sanftes und geduldiges Wesen. Ich habe ihm mein Herz und meine Ohren verschlossen; es war ihm auch gar nicht darum zu tun, mich zu bewegen, dass ich sie ihm öffnete. Er führte mich spazieren, versorgte mich mit Kleidung, Essen, wie ein Kind. Ich verzichtete darauf, nach meiner Weise zu leben; ich gewöhnte mich daran, Unglück, Ungerechtigkeit und Unsinn auf der Erde herrschen zu sehen. Ich sah die Menschen und ihre Einrichtungen, der Unwille hat in meinem Herzen dem Mitleid Platz gemacht, denn ich gewahrte, dass das Unglück der Unterdrückten kleiner ist als das der Unterdrücker. In meiner Kindheit hatte ich nur für die Schlachtopfer ein Herz; mich ergriff nun Mitleid mit den Henkern, den bejammernswerten Büßern, die in ihrem gegenwärtigen Dasein die Strafe der Verbrechen tragen, welche sie in ihren früheren Zuständen begangen haben, und welche Gott dazu verdammt hat, böse zu sein, ein tausendmal härteres Loos als das ist, ihr unschuldiges Opfer zu werden. Seht, deshalb gebe ich nur noch Almosen, um mir selbst die Last des Reichtums leichter zu machen, ohne euch mit meinen Predigten zu quälen, denn ich weiß jetzt, dass die Zeit, glücklich zu sein, noch nicht gekommen ist, weil, um menschlicherweise zu reden, die Zeit, gut zu sein, noch fern ist.
– Und jetzt, wo du diesen Wächter, wie du ihn nanntest, los bist, jetzt, wo du in Ruhe leben kannst, ohne das Schauspiel von Not und Elend vor Augen zu haben, die du um dich her, Schritt für Schritt, vertilgst, ohne dass sich jemand deinem edlen Hange widersetzt, sage, kannst du jetzt nicht eine Anstrengung gegen dich selbst machen, um deine inneren Aufregungen zu unterdrücken?
– Fraget mich nichts mehr, meine Lieben! antwortete Albert; ich werde heute nichts weiter sagen.
Er hielt, Wort und mehr; denn er tat eine ganze Woche lang die Lippen nicht auf.
2.
Albert’s Geschichte wird sich mit wenigen Worten beenden lassen, liebe Porporina, denn wenn ich nicht immer dasselbe wiedererzählen will, so habe ich beinah nichts mehr mitzuteilen. Das Betragen meines Vetters während der achtzehn Monate, die ich hier zugebracht habe, ist nur eine beständige Wiederholung der Wunderlichkeiten gewesen, welche Sie nun kennen. Nur dass seine vorgebliche Erinnerung dessen, was er in früheren Jahrhunderten gewesen und erlebt, einen Anstrich von erschreckender Wirklichkeit erhielt, als Albert eine sonderbare und wahrhaft unerhörte Fähigkeit zu entwickeln anfing, von der Sie vielleicht schon haben reden hören, an die ich aber nicht glaubte, bevor ich den Beweis an ihm vor Augen sah. Eine Fähigkeit, die, wie man sagt, in anderen Ländern, »das zweite Gesicht« genannt wird, wo diejenigen, die in Besitz derselben sind, einer großen Verehrung unter dem abergläubischen Volke genießen. Ich für mein Teil weiß nicht, was ich davon denken soll und werde mich hüten, Ihnen so etwas wie eine vernünftige Erklärung der Sache anzubieten; aber ich finde einen Grund mehr darin, niemals die Frau eines Mannes zu werden, der, auf hundert Meilen weit, alle meine Handlungen sehen, der fast in meinen Gedanken lesen könnte. Eine solche Frau müsste zum mindesten eine Heilige sein, und – denken Sie! das mit einem Manne, der dem Teufel ergeben zu sein scheint!
– Sie haben die Gabe, über alles zu scherzen, sagte Consuelo, und ich bewundere die Heiterkeit, mit welcher Sie von Dingen reden, die mir die Haare zu Berge treiben. Worin besteht denn dieses »zweite Gesicht?«
– Albert sieht und hört, was kein anderer sehen und hören kann. Wenn jemand, den er liebt, kommen soll, den in der Tat kein Mensch erwartet, so weiß er es, und geht ihm eine Stunde weit entgegen. Ebenso zieht er sich zurück und schließt sich in seinem Zimmer ein, wenn er jemanden, der ihm unangenehm ist, in weiter Ferne spürt.
Eines Tages, als er mit meinem Vater spazieren ging, hielt er auf einem Bergpfad plötzlich an und machte einen großen Umweg durch Gestein und Dorn, um eine gewisse Stelle nicht zu betreten, die indessen nichts Besonderes hatte. Einige Augenblicke später kamen sie an denselben Ort zurück und Albert machte dasselbe Manöver. Mein Vater, der dies sah, tat als ob er etwas verloren hätte und versuchte ihn an eine alte Tanne zurückzuführen, welche der Gegenstand seines Widerwillens zu sein schien. Nicht nur vermied es Albert, sich dem Baum zu nahen, sondern er umging sogar den Schatten, welchen derselbe über den Weg warf, und verriet, als mein Vater über diesen Schatten hin und her schritt, ein Unbehagen und eine Angst zum Erstaunen. Da mein Vater zuletzt hart am Stamme des Baumes stehen blieb, stieß Albert einen Schrei aus und rief ihn hastig von dort hinweg. Er weigerte sich lange, sich über diesen Einfall zu erklären, und erst, nachdem ihn die ganze Familie mit Bitten bestürmt hatte, sagte er, der Baum bezeichne ein Grab, und ein großes Verbrechen sei an dieser Stelle verübt worden.
Der Kaplan hielt es für seine Pflicht, wenn Albert Kunde von einer ehedem an dieser Stelle begangenen Mordtat hätte, nähere Auskunft zu verlangen, um vielleicht verlassene Gebeine der Grabesruhe zu übergeben.
– Hüten Sie sich! sagte Albert mit dem spottenden und zugleich wehmütigen Ton, den er oft anzunehmen weiß. Der Mann, das Weib und das Kind, die Sie da finden werden, waren Hussiten; der trunkene Wenceslas hat sie von seinen Soldaten umbringen lassen, als er sich in einer Nacht in unsern Wäldern versteckte und von ihnen bemerkt und verraten zu werden fürchtete.
Man sprach mit meinem Vetter nicht weiter über diese Sache. Aber mein Oheim wollte wissen, ob es auf Seiten Albert’s eine Eingebung oder eine Grille gewesen und ließ über Nacht an dem Orte, den mein Vater bezeichnete, nachgraben. Wirklich fand man die Skelette eines Mannes, Weibes und Kindes, und der Mann war mit einem jener ungeheuern hölzernen Schilde bedeckt, welche die Hussiten trugen, kenntlich an dem Kelch und der Umschrift: O mors, quam est amara memoria tua hominibus injustis etc.1
Man trug diese Gebeine tiefer in den Wald und mein Vater bemerkte später mehrmals, dass Albert an der Tanne, wo man die aufgegrabene Stelle vorsichtig wieder mit Erde und Steinen bedeckt hatte, ohne Widerstreben vorüberging. Er dachte nicht einmal mehr an die Aufregung, in welcher er sich bei jener Gelegenheit befunden hatte, und konnte sich nur mit Mühe darauf besinnen, als man ihn daran erinnerte.
– Ihr täuscht euch wohl, sagte er zu seinem Vater, es muss eine andere Stelle gewesen sein, wo sich’s mir anzeigte. Hier ist ganz gewiss nichts, denn ich spüre keinen Frost, keinen Schmerz, kein Zittern in meinem Körper.
Meine Tante hatte eine große Neigung, dieses Ahnungsvermögen einer besondern Gunst des Himmels beizumessen. Aber Albert ist so finster, so gepeinigt und so unglücklich, dass man nicht begreift, warum der Himmel ihm ein so schädliches Geschenk verliehen haben sollte. Wenn ich an den Teufel glaubte, so würde ich die Meinung des Kaplans,