Büchmann Georg

Geflügelte Worte: Der Citatenschatz des deutschen Volkes


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      In der attischen Komödie des fünften Jahrhunderts v. Chr. finden wir unter anderen Zügen der "goldenen Zeit" bei Krates (s. Athenaeus a. a. O.): "παρατίθου τράπεζα"—"Tisch, decke dich!", dem wir im deutschen Märchen wieder begegnen als

      Tischlein, decke dich!—

      Telekleides aber singt (ebenda): "ὀπταὶ κίχλαι μετ' ἀμητίσκων εἰς τὴν φάρυγ' εἰσεπέτοντο"—"Gebratene Krammetsvögel mit kleinen Kuchen flogen Einem in den Schlund hinein"; während sie nach Pherekrates (ebenda), sehnsüchtig verspeist zu werden, Einem "περὶ τὸ στόμ' ἐπέτοντο"—"um den Mund herumflogen". Der gleichen Vorstellung entsprang unser:

      Gebratene Tauben, die Einem ins Maul fliegen,

      von denen schon 1536 Hans Sachs ("Gedichte", Nürnb. 1558, S. 544) in seinem "Schlaweraffen Landt" weiss, so wie das in "les navigations de Panurge" (in d. 1547 zu Valence ersch. Nachdruck d. "Gargantua u. Pantagruel" von Rabelais) vorkommende:

      Il attend, ques les alouettes lui tombent toutes rôties

      (er erwartet, dass ihm die Lerchen ganz gebraten herabfallen).—

      Das Märchen vom Lande der Faullenzer (mittelhochdeutsch "slur"), bei uns

      Schlaraffenland

      genannt, ist den europäischen Völkern gemeinsam. "Das Schluraffenlandt" heisst es 1494 in Sebastian Brants "Narrenschiff" (Zarncke, S. 104), während es bei Hans Sachs (a. a. O.) "Schlaweraffen Landt" und "Schlauraffenlandt" lautet (s.: J. Pöschel in "Beitr. z. Gesch. d. deutschen Spr. u. Lit." Bd. 5, Halle 1878 u. F. Liebrechts Nachträge dazu in Gräbers "Zeitschr. f. roman. Philol." 3, 127).—

      Aus Hesiod ("W. u. T." 94 ff.) entnehmen wir ferner das beliebte Wort für etwas Unheilbergendes und Unheilausströmendes:

      Büchse der Pandora oder Pandorabüchse.

      Die Menschen, so erzählt er, lebten, bevor Zeus ihnen zur Strafe für den Feuerdiebstahl des Prometheus die Pandora mit der schreckensvollen Büchse sandte, ohne Drangsal, Krankheit und Alter;

      "ἀλλὰ γυνὴ χείρεσσι, πίθου μέγα πῶμ' ἀφελοῦσα,

      ἐσκέδασ' ἀνθρώποισι, δ' ἐμήσατο κήδεα λυγρά"

      "Aber das Weib hob ab von der Büchse den mächtigen Deckel,

      Streute mit Händen daraus: für die Menschheit sann sie auf Trübsal".

      Nur die Hoffnung blieb tückisch in der Büchse zurück.—

      Auch besingt Hesiod ("Theog." 311) zuerst den

      "Κέρβερον ὠμηστὴν, ἀίδεω κύνα χαλκεόφωνον,

      πεντηκοντοκάρηνον, ἀναιδέα τε κρατερόν τε ..."

      "Cerberus, der rohes Fleisch frisst, den Höllenhund mit der ehernen Stimme, den fünfzigköpfigen, frechen und starken", dessen Wächteramt vor den Thoren des Hades Vergil ("Aen." 6, 417 ff.) u. a. schildern. Wir nennen daher einen grimmigen Thürhüter einen

      Cerberus.—

      Im Aeschylus (525-456 v. Chr.) finden wir zuerst den Argus ("Ἱκέτιδες" 805), welcher die von der eifersüchtigen Juno in eine Kuh verwandelte Io zu hüten hatte, erwähnt als "den Alles sehenden Wächter"—"τὸν πάνθ' ὁρῶντα φύλακα". Daher nennen wir scharfe aufmerksame Augen

      Argusaugen.—

      Die Gelegenheit beim Schopf oder bei der Stirnlocke fassen

      citieren wir aus dem griechischen Mythus, nach welchem der durch Ion von Chios († 422 v. Chr.) besungene, in Olympia als Gott verehrte (Pausanias, V 14) Kairos (Καιρός, Occasio, die günstige Gelegenheit) mit lockigem Vorhaupt und kahlem Nacken im Davonfliegen geschildert wurde, da man die gute Gelegenheit hintennach zu spät ergreift. So beschreibt ihn uns (um 280 v. Chr.) im 13. Epigramm Posidipp ("Griech. Anthologie" IV) als vom Lysipp plastisch dargestellt.

      Ausonius (Epigr. 12) nennt nur deshalb Phidias als den Meister, weil ihm dessen Name besser in den Vers passt. Vrgl. auch Phaedrus ("Fab." V, 8) und Kallistrat ("Stat." 6).—

      Aus Sophokles (496-406 v. Chr.) erfahren wir ("Trach." 549 ff.), dass der wegen seines Angriffs auf Deïanira von deren Gatten Herkules durch einen Giftpfeil getötete Kentaur Nessus der Begehrten sterbend riet, sein Blut als Liebesmittel aufzubewahren, damit sie den Herkules dauernd an sich fesseln könne. Als dieser sich nun in Iole verliebte, sandte ihm die Gattin ein mit dem giftigen Blute bestrichenes Opferhemd. Herkules zog es an und verfiel in so rasenden Schmerz, dass er den Flammentod wählte. Daher gilt uns als etwas die höchste Pein Verursachendes das

      Nessushemd.—

      Grundloses, plötzliches Entsetzen nennen wir, wie die Alten, einen

      panischen Schrecken,

      oder, nach dem französischen "panique", eine

      Panik;

      

      denn Griechen und Römer führten den im Heerlager durch blinden Lärm hervorgerufenen nächtlichen Schrecken (seltener den bei Tage) auf Pan zurück. Im pseudoeuripideïschen "Rhesus" (36 ff.) fragt Hektor den Chor, der ihn nachts zu den Waffen ruft:

      "ἀλλ' ἦ Κρονίου Πανὸς τρομερᾷ

      μαστίγι φοβεῖ, φυλακὰς δὲ λιπών

      κινεῖς στρατιάν;"

      "Sag', bist du erschreckt von dem schwirrenden Schwung

      Der Geissel des Pan, des Kroniden, und liess'st

      Den Posten im Stich, erregend das Heer?"

      Eratosthenes ("Katast." 27) meldet vom Pan, er habe durch Blasen auf einer Seemuschel die Titanen in die Flucht gejagt, und Hygin ("Poet. Astr." 2, 28) lässt ihn dasselbe durch Werfen mit Muscheln erreichen. Valerius Flaccus (3, 46) hingegen besingt den nächtlichen Schrecken, den Pans Stimme verbreitet, und Plutarch ("Is. u. Osir." 14) erwähnt die durch Pane und Satyrn in Ägypten erregten "panischen Schrecken" ("ταραχὰς πανικάς"); während Polyaenus ("Strateg." 1, 2) die Feinde des bacchischen Heeres durch Pans wildes, vom Echo vermehrtes Geschrei in die Flucht treiben lässt (vrgl. Auct. "de incredibilibus" 11, ed. Teucher 1796). Die 11. "orphische Hymne" nennt Pan (7):

      "φαντασιῶν ἐπαρωγέ, φόβων ἔκπαγλε βροτείων",

      "Bringer der Schreckphantasie'n, Erreger der menschlichen Ängste",

      (23)

      "Πανικὸν ἐκπέμπων οἶστρον ἐπὶ τέρματα γαίης",

      "Bis zu den Grenzen der Erd' entsendend das panische Rasen".

      Und nicht allein Dichter und Mythographen, auch Geschichtsschreiber wissen davon zu erzählen.

      Xenophon ("Anab." 2, 2) und Aeneas Tacticus (27) geben verschiedene Mittel an, nachts im Lager die Mannszucht aufrecht zu erhalten, damit nicht der "panische Schrecken" um sich greife. Dies muss sehr nötig gewesen sein; denn Pausanias (10, 23) berichtet über die von den Macedoniern geschlagenen Gallier unter Brennus: "In der Nacht