Heinrich Zschokke

Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke


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hatte selbst für ihn etwas Erhebendes. Die allgemeine Entschlossenheit zu jedem Opfer, die Ausdauer und Freudigkeit jedes einzelnen in Mühseligkeiten und Entbehrungen, der blinde Gehorsam, mit welchem Leuenbergs Befehle vollstreckt wurden, konnten allerdings einen glücklichen Ausgang des großen Unternehmens weissagen. Fabian bezweifelte denselben um so weniger, da bis spät in die Nacht Boten über Boten die Nachricht von den neu anrückenden Hilfsvölkern des Bundes brachten, währenddessen Wertmüller auf der Almend von Schlieren kaum 7000 Mann, die er gegen Leuenberg ins Feld führen wollte, zusammen hatte. Dennoch blieb Fabian seinen Grundsätzen getreu, sich nicht in das Geschäft zu mischen, sondern als Addrichs Wächter die Rolle des Zuschauers zu spielen. Auch Addrich hielt Wort, und mutete dem Jüngling nichts zu als, wenn es Not thun würde, die Ausübung seiner wohlthätigen Kunst als Wundarzt.

      Folgenden Morgens war es wiederum Addrich, welcher, wie gewöhnlich, zuerst vom Bette sprang, und den schlummernden Jüngling aus seinem Traume von Epiphania weckte.

      »Auf, auf!« rief er. »Der Mann des Krieges soll wachen und garnicht, oder nur mit halbgeschlossenen Augen, schlafen. Es ist noch viel an Schiff und Geschirr zu flicken, ehe wir hinaus zum Ernten kommen können. Komm', Bursche, laß uns das Feldlager durchgehen, und nachsehen, wie es um uns stände, wenn der Feind schon binnen vierundzwanzig Stunden seinen Besuch abstatten würde. Zwar ist der Kommandant Christen Schybi ein ganzer Mann, allezeit auf den Beinen und mit dem Maul voran; doch enthält er mehr Kupfer als Silber; lebt und treibts, wie der Schuldenbote; kann laufen und nicht müde werden, saufen und nicht voll werden, lügen und nicht rot werden.«

      »Hättest Du mich lieber noch schlafen lassen,« sagte Fabian, indem er sich ankleidete, etwas mürrisch. »Es ist unrecht von Dir daß Du mir nimmst, was Du mir nie geben kannst.«

      »Hm, Kamerad,« brummte Addrich, »bist Du so ernstlich Deines jungen Lebens satt? Geduld, Dein Weib im Moose soll Dich bald entschädigen. Doch es kann Dir nichts schaden; denn was man erfahren hat, das hat man gelernt. Siehe, das eben ist das Elend des Lebens, daß es eitel Bruchstück bleibt; ein täglich Hin- und Herfallen zwischen Dasein und Nichtsein. Ein ganzes wäre mir auch lieber; entweder nie gelebt, oder nie gestorben!«

      »Wie kommst Du nun wieder darauf?« entgegnete der Jüngling. »Was willst Du mit Deiner wunderlichen Rede?«

      »Entweder nie gelebt oder nie gestorben,« wiederholte sich der Alte, »das wäre auf jeden Fall eine Unsterblichkeit, denn wer nie gelebt hat, kann so wenig sterben, als einer, der nie zu leben aufgehört. Schlaf ist Tod, Erwachen Geburt. Es giebt Tage, Wochen, Monate, wo ich ohne Erwachen schlafen möchte, und ich verwünsche die Grausamkeit der Natur, welche mir nicht einmal das Almosen der Bewußtlosigkeit gönnt; jetzt würde ich ewiges Wachen vorziehen, und muß nun jede Nacht wider Willen den Faden der Arbeit abreißen, den ich lieber ohne Unterbrechung fortspänne . . .«

      Fabian betrachtete ihn lächelnd und mit einiger Verwunderung, indem er sagte: »Zum ersten Mal sehe ich Dich lebenslustig, Addrich, aber ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll.«

      »Freue Dich nur,« erwiderte der Alte, »denn im stürmischen Meere von Geschichten und Geschäften dieser Art gehe ich wieder zu wahrer Selbstvergessenheit über. Mehr begehre ich nicht. Ich allein fühle mich stark genug, die alte Eisenpforte des Weltkerkers aus den verrosteten Angeln zu heben, und ein ganzes Volk aus der stinkenden Gruft in den Sonnenschein der Freiheit vorwärts zu drängen. Zeltner, Leuenberg, Brömer, Schybi, alle erkennen und fühlen sie das, und gestern in der Nacht schworen sie mir zu, ohne meinen Rat keinen Schritt mehr thun zu wollen. Sie nennen mich den Meister. Darum, Fabian, laß uns aufbrechen und das Kriegsvolk und die Stellungen mustern. Ich will die Karten nicht nur mischen und geben, ich muß auch allen ins Spiel sehen, damit nicht einer seinen Trumpf wegwerfe.«

      Fabian, der sich das Degengehenk über die Achsel warf, versetzte mit fortdauernder Verwunderung: »Ich bin fertig, Addrich, Du aber bist wahrhaftig Deinem Ende nahe, oder auf dem Wege der Genesung von der schweren Krankheit, die Dich plagt, denn es ist eine große Veränderung bei Dir vorgegangen. Du fühlst Dich selbst wieder im Fleisch und Blut, wo Du bisher durch und durch tot und starr warest. Eigenliebe kann Dich kitzeln und Dir Lust zum Leben machen, da Dich bisher nichts mehr schmerzte, nichts mehr kitzelte. Komm, widersprich mir nicht. Du bist auf guten Wegen; ich hoffe, das bessere soll folgen.«

      Addrich, wie von der Wahrheit der Rede des jungen Menschen überrascht, lächelte über sich selbst und wollte Einspruch thun. Fabian aber mochte nichts hören, lachte und zog ihn fort, Der Anblick des Lagers, als sie ins Freie hinaustraten, gab ihrem Gespräche bald eine andere Wendung.

      43.

       Böse Zusammenkunft.

       Inhaltsverzeichnis

      Sie gingen durch die langen Reihen des Lagers bis zum Adlersberge, auf dessen östlichem Flügel die alte Burg von Brunegg lag. Es war ein trüber Morgen. Ein schwermütiges, einförmiges Grau des Himmels hing über der duftenden Frühlingslandschaft. Hier und dort stiegen Rauchsäulen von frisch angezündeten Feuern auf, bei denen die in Krieger verwandelten Landleute ihr Frühstück kochten. Man erblickte nur wenige Zelte. Die Nacht war von den meisten ohne Obdach, auf einem Bündel Heu oder Stroh zugebracht worden, doch hin und wieder sah man statt der Gezelte wohl aneinander gelehnte Bretter und Thüren, die man den Häusern, Scheuern oder Ställen benachbarter Ortschaften entnommen hatte: oder leinene Laken, große Tücher von Frachtwagen und zerschnittene Säcke über aufgesteckte Stangen ausgespannt.

      Addrich und sein Begleiter gefielen sich in dem bunten Getümmel. Sie teilten mit einem der munteren Haufen das kräftige Frühstück und die kräftigen Späße. Dann begaben sie sich weiter, um auch die Vorposten des Lagers zu besuchen, welche längs der Reuß und vor der Stadt Mellingen aufgestellt sein sollten.

      Nach einer starken Viertelstunde Weges über die Wiesen gelangten sie zum Gebüsche, welches die Halden der Höhe bekleidete, die sich längs dem schmalen und ebenen Reußthale hinzieht. In geringer Entfernung von ihnen lag das Städtchen Mellingen, am dunkeln Strome der Reuß, nach alter Art und Weise mit Ringmauern und Graben umgeben. Dahinter erhob sich, allmählich emporschwellend, steil und waldig das Gebirge mit dem Heitersberge, über welchen ein unebener Weg nach Zürich führt.

      »Laß uns hinab ins Städtchen gehen, die Freiämtler halten es besetzt,« sagte Addrich, »denn wir sind auf den Wiesen zuweit links gegangen. Die Vorhut steht auf der Höhe, in der Nähe von Wohlenschwyl, an der Straße von Lenzburg. Verfolgen wir diesen Fußpfad! Er führt rechts und ohne Zweifel ins Dorf.«

      Als sie eine Strecke fortgewandert waren, hörten sie schon aus geringer Ferne durchs Gebüsch das Rufen, Lachen und Lärmen der ländlichen Krieger ertönen. Bald führte sie ihr Pfad zu einer einsam gelegenen Hütte, welche auf einem freien Platze, am Abhang der Höhe, eine ungehemmte Aussicht über Thal, Strom und Gebirge darbot. Eine uralte Eiche, die ihre schwarzen Arme über das Strohdach streckte, schien der Unzulänglichkeit desselben gegen die Unbill der Witterung mitleidig abhelfen zu wollen, und der Hinterteil des Baues schien seine Haltbarkeit weniger der eigenen Stärke, als der Stütze eines jener ungeheuren Granitblöcke danken zu müssen, welche, durch die Fluten der Urwelt aus den Alpen hierher gewälzt. noch zur Hälfte aus dem Erdboden hervorragen.

      »Ich wette,« sagte Addrich, indem er auf ein kleines hölzernes Kreuz zeigte, das den Oberteil des Giebels schmückte, »hier ist das Nest eines heiligen Tagediebes. Wir wollen dem Waldbruder einen Besuch abstatten. Man kann von solchen Leuten etwas erfahren.«

      Sie traten durch die offen stehende Thür in den engen Raum, wo sich auf dem Tischchen zur Seite ein paar große, halbleere Weinflaschen, Brotstücke und geräuchertes Fleisch, die Überbleibsel des Frühstücks, oder des gestrigen Abendessens, zeigten. Rechts am Boden erblickten sie auf einem Laubsacke, statt des Waldbruders, einen jungen, schlanken Kriegsmann in tiefem Schlafe.

      Addrich, der vorausgegangen war, fuhr bei diesem Anblick zurück, sah sich finster nach Fabian um und sagte: »Sehe ich recht, so ist's ein Schurke, der ein Lot Blei durch den Schädel zu bekommen nur zu sehr verdient hat. Ich gebe