche Anzahl aufgefangener Briefe laut und öffentlich vorlesen ließ. Man entnahm daraus einerseits die furchtsame Verlegenheit der regierenden Städte, andererseits ihre unwiderstehliche Lust, eine schwere Rache an den rebellischen Bauern zu üben. Hier wurde den Landvögten, besonders in gemeinen Herrschaften und freien Ämtern, befohlen, glimpflich und freundlich mit den Landleuten zu verfahren; dort, sich aller Verdächtigen auf jede Weise, durch List und Gewalt, mit Recht und Unrecht, zur Überlieferung in die obrigkeitlichen Hände zu bemächtigen. Hier wurde von kriegerischen Rüstungen zur Unterjochung des Volkes, dort von Mitteln zur Versöhnung desselben gesprochen. Man erfuhr sogar etwas Näheres von den Entwürfen der Tagsatzung in Baden, den großen Aufstand durch die Gewalt der Waffen aller Eidgenossen zu dämpfen, und von allen Richtungen zugleich in die empörten Gegenden einzudringen. General Zweyer von Uri sollte mit Urnern, Unterwaldnern und den Kriegsvölkern des Abts von St. Gallen die Stadt Luzern, die Bergpässe zwischen Entlebuch und Unterwalden, ferner mit Schwyzern und Zugern die Stadt Sursee und die Pässe des obern Frei-Amtes besetzen; General Wertmüller von Zürich das untere Frei-Amt mit Glarnern und Appenzellern decken, an der Spitze der Schlachthaufen von Zürich, Schaffhausen und St. Gallen aber in den untern Aargau eindringen; die Mühlhausener und Baseler sollten über den Jura hinziehen, während von Abend her General Erlach von Bern mit den Waadtländern, Wallisern, Freiburgern und Solothurnern gegen den obern Aargau vorrücken sollte.

      In diesen vorgelesenen Briefen wurde schon, neben dem alten reichsstädtischen Stolz, die Unbehilflichkeit der schweizerischen Herren und Oberen, das Unzusammenhängende ihrer Maßregeln, die gegenseitige Scheelsucht und Gehässigkeit sichtbar, wie auch bei allen das Bestreben im Hintergrunde sichtbar wurde, sich selbst mit den eigenen Unterthanen, so gut es gehe, abzufinden und für andere Orte und Städte so wenig als möglich zu thun. Deshalb brachten auch die Briefe, als sie das Volk hörte, vollkommen die Wirkung bei demselben hervor, welche Leuenberg vermutlich beabsichtigt hatte. Man spottete, lachte und hielt das große Spiel durch die Zwietracht und Schwäche der Gegner schon für halb gewonnen. Um die Wirkung zu verstärken, erzählte Leuenberg mit lauter Stimme, wie die Tagherren zu Baden ihre Rechnung ohne den Wirt gemacht hätten; wie das freie Volk in den Bergen Graubündens schon erklärt habe, man werde wohl zur Befreiung, nie aber zur Unterjochung des Landmanns die Hand bieten; wie die Stadt Basel in ihrem eigenen Gebiete nicht mehr Meisterin sei; wie dem Rat von Solothurn die Lust, Krieg zu führen, vergangen wäre, als er rings um die Stadt und in allen Ämtern die ihm drohenden Volkshaufen erblickt hätte; wie die Herren zu Freiburg zweitausend Mann aufgeboten und wieder entlassen hätten, vielleicht weil es ihnen recht wäre, den Stolz der Herren zu Bern ein wenig gedemütigt zu wissen; wie Schaffhausen und St. Gallen zwar alles versprächen,