George Sand

Gesammelte Werke


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Wahr­heit. Aber ihr könn­tet mich nicht fas­sen, ohne al­les auf­zu­op­fern, was jetzt eure Ruhe, eure Re­li­gi­on und eure Si­cher­heit aus­macht. Wenn un­will­kür­lich mir in ei­nem Au­gen­bli­cke der Be­geis­te­rung ei­ni­ge un­vor­sich­ti­ge Wor­te ent­fah­ren, so sehe ich bald dar­auf, dass ich euch furcht­bar weh ge­tan, in­dem ich eue­ren Wahn ent­wur­zeln und vor eu­ern schwa­chen Au­gen die leuch­ten­de Fa­ckel, die in mei­ner Hand ist, schwin­gen woll­te. Al­les, je­des, alle Ge­wohn­hei­ten eu­res Le­bens, alle Fi­bern eu­res Her­zens, alle Fe­dern eu­res Geis­tes, al­les ist so ge­bun­den, ver­strickt und ge­schmie­det an das Joch der Lüge, an das Ge­setz der Fins­ter­nis, dass mir däucht, ich gebe euch den Tod, in­dem ich euch den Glau­ben ge­ben will. Und doch ist eine Stim­me, die zu mir ruft im Wa­chen und im Schla­fe, im Stil­len und im Stur­me, euch zu er­leuch­ten und euch zu be­keh­ren. Aber ich bin ein zu wei­cher, ein zu schwa­cher Mensch, als dass ich es un­ter­neh­men könn­te. Wenn ich eue­re Au­gen voll Trä­nen, eure Brust ge­schwellt, eure Stirn nie­der­ge­schla­gen sehe, wenn ich füh­le, dass ich euch in Trau­rig­keit und Schre­cken ver­set­ze, dann flie­he ich, dann ver­ber­ge ich mich, um dem lau­ten Rufe mei­nes Ge­wis­sens, um dem Auf­trag, der mir ge­wor­den ist, zu wi­der­ste­hen. Das ist mein Lei­den, das mein Kreuz und mei­ne Mar­ter; be­grei­fet ihr mich jetzt?

      Mein On­kel, mei­ne Tan­te und der Ka­plan be­grif­fen ei­ni­ger­ma­ßen, dass Al­bert sich eine Moral, eine Re­li­gi­on, die von der ih­ri­gen gänz­lich ab­wich, ge­macht hät­te; aber ängst­lich, wie from­me Leu­te sind, fürch­te­ten sie zu weit zu ge­hen, und wag­ten es nicht, sei­ne Of­fen­her­zig­keit noch mehr auf­zu­mun­tern. Ich, die ich von den nä­he­ren Um­stän­den sei­ner Kind­heit und sei­ner frü­he­s­ten Ju­gend bis da­hin nur ganz dun­kel et­was ver­nom­men hat­te, ver­stand kein Wort. Au­ßer­dem ging es mir da­mals bei­na­he ganz wie Ih­nen neu­lich, Nina! ich wuss­te kaum, was es mit die­sen Hus­si­ten und die­sem Luther­tum auf sich hät­te, wo­von ich spä­ter so oft habe re­den hö­ren, und wor­über ich die jäm­mer­lichs­te Lan­ge­wei­le hat­te, wenn Al­bert und der Ka­plan die strei­ti­gen Leh­ren durch­foch­ten. Ich war­te­te also voll Un­ge­duld auf eine aus­führ­li­che­re Er­klä­rung, aber sie er­folg­te nicht.

      – Ich sehe, sag­te Al­bert, von dem Schwei­gen um ihn her be­trof­fen, dass ihr mich nicht ver­ste­hen wollt, aus Furcht, mich zu gut zu ver­ste­hen. So ge­sch­ehe es denn nach eu­e­rem Wil­len! Eue­re Ver­blen­dung hat seit Lan­gem mir das her­be Loos be­rei­tet, wel­ches mich be­trof­fen hat. Ewig un­glück­lich, ewig al­lein, ewig ein Fremd­ling un­ter de­nen, die ich lie­be, habe ich kei­ne Zuf­lucht, kei­ne Stüt­ze als an dem Tros­te, wel­cher mir ver­hei­ßen ist.

      – Was für ein Trost ist das, mein Sohn? frag­te Graf Chris­ti­an, töd­lich be­trübt. Kön­nen wir ihn dir nicht bie­ten, kön­nen wir nie da­hin ge­lan­gen, uns zu ver­ste­hen? – Nie, mein Va­ter! Lie­ben wir uns, da uns das al­lein ver­gönnt ist! Der Him­mel ist mein Zeu­ge, dass die un­ge­heue­re, un­aus­füll­ba­re Kluft zwi­schen uns die Lie­be, die ich zu euch tra­ge, nie in mir hat wan­deln kön­nen.

      – Und ist das nicht ge­nug? sag­te das Stifts­fräu­lein, ihn bei ei­ner Hand er­grei­fend, wäh­rend ihr Bru­der Al­ber­t’s an­de­re Hand in den sei­ni­gen drück­te; kannst du dich dei­ner selt­sa­men Ide­en, dei­ner wun­der­li­chen Glau­bens­mei­nun­gen nicht ent­schla­gen, um in un­se­rer Mit­te ganz der Lie­be zu le­ben?

      – Der Lie­be lebe ich, ver­setz­te Al­bert. Die Lie­be ist ein Gut, das sich ent­we­der in Won­ne oder un­ter Schmer­zen gibt und nimmt, je nach­dem der re­li­gi­öse Glau­be über­ein­stim­mend oder ent­ge­gen­ge­setzt ist. Un­se­re Her­zen stim­men über­ein, o mei­ne Tan­te Wences­la­wa! aber un­se­re Geis­ter be­krie­gen sich, und das ist ein großes Un­glück für uns alle. Ich weiß, dass es nicht en­den wird vor meh­re­ren Jahr­hun­der­ten, und des­halb will ich in dem ge­gen­wär­ti­gen nur des Gu­tes har­ren, wel­ches mir ver­hei­ßen ist, und wel­ches mir Kraft schen­ken wird, zu hof­fen.

      – Was für ein Gut, Al­bert? Kannst du es nicht sa­gen?

      – Nein! ich kann es nicht sa­gen, weil ich es nicht weiß; aber kom­men wird es. Mei­ne Mut­ter ließ eine Wo­che ver­ge­hen, ohne es mir im Trau­me an­zu­zei­gen, und alle Stim­men des Wal­des ha­ben es mir wie­der­holt, so oft ich sie be­frag­te. Ein En­gel schwebt oft her­nie­der, und zeigt mir ihr blas­ses, leuch­ten­des Ant­litz über dem Schre­cken­stein; über je­nem düs­te­ren Ort, im Schat­ten je­ner Ei­che, wo ich, als mich die Men­schen, mei­ne Zeit­ge­nos­sen, Zis­ka nann­ten, hin­ge­ris­sen ward vom Zor­ne des Herrn, zum ers­ten Male ein Werk­zeug sei­ner Ra­che ward; am Fuße je­nes Fel­ses, wo ich, als ich Wra­tis­law hieß, un­ter ei­nem Schwert­streich rol­len sah das ver­stüm­mel­te, ent­stell­te Haupt mei­nes Va­ters Wi­thold, – furcht­ba­re Buße, die mich lehr­te, was Schmerz und was Er­bar­men ist, schick­sals­schwe­rer Tag der Ver­gel­tung, wo lu­the­ri­sches Blut das ka­tho­li­sche ab­wusch, und wo ich ein schwa­cher, zar­t­emp­fin­den­der Mensch wur­de aus ei­nem fa­na­ti­schen Wür­ger, was ich hun­dert Jah­re zu­vor ge­we­sen war …

      – All­gü­ti­ger Gott! rief mei­ne Tan­te, sich be­kreu­zi­gend, ein Wahn­sinn er­greift ihn wie­der.

      – Wi­der­sprich ihm nicht, Schwes­ter! sag­te Graf Chris­ti­an, in­dem er sich selbst mit großer An­stren­gung Ge­walt an­tat; lass ihn sich aus­spre­chen! Sprich, mein Sohn! was sag­te dir der En­gel auf dem Schre­cken­stei­ne?

      – Er sag­te mir, mein Trost sei nahe, ant­wor­te­te Al­bert mit ei­nem von Ent­zücken strah­len­den Ge­sicht, er wer­de sich sen­ken in mein Herz, so­bald ich mein neun und zwan­zigs­tes Jahr vollen­det hät­te.

      Mein On­kel ließ sei­nen Kopf auf sei­ne Brust sin­ken. Al­bert schi­en auf sei­nen Tod an­zu­spie­len, in­dem er das Al­ter be­zeich­ne­te, in wel­chem sei­ne Mut­ter ge­stor­ben war, und es scheint, dass sie wäh­rend ih­rer Krank­heit öf­ters vor­aus­ge­sagt hat, we­der sie noch ihre Söh­ne wür­den drei­ßig Jah­re alt wer­den. Es scheint, dass mei­ne Tan­te Wan­da auch ein we­nig – um nicht mehr zu sa­gen – er­leuch­tet war, aber ich habe nie über die­sen Punkt et­was Ge­nau­e­res er­fah­ren kön­nen. Es ist für mei­nen On­kel eine zu schmerz­li­che Erin­ne­rung und nie­mand von sei­ner Um­ge­bung wagt es, sie in ihm zu we­cken.

      Der Ka­plan ver­such­te den trü­ben Ge­dan­ken, den die­se Vor­her­sa­ge er­regt hat­te, zu ent­fer­nen, in­dem er Al­bert auf­for­der­te, sich über den Abbé aus­zu­spre­chen. Da­mit hat­te ja die gan­ze Un­ter­hal­tung be­gon­nen.

      Al­bert mach­te nun auch eine An­stren­gung, ihm Ant­wort zu ge­ben.

      – Ich rede euch von himm­li­schen und ewi­gen Din­gen, ent­geg­ne­te er nach ei­nem kur­z­en Zau­dern, und ihr hal­tet mich bei den, kur­z­en, flüch­ti­gen Mo­men­ten fest, bei den kin­di­schen, vor­über­schwin­den­den Sor­gen, de­ren Erin­ne­rung schon aus mei­ner See­le weicht.

      – Sprich nur, mein Sohn! sprich wei­ter, ant­wor­te­te Graf Chris­ti­an, wir müs­sen heut dich ken­nen ler­nen.

      – Sie ha­ben mich nicht ge­kannt, mein Va­ter! und wer­den mich nicht ken­nen in – die­sem Le­ben, wie Ihr’s nennt. Je­doch wenn Sie wis­sen wol­len, warum ich reis­te, warum ich ihn er­trug, die­sen un­ge­treu­en, un­acht­sa­men Hü­ter, den Sie an mei­ne Schrit­te ge­fes­selt hat­ten wie einen ge­frä­ßi­gen, fau­len Hund an den Arm ei­nes Blin­den,