Heinrich Zschokke

Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke


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es zieht vorüber, verheerend, zerstörend, wie der Würgengel, der die Erstgeburt Ägyptens schlug. O meine Kinder, die armen Würmer! Unsere Männer sind bei Mellingen erschlagen; wir haben von den Bergen den Rauch und die Flammen der Dörfer gesehen. Morgen kommen die Feinde. Die Züricher schonen des Kindes im Mutterleibe nicht. Herr, mein Gott, vertilge uns nicht in Deinem Zorn! . . . Die armen Würmer sind unschuldig. Die Alten haben sich gegen die gnädige Obrigkeit empört, und wußten doch, daß alle Obrigkeit ist an Gottes Statt. Die armen Würmer sind unschuldig.«

      So sprach das Weib und weinte laut. Fabian fühlte Mitleiden mit ihr. Er fürchtete nicht ohne Grund, daß die Furcht den Verstand des Weibes zerrüttet habe und sagte: »Weib, komm' mit mir unter ein Obdach!«

      Sie aber fuhr fort: »Wir brauchen eine Obrigkeit, wie das liebe Brot. Wir begehrten ja nur, daß man mit uns armen Leuten umgehe, daß es zu ertragen sei. Aber der Herr Pfarrer drohte mit den Strafgerichten Gottes, und die Männer hätten es besser verstehen sollen, als wir einfältigen Weiber. Nun ist das Unglück da; wer kann der Rache Gottes entfliehen? Er geißelt die sündliche Welt mit den Flammen des Himmels. Er sendet seine Heerscharen mit Schwert und Feuer über uns; Hunger und Pestilenz über unsere Dörfer. Jesus, die Welt geht unter!«

      Es fuhr in diesem Augenblick ein gewaltiger Blitzstrahl über die Höhen der Bampf; der Himmel schien als eine einzige, ungeheure Flamme zur Erde zu sinken. Vom Donner erdröhnte der Berg und wie ein Wolkenbruch fluteten, mit wiederkehrender Finsternis, die Regengüsse nieder. Das Weib heulte laut durch den Sturm. Fabian stand da, wie betäubt.

      »Fabian, was verweilest Du?« sagte der zurückkehrende Addrich, dem das Geheul des Weibes den Weg gezeigt hatte. »Mit wem redest Du hier?«

      »Es ist eine Verlassene,« antwortete der Jüngling, »die wahrscheinlich den Weg verloren hat.«

      »Richte Dich auf, Weib,« rief Addrich, »wir begleiten Dich in eine nahegelegene Hütte.«

      »Wohin, um Gottes Barmherzigkeit willen?« fragte die Frau.

      »Zur Hütte Addrichs im Moos,« erwiderte der Alte.

      »Bewahre mich Gott!« schrie das Weib, »Das Haus des Gottlosen, von der Erde vertilgt, muß eine Stätte des Fluches und des Jammers werden. Meine Augen haben den Gräuel gesehen. Da wird kein Kind mehr geboren; kein Wassertropfen wurde zur Flamme getragen, nicht einmal eine Thräne fiel auf eine der glühenden Kohlen.«

      »Sie redet im Wahnsinn,« sagte der Alte. Wir können die Unglückliche in dieser Nacht der Schrecken nicht allein auf dem Berge lassen. Hilf mir, Fabian, wir führen sie mit uns hinab.«

      »Sprich, Weib, wer bist Du? Wo ist Dein Heimwesen?«

      »Ach, Gott sei's geklagt!« heulte das Weib. »Wer bin ich, wer kann jetzt wissen, wer er ist? Ich bin vielleicht schon eine elende Wittfrau mit drei armen Waisen. Kommt Ihr aus der Mellinger Schlacht? Ich bin die Käthi Gloor von Seon. Habt Ihr nicht den Karli Marti Gloor, Anken-Jogglis, gesehen? Der war mein Mann. Als ich von Aarau heimkehrte, spät abends, sah ich viele Flüchtende. Da habe ich gefragt Mann für Mann, und ich fragte bis in die Nacht. Gott erbarme sich meiner, niemand wußte von ihm. Er war ein guter Mann, und wir lebten zufrieden, wenn auch in Not und Armut. Aber ein gutes Gewissen ist das beste Leben.«

      Ein Widerschein des Blitzes verbreitete plötzlich eine Tageshelle um den Ahorn. Das Weib fuhr mit Entsetzen vom Erdboden auf und schrie entfliehend: »Jesus, mein Heiland, das ist der Addrich selbst! Hebe Dich weg, Du Mensch des Fluches, Du Kind des Verderbens, Du bist gezeichnet, wie Kain. Kehre um, flüchte in die Berge und Wüsten; Dich wird töten, wer Dich findet. Ich sah Dein Haus um Mittag, am Abend die Kohlen. Gott sei Deiner armen Seele gnädig!«

      Sie entfernte sich mit diesen Worten weiter in die Finsternis. Aber durch Wind und Regen hörte man noch lange ihre Stimme unverständlich erschallen, bis sie in größerer Ferne erlosch.

      Addrich stand schweigend und bewegungslos unter dem Dache aus Ahornzweigen, erschüttert von den verworrenen Reden des Weibes, die er mit Bangigkeit erwog. Fabian lehnte Arm und Kopf nachdenkend an den Stamm und fragte endlich halblaut: »Hast Du dies Weib verstanden?«

      Addrich blieb stumm. Die Wetterwolken blitzten am fernen Himmel. Die schwarze Himmelshülle zerriß und ließ den Mondschein durchschimmern. Er gab gerade Licht genug, um die Einöde auf dem Berge noch grauenhafter zu machen.

      »Hast Du dies Weib verstanden?« fragte Fabian.

      Der Alte stand da, in sich gekehrt und stumm. Fabian richtete die Augen auf ihn, der wie ein schwarzer Schatten in der Luft vor ihm herging, und keine Bewegung zeigte, als das Flattern des Gewandes im Sturmwinde. »Ich fühle die unaussprechlichste Seelenangst, Addrich,« sagte der Jüngling mit gepreßter Stimme, ging dann hastig zu dem Alten, ergriff ihn und schrie: »Komm', komm' hinab! Es hat sich ein Unglück ereignet!«

      »Laß die Wahnsinnige! Wir würden sie vergebens suchen,« antwortete Addrich mit tonloser Stimme. »Gehen wir in's Moos zu den Unsrigen. Fabian, es muß um Mitternacht sein.«

      Beide wandelten schweigend über den Berg, der entgegengesetzten Seite zu. Sie gelangten zu Gestrüpp und Gebüsch, und irrten lange umher, bevor sie in der Dunkelheit den Fußweg dahin entdeckten. Dann schritten sie, jenseits des Dickichts, über unsichtbare Pfade, die Wiesen hinab zum Moos.

      47.

       Die letzte Nacht im Moos.

       Inhaltsverzeichnis

      »Alter, wohin rennst Du?« rief Fabian und blieb stehen. »Erblickst Du nicht rechts, ganz nahe in der Tiefe, den Steinhaufen, den man des Selbstmörders Grab nennt, und links am Himmel den Berg und Waldeinschnitt? Wir müssen bei dem Hause schon vorüber sein.«

      »Die Nacht ist finster,« erwiderte Addrich, und kehrte um. »Finster ist die Nacht und mein Auge dunkel. Ich bin müde und in Verwirrung, und schaue nach dem Fensterlicht. Doch sie schlafen alle, selbst Leonorens Lämpchen ist erloschen.« Addrich blieb stehen, als mangle ihm der Atem, und setzte hinzu: »Fabian, ihr Lämpchen erloschen.«

      Diese Worte sprach er langsam, er hauchte sie nur leise vor sich hin. Der Jüngling ergriff ihn mit Heftigkeit und riß ihn ungestüm mit sich fort. »Laß uns höher steigen, höher, Addrich! In der Höhe am Waldsaum verfehlen wir das Gebäude nicht.«

      »Geduld, Fabian, die Nacht ist dunkel; das Wetterleuchten blendet. Die Hütte wird uns nicht entrinnen, aber Hast und Eile verfehlen auch beim hellen Sonnenschein den Kirchturm.«

      »Addrich, witterst Du nichts? Es weht mich an wie der Geruch von Kohlenmeilern.«

      »Das weht herüber von den qualmenden Düngerhaufen, Fabian, vom frischen Landausbruch, wo Baschis Dornen und Graswurzeln brennen.«

      »Alter, ich denke immer an des Weibes Reden. Hast Du sie verstanden?«

      »Was willst Du, Fabian? Sei still und sieh hinunter. Ich erblicke Licht.«

      »Wir wandern zu hoch, Addrich. Das ist kein Fensterschein. Wie Irrlichter sehe ich's hüpfen.«

      »Fabian, Du hast eine helle Stimme. Rufe! Es mag meiner Knechte einer sein mit der Hornleuchte, wie er durch den Wald sucht.«

      »Halt, halt, Addrich!« schrie Fabian mit Entsetzen und hielt den Alten. »Schlage Deine Augen auf. Hier ist der Waldweg, hier der Garten, hier der Brunnen. Hier war Deine Hütte.«

      »Ich gewahre nichts,« erwiderte Addrich eintönig. »Bin ich erblindet? Sind das nicht Funken am Boden? Dampft da nicht Rauch?«

      Fabian senkte schaudernd das Haupt zwischen beide Hände nieder und stammelte: »Unglückseliger Mann!«

      Es entstand ein langes Schweigen. Beide starrten in einer Art Bewußtlosigkeit auf den finstern Raum hin, von welchem zuweilen dunkelrote Funken im Windzuge aufsprühten und unter den fallenden Regentropfen zischend wieder verschwanden. Durch die geteilten Wolken zog bisweilen ein Dämmerschein des