George Sand

Gesammelte Werke


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bei­sprin­gen, han­deln sie klug, zu glau­ben, dass sie mit Ge­be­ten und mit Un­ter­wür­fig­keit ge­gen Kai­ser und Papst den Him­mel eher ge­win­nen wer­den als mit großen Ta­ten und ge­wal­ti­gen Op­fern!

      Nein, Al­bert ist nicht toll; eine Stim­me sagt es mir in der Tie­fe mei­ner See­le, dass er das schöns­te Mus­ter­bild ei­nes Hei­li­gen und Ge­rech­ten ist, das aus den Hän­den der Na­tur her­vor­ge­gan­gen. Und wenn schwe­re Träu­me, selt­sa­me Täu­schun­gen die Klar­heit sei­ner Ver­nunft um­dun­kelt ha­ben, wenn er geis­te­sirr ist, wie sie glau­ben, so trägt die Schuld da­von al­lein ihr blin­des Wi­der­stre­ben, die­ser Man­gel an al­ler in­ne­ren Ge­mein­schaft, die Ver­ein­sa­mung des Her­zens.

      Ich habe die Zel­le ge­se­hen, wo Tas­so als toll ein­ge­schlos­sen war, und ich habe mir ge­dacht, viel­leicht war er nur durch Un­ge­rech­tig­kei­ten wild ge­macht. Ich habe die großen Hei­li­gen der Chris­ten­heit, de­ren rüh­ren­de Ge­schich­te mich als Kind zu Trä­nen und Ge­dan­ken brach­te, in den Sa­lons von Ve­ne­dig tol­le Men­schen nen­nen hö­ren, ihre Wun­der Ta­schen­spie­ler­stück­chen und ihre Of­fen­ba­run­gen kran­ke Hirn­ge­spinns­te.

      Aber mit wel­chem Rech­te spre­chen die­se Leu­te hier, die­ser from­me Greis, die­ses furcht­sa­me Fräu­lein, die an die Wun­der der Hei­li­gen und an den Ge­ni­us der Dich­ter glau­ben, über ihr Kind das Ur­teil ei­ner Schmach und Stra­fe, die nur Geis­tes­schwa­che und Ver­wor­fe­ne tref­fen soll­te!

      Toll! Aber es ist et­was Furcht­ba­res, et­was Zu­rück­sto­ßen­des, die Toll­heit! ein gött­li­ches Ge­richt über ent­setz­li­che Ver­bre­chen. Und aus Tu­gend soll­te ein Mensch toll wer­den! Ich dach­te im­mer, es wäre ge­nug, un­ter der Last ei­nes un­ver­dien­ten Un­glücks zu wan­ken, um An­spruch auf die Ach­tung wie auf das Mit­leid der Men­schen zu ha­ben.

      Und wenn ich – wenn ich nun toll ge­wor­den wäre, wenn ich den fürch­ter­li­chen Tag ver­flucht hät­te, wo ich An­zo­le­to in den Ar­men ei­ner an­de­ren sah, ich wür­de also auch je­den An­spruch auf treu­en Rat, auf Trost und geis­ti­ge Er­qui­ckung von den Chris­ten, mei­nen Brü­dern, ein­ge­büßt ha­ben? Man hät­te mich also hin­aus­ge­sto­ßen, oder mich auf den Stra­ßen al­lein um­her­ir­ren las­sen und ge­sagt: Ihr ist nicht zu hel­fen, man muss ihr Al­mo­sen ge­ben und nicht mit ihr re­den, denn sie hat zu viel ge­lit­ten und dar­über den Ver­stand ver­lo­ren?

      Ja, so be­han­deln sie die­sen un­glück­li­chen Gra­fen Al­bert. Sie ge­ben ihm zu es­sen, klei­den ihn, war­ten ihn, rei­chen ihm, mit ei­nem Wor­te, das Al­mo­sen ei­ner kin­di­schen Pfle­ge.

      Aber mit ihm re­den? Nein! man schweigt, wenn er fragt, man senkt den Kopf oder wen­det sich weg, wenn er zu über­zeu­gen sucht. Man lässt ihn flie­hen, wenn das grau­en­vol­le Ge­fühl der Ein­sam­keit ihn in noch tiefe­re Ein­sam­kei­ten treibt und war­tet auf sei­ne Zu­rück­kunft, Gott bit­tend, über ihn zu wa­chen und ihn frisch und ge­sund wie­der heim zu brin­gen, als ob der Ozean zwi­schen ihm und de­nen, die ihn lie­ben, läge. Und doch denkt man, er sei nicht fern, doch lässt man mich sin­gen, um ihn zu we­cken, falls er etwa im hoh­len In­nern ir­gend ei­ner Wand oder im Stam­me ei­nes al­ten Baums der Nach­bar­schaft ver­bor­gen von sei­nem le­thar­gi­schen Schla­fe ge­fes­selt läge. Und man hat nicht alle ge­hei­men Schlupf­win­kel die­ses al­ten Bau­es auf­zu­spü­ren ge­wusst, man hat sich nicht bis in die Ein­ge­wei­de die­ses unter­höhlten Bo­dens hin­ein­ge­gra­ben!

      Ach! ich soll­te Al­ber­t’s Va­ter oder Tan­te sein, ich hät­te kei­nen Stein auf dem an­de­ren ge­las­sen, bis er ge­fun­den wäre; kein Baum des Wal­des wäre ste­hen ge­blie­ben, bis ich ihn wie­der­ge­habt hät­te.

      Mit die­sen Ge­dan­ken be­schäf­tigt, hat­te Con­sue­lo ge­räusch­los das Ora­to­ri­um des Gra­fen Chris­ti­an ver­las­sen, da sie, ohne zu wis­sen wie, eine Tür ge­fun­den hat­te, die ins Freie führ­te. Sie ver­lor sich in den Wald, wo sie die wil­des­ten be­schwer­lichs­ten Pfa­de auf­such­te, von ei­nem ro­man­ti­schen und hel­den­mü­ti­gen Trie­be ge­lei­tet, der ihr die Hoff­nung vor­hielt, Al­bert zu fin­den. Kei­ne nied­ri­ge Sucht, kein Schat­ten ei­ner un­be­son­ne­nen Vor­spie­ge­lung dräng­te sie zu die­sem aben­teu­er­li­chen Be­gin­nen.

      Al­bert er­füll­te ihre Ein­bil­dung und be­schäf­tig­te ihre Ge­dan­ken al­ler­dings ganz, aber in ih­ren Au­gen war es nicht ein schö­ner und von ihr ein­ge­nom­me­ner jun­ger Mann, den sie an den ein­sa­men Or­ten such­te, um ihn zu se­hen und mit ihm al­lein zu sein; es war ein ed­ler Un­glück­li­cher, den sie sich ein­bil­de­te ret­ten oder we­nigs­tens durch die Rein­heit ih­res Ei­fers be­schwich­ti­gen zu kön­nen. Sie wür­de eben­so einen ehr­wür­di­gen er­krank­ten Ere­mi­ten auf­ge­sucht ha­ben, um ihn zu pfle­gen, oder ein ver­lo­ren ge­gan­ge­nes Kind, um es sei­ner Mut­ter zu­rück­zu­brin­gen.

      Sie war selbst ein Kind, und doch war in ihr eine Of­fen­ba­rung der Mut­ter­lie­be, es war in ihr ein kind­li­cher Glau­be, eine bren­nen­de Lie­be, ein be­geis­ter­ter Mut. Sie träum­te und un­ter­nahm die­se Pil­ger­schaft wie Jo­han­na d’Arc die Be­frei­ung ih­res Va­ter­lan­des ge­träumt und un­ter­nom­men hat­te. Es kam ihr gar nicht in Ge­dan­ken, dass es mög­lich wäre, ih­ren Ent­schluss zu ta­deln oder lä­cher­lich zu fin­den; sie konn­te es nicht be­grei­fen, wie nicht Ama­lie, durch die Stim­me des Bluts oder An­fangs durch die Hoff­nun­gen der Lie­be, zu dem­sel­ben Un­ter­neh­men sich habe an­ge­trie­ben füh­len und es glück­lich vollen­den müs­sen.

      Sie ging mit schnel­len Schrit­ten: kein Hin­der­nis hielt sie auf. Das Schwei­gen die­ser großen Wäl­der wirk­te nicht mehr Trau­rig­keit und Furcht in ih­rer See­le. Sie sah die Fähr­te der Wöl­fe im San­de und es bang­te ihr nicht, ih­rer hung­ri­gen Rot­te zu be­geg­nen. Es war ihr, als ob eine himm­li­sche Hand sie vor­wärts trie­be, wel­che sie un­ver­letz­lich mach­te. Sie, die den Tas­so aus­wen­dig wuss­te, weil sie ihn alle Nacht auf den La­gu­nen ge­sun­gen hat­te, dünk­te sich wie der hoch­her­zi­ge Ubald, der den Rinal­do sucht, un­ter dem Schut­ze ih­res Ta­lis­mans durch die Schre­cken des Zau­ber­walds hin­durch zu schrei­ten.

      Sie schritt leicht und be­händ über Wur­zeln und Ge­stein, die Stir­ne leuch­tend von in­ner­li­chem Stolz und die Wan­gen von ei­ner leich­ten Röte über­flo­gen. Nie war sie auf der Büh­ne in he­ro­i­schen Rol­len schö­ner ge­we­sen; ach, und sie dach­te eben so we­nig jetzt an die Büh­ne als sie die Büh­ne be­tre­tend da­mals an sich ge­dacht hat­te.

      Von Zeit zu Zeit blieb sie sin­nend und in sich ver­sun­ken ste­hen.

      – Und wenn ich plötz­lich auf ihn trä­fe, sag­te sie zu sich, was wür­de ich ihm sa­gen, das ihn über­zeu­gen und be­ru­hi­gen könn­te? Ich ver­ste­he nichts von je­nen mys­te­ri­ösen, tie­fen Sa­chen, wel­che sein Ge­müt be­we­gen. Ich er­ken­ne sie nur durch einen poe­ti­schen Schlei­er, den man kaum ge­lüf­tet hat vor mei­nen, von der Neu­heit sol­cher Er­schei­nun­gen noch ge­blen­de­ten Au­gen.

      Ich müss­te mehr als Ei­fer und Men­schen­lie­be ha­ben, ich müss­te Wis­sen­schaft be­sit­zen und Be­red­sam­keit, um Wor­te zu fin­den, ei­nes mir so über­le­ge­nen Man­nes wür­dig, ei­nes Nar­ren, der so wei­se ne­ben al­len den ver­nünf­ti­gen We­sen, die ich ken­nen ge­lernt, er­scheint. Nun wohl! Gott wird mich spre­chen leh­ren, wenn es Zeit sein wird, denn ich al­lein, ich könn­te im­mer­hin su­chen, ich wür­de mich nur mehr