Фридрих Вильгельм Ницше

Gesammelte Werke


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grau­en­haf­ten Wild­heit des Has­ses und der Ver­nich­tungs­lust. Dies Phä­no­men zeigt sich lei­der so häu­fig, wenn eine große Per­sön­lich­keit durch eine un­ge­heu­re glän­zen­de That plötz­lich dem Wett­kamp­fe ent­rückt wur­de und hors de con­cour­s, nach sei­nem und sei­ner Mit­bür­ger Urt­heil war. Die Wir­kung ist, fast ohne Aus­nah­me, eine ent­setz­li­che; und wenn man ge­wöhn­lich aus die­sen Wir­kun­gen den Schluß zieht, daß der Grie­che un­ver­mö­gend ge­we­sen sei Ruhm und Glück zu er­tra­gen: so soll­te man ge­nau­er re­den, daß er den Ruhm ohne wei­te­ren Wett­kampf, das Glück am Schlus­se des Wett­kamp­fes nicht zu tra­gen ver­moch­te. Es giebt kein deut­li­che­res Bei­spiel als die letz­ten Schick­sa­le des Mil­tia­des. Durch den un­ver­gleich­li­chen Er­folg bei Ma­ra­thon auf einen ein­sa­men Gip­fel ge­stellt und weit hin­aus über je­den Mit­kämp­fen­den ge­ho­ben: fühlt er in sich ein nied­ri­ges rach­süch­ti­ges Ge­lüst er­wa­chen, ge­gen einen pa­ri­schen Bür­ger, mit dem er vor Al­ters eine Feind­schaft hat­te. Dies Ge­lüst zu be­frie­di­gen miß­braucht er Ruf, Staats­ver­mö­gen, Bür­ger­eh­re und ent­ehrt sich selbst. Im Ge­fühl des Miß­lin­gens ver­fällt er auf un­wür­di­ge Ma­chi­na­tio­nen. Er tritt mir der De­me­ter­pries­te­rin Timo in eine heim­li­che und gott­lo­se Ver­bin­dung und be­tritt Nachts den hei­li­gen Tem­pel, aus dem je­der Mann aus­ge­schlos­sen war. Als er die Mau­er über­sprun­gen hat und dem Hei­ligt­hum der Göt­tin im­mer nä­her kommt, über­fällt ihn plötz­lich das furcht­ba­re Grau­en ei­nes pa­ni­schen Schre­ckens: fast zu­sam­men­bre­chend und ohne Be­sin­nung fühlt er sich zu­rück­ge­trie­ben und über die Mau­er zu­rück­sprin­gend stürzt er ge­lähmt und schwer ver­letzt nie­der. Die Be­la­ge­rung muß auf­ge­ho­ben wer­den, das Volks­ge­richt er­war­tet ihn, und ein schmäh­li­cher Tod drückt sein Sie­gel auf eine glän­zen­de Hel­den­lauf­bahn, um sie für alle Nach­welt zu ver­dun­keln. Nach der Schlacht bei Ma­ra­thon hat ihn der Neid der Himm­li­schen er­grif­fen. Und die­ser gött­li­che Neid ent­zün­det sich, wenn er den Men­schen ohne je­den Wett­kämp­fer geg­ner­los auf ein­sa­mer Ruh­mes­hö­he er­blickt. Nur die Göt­ter hat er jetzt ne­ben sich – und des­halb hat er sie ge­gen sich. Die­se aber ver­lei­ten ihn zu ei­ner That der Hy­bris, und un­ter ihr bricht er zu­sam­men.

      Be­mer­ken wir wohl, daß so wie Mil­tia­des un­ter­geht, auch die edels­ten grie­chi­schen Staa­ten un­ter­ge­hen, als sie, durch Ver­dienst und Glück, aus der Renn­bahn zum Tem­pel der Nike ge­langt wa­ren. Athen, das die Selb­stän­dig­keit sei­ner Ver­bün­de­ten ver­nich­tet hat­te und mit Stren­ge die Auf­stän­de der Un­ter­wor­fe­nen ahn­de­te, Spar­ta, wel­ches nach der Schlacht von Ägos­po­ta­moi in noch viel här­te­rer und grau­sa­me­rer Wei­se sein Über­ge­wicht über Hel­las gel­tend mach­te, ha­ben auch, nach dem Bei­spie­le des Mil­tia­des, durch Tha­ten der Hy­bris ih­ren Un­ter­gang her­bei­ge­führt, zum Be­wei­se da­für, daß ohne Neid, Ei­fer­sucht und wett­kämp­fen­den Ehr­geiz der hel­le­ni­sche Staat wie der hel­le­ni­sche Mensch ent­ar­tet. Er wird böse und grau­sam, er wird rach­süch­tig und gott­los, kurz, er wird »vor­ho­me­risch« – und dann be­darf es nur ei­nes pa­ni­schen Schre­ckens, um ihn zum Fall zu brin­gen und zu zer­schmet­tern. Spar­ta und Athen lie­fern sich an Per­si­en aus, wie es The­mi­sto­kles und Al­ci­bia­des gethan ha­ben; sie ver­rat­hen das Hel­le­ni­sche, nach­dem sie den edels­ten hel­le­ni­schen Grund­ge­dan­ken, den Wett­kampf, auf­ge­ge­ben ha­ben: und Alex­an­der, die ver­grö­bern­de Co­pie und Ab­bre­via­tur der grie­chi­schen Ge­schich­te, er­fin­det nun den Al­ler­welts-Hel­le­nen und den so­ge­nann­ten »Hel­le­nis­mus«. –

      (1871/72.)

      I. Vorrede, zu lesen vor den Vorträgen, obwohl sie sich eigentlich nicht auf sie bezieht.

      (1872.)

      Der Le­ser, von dem ich Et­was er­war­te, muß drei Ei­gen­schaf­ten ha­ben. Er muß ru­hig sein und ohne Hast le­sen. Er muß nicht im­mer sich selbst und sei­ne »Bil­dung« da­zwi­schen brin­gen. Er darf end­lich nicht, am Schlus­se, etwa als Re­sul­tat, neue Ta­bel­len er­war­ten. Ta­bel­len und neue Stun­den­plä­ne für Gym­na­si­en und and­re Schu­len ver­spre­che ich nicht, be­wun­de­re viel­mehr die über­kräf­ti­ge Na­tur Je­ner, wel­che im Stan­de sind, den gan­zen Weg, von der Tie­fe der Em­pi­rie aus bis hin­auf zur Höhe der ei­gent­li­chen Cul­tur­pro­ble­me und wie­der von da hin­ab in die Nie­de­run­gen der dürrs­ten Re­gle­ments und des zier­lichs­ten Ta­bel­len­werks zu durch­mes­sen; son­dern zu­frie­den, wenn ich, un­ter Keu­chen, einen ziem­li­chen Berg er­klom­men habe und mich oben des freie­ren Blicks er­freu­en darf, wer­de ich eben in die­sem Bu­che die Ta­bel­len­freun­de nie zu­frie­den­stel­len kön­nen. Wohl sehe ich eine Zeit kom­men, in der erns­te Men­schen, im Diens­te ei­ner völ­lig er­neu­ten und ge­rei­nig­ten Bil­dung und in ge­mein­sa­mer Ar­beit, auch wie­der zu Ge­setz­ge­bern der all­täg­li­chen Er­zie­hung – der Er­zie­hung zu eben je­ner Bil­dung – wer­den; wahr­schein­lich müs­sen sie dann wie­der­um Ta­bel­len ma­chen; aber wie fern ist die Zeit! Und was wird nicht Al­les in­zwi­schen ge­sche­hen sein! Vi­el­leicht liegt zwi­schen ihr und der Ge­gen­wart die Ver­nich­tung des Gym­na­si­ums, viel­leicht selbst die Ver­nich­tung der Uni­ver­si­tät, oder we­nigs­tens eine so to­ta­le Um­ge­stal­tung der eben ge­nann­ten Bil­dungs­an­stal­ten, daß de­ren alte Ta­bel­len sich spä­te­ren Au­gen wie Über­res­te aus der Pfahl­bau­ten­zeit dar­bie­ten möch­ten.

      Für die ru­hi­gen Le­ser ist das Buch be­stimmt, für Men­schen, wel­che noch nicht in die schwin­deln­de Hast un­se­res rol­len­den Zeit­al­ters hin­ein­ge­ris­sen sind und noch nicht ein göt­zen­die­ne­ri­sches Ver­gnü­gen dar­an emp­fin­den, wenn sie sich un­ter sei­ne Rä­der wer­fen, für Men­schen also, die noch nicht den Werth je­des Din­ges nach der Zei­ter­spar­niß oder Zeit­ver­säum­niß ab­zu­schät­zen sich ge­wöhnt ha­ben. Das heißt – für sehr we­ni­ge Men­schen. Die­se aber »ha­ben noch Zeit«, die­se dür­fen, ohne vor sich selbst zu er­rö­then, die frucht­bars­ten und kräf­tigs­ten Mo­men­te ih­res Ta­ges zu­sam­men su­chen, um über die Zu­kunft un­se­rer Bil­dung nach­zu­den­ken, die­se dür­fen selbst glau­ben, auf eine recht nutz­brin­gen­de und wür­di­ge Art bis zum Abend zu kom­men, näm­lich in der me­di­ta­tio ge­ne­ris fu­tu­ri. Ein sol­cher Mensch hat noch nicht ver­lernt zu den­ken, wäh­rend er liest, er ver­steht noch das Ge­heim­niß, zwi­schen den Zei­len zu le­sen, ja er ist so ver­schwen­de­risch ge­ar­tet, daß er gar noch über das Ge­le­se­ne nach­denkt – viel­leicht lan­ge nach­dem er das Buch aus den Hän­den ge­legt hat. Und zwar nicht, um eine Re­cen­si­on oder wie­der ein Buch zu schrei­ben, son­dern nur so, um nach­zu­den­ken! Leicht­sin­ni­ger Ver­schwen­der! Du bist mein Le­ser, denn du wirst ru­hig ge­nug sein, um mit dem Au­tor einen lan­gen Weg an­zu­tre­ten, des­sen Zie­le er nicht se­hen kann, an des­sen Zie­le er ehr­lich glau­ben muß, da­mit eine spä­te­re, viel­leicht fer­ne Ge­ne­ra­ti­on mit Au­gen sehe, wo­nach wir, blind und nur vom In­stinkt ge­führt, tas­ten. Wenn der Le­ser da­ge­gen mei­nen soll­te, es be­dür­fe nur ei­nes ge­schwin­den Sprungs, ei­ner froh­müthi­gen That, wenn er etwa mit ei­ner neu­en von Staats­we­gen ein­ge­führ­ten »Or­ga­ni­sa­ti­on« al­les We­sent­li­che für er­reicht hiel­te, so müs­sen wir fürch­ten, daß er we­der den Au­tor noch das ei­gent­li­che Pro­blem ver­stan­den hat.