Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke


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wor­den. Nie ist eine Kar­te zwi­schen zwölf und vier­zehn Uhr ab­ge­legt. Dann zwan­zig Pro­zent wie­der zwi­schen vier­zehn und zwan­zig Uhr. Daraus folgt, dass der Kar­ten­schrei­ber, der be­stimmt mit dem Ver­tei­ler iden­tisch ist, re­gel­mä­ßig von zwölf bis vier­zehn Uhr Mit­tag isst, dass er nachts ar­bei­tet, je­den­falls nie am Vor­mit­tag, sel­ten am Nach­mit­tag. Neh­me ich eine Fund­stel­le, sa­gen wir am Alex, stel­le ich fest, dass die Kar­te um elf Uhr fünf­zehn ab­ge­legt wor­den ist, neh­me ich nun die Ent­fer­nung, die ein Mann in fünf­und­vier­zig Mi­nu­ten ge­hen kann, näm­lich bis zwölf Uhr, und schla­ge ich mit dem Zir­kel einen Kreis um die Fund­stel­le, so tref­fe ich stets nörd­lich auf die­sen Fleck, der frei von Fähn­chen ist. Das trifft mit ei­ni­gen Ein­schrän­kun­gen, die man dar­um ma­chen muss, weil nicht jede Fund­zeit mit der Ab­le­ge­zeit iden­tisch ist, auf alle Fund­stel­len zu. Daraus schlie­ße ich ers­tens: der Mann ist sehr pünkt­lich. Zwei­tens: er liebt es nicht, öf­fent­li­che Ver­kehrs­mit­tel zu be­nut­zen. Er wohnt in je­nem Drei­eck, des­sen Sei­ten von der Greifs­wal­der, Dan­zi­ger und Prenz­lau­er Stra­ße be­grenzt wer­den, und zwar in dem nörd­li­chen Ende die­ses Drei­ecks, ver­mut­lich in der Cho­do­wiecki-, der Ja­blon­ski- oder der Christ­bur­ger Stra­ße.«

      »Ganz aus­ge­zeich­net, Herr Kri­mi­nal­rat!«, sag­te der Ober­grup­pen­füh­rer im­mer ent­täusch­ter. »Üb­ri­gens er­in­ne­re ich mich, dass schon Esche­rich die­se Stra­ßen ge­nannt hat. Er mein­te nur, eine Haus­su­chung sei nutz­los. Wie den­ken Sie über eine Haus­su­chung?«

      »Ei­nen Au­gen­blick, bit­te«, sag­te Zott und hob die klei­ne Hand, die von all dem Ak­ten­pa­pier, auf dem sie ge­le­gen, et­was Ver­gilb­tes an­ge­nom­men zu ha­ben schi­en. Jetzt war er wirk­lich tief ver­letzt. »Ich möch­te Ih­nen mei­ne Er­geb­nis­se ge­nau vor­tra­gen, da­mit Sie es selbst über­se­hen kön­nen, ob die von mir vor­zu­schla­gen­den Maß­nah­men auch zweck­mä­ßig sind …«

      Will sich si­chern, der klei­ne Schlau­fuchs!, dach­te Prall bei sich. Na war­te, bei mir gib­t’s kei­ne Si­che­run­gen, und wenn ich mit dir Schlit­ten fah­ren will, tu ich’s doch!

      »Se­hen wir die­se Ta­bel­le wei­ter an«, do­zier­te der Kri­mi­nal­rat fort, »so fin­den wir, dass alle Kar­ten an Wo­chen­ta­gen ab­ge­legt sind. Daraus müs­sen wir schlie­ßen, dass der Mann an Sonn­ta­gen sei­ne Woh­nung nicht ver­lässt. Der Sonn­tag ist sein Schrei­be­tag, was auch da­durch er­här­tet wird, dass die meis­ten Kar­ten am Mon­tag oder Diens­tag ge­fun­den wer­den. Der Mann hat es im­mer ei­lig, die­ses be­las­ten­de Ma­te­ri­al aus dem Haus zu be­kom­men.«

      Der klei­ne Spitz­bauch hob den Fin­ger. »Eine Aus­nah­me bil­den al­lein die neun Kar­ten, die süd­lich des Nol­len­dorf­plat­zes ge­fun­den wor­den sind. Sie sind alle an Sonn­ta­gen ab­ge­legt wor­den, meist mit fast vier­tel­jähr­li­chem Ab­stand und stets am spä­ten Nach­mit­tag oder frü­hen Abend. Woraus zu schlie­ßen ist, dass der Schrei­ber dort einen Ver­wand­ten, viel­leicht eine alte Mut­ter, zu woh­nen hat, der er in re­gel­mä­ßi­gen Ab­stän­den einen Pf­licht­be­such macht.«

      Der Kri­mi­nal­rat Zott mach­te eine Pau­se und sah den Ober­grup­pen­füh­rer durch sei­ne gold­ge­rän­der­te Bril­le an, als er­war­te er ein Wort der Aner­ken­nung.

      Aber der sag­te nur: »Al­les ganz schön und gut. Si­cher sehr scharf­sin­nig. Stimmt si­cher al­les. Aber ich sehe nicht, wie uns das wei­ter­führt …«

      »Ein we­nig doch, Herr Ober­grup­pen­füh­rer!«, wi­der­sprach der Kri­mi­nal­rat. »Ich wer­de na­tür­lich in den Häu­sern der ge­nann­ten Stra­ßen ver­trau­lich und sehr be­hut­sam nach­for­schen las­sen, ob dort ein Mann wohnt, auf den mei­ne Fol­ge­run­gen zu­tref­fen.«

      »Das wäre doch was!«, rief der Ober­grup­pen­füh­rer er­leich­tert. »Sonst noch was?«

      »Ich habe nun«, sag­te der Kri­mi­nal­rat in stil­lem Tri­umph und zog eine zwei­te Kar­te her­vor, »ich habe nun noch eine zwei­te Ta­bel­le an­ge­fer­tigt, auf der ich mit Krei­sen, die einen Durch­mes­ser von ei­nem Ki­lo­me­ter ha­ben, die Haupt­fund­stel­len rot ein­ge­kreist habe. Da­bei sind die bei­den Fund­stel­len Nol­len­dorf­platz und mut­maß­li­che Woh­nung au­ßer An­satz ge­blie­ben. Sehe ich mir die­se elf Haupt­fund­stel­len – es sind elf, Herr Ober­grup­pen­füh­rer – ge­nau­er an, so ma­che ich die über­ra­schen­de Ent­de­ckung, dass sie alle, aus­nahms­los alle, an oder in der Nähe von Stra­ßen­bahn­hö­fen lie­gen. Se­hen Sie selbst, Herr Ober­grup­pen­füh­rer! Hier! Und hier! Und dort! Da liegt der Bahn­hof hier – et­was rechts, fast au­ßer­halb des Krei­ses, aber im­mer­hin auf sei­nem Ra­di­us. Und nun wie­der hier – schön in der Mit­te …«

      Zott sah den Ober­grup­pen­füh­rer fast fle­hend an. »Das kann kein Zu­fall sein!«, sag­te er. »Sol­che Zu­fäl­le gib­t’s in der Kri­mi­na­lis­tik nicht! Herr Ober­grup­pen­füh­rer, der Mann muss ir­gend­was mit der elek­tri­schen Stra­ßen­bahn zu tun ha­ben. Es ist gar nicht an­ders mög­lich. Er muss dort nachts ar­bei­ten, ge­le­gent­lich auch mal nach­mit­tags. Er wird aber kei­ne Uni­form tra­gen, das wis­sen wir aus den Be­rich­ten der bei­den Zeu­gin­nen, die ihn beim Ab­le­gen ge­se­hen ha­ben. Herr Ober­grup­pen­füh­rer, ich er­bit­te Ihre Er­laub­nis, auf je­dem die­ser Bahn­hö­fe einen sehr gu­ten Mann ein­set­zen zu dür­fen. Ich ver­spre­che mir von die­ser Ak­ti­on ei­gent­lich noch mehr als von der Nach­fra­ge in den Häu­sern. Aber bei­de zu­sam­men und gründ­lich durch­ge­führt, dann wer­den wir be­stimmt einen Er­folg er­zie­len!«

      »Sie schlau­er Fuchs, Sie!«, rief jetzt der Ober­grup­pen­füh­rer, auch ganz auf­ge­räumt, und schlug den Kri­mi­nal­rat auf die Schul­ter, dass das Männ­chen in die Knie sack­te. »Sie al­ter schlau­er Ver­bre­cher! Das mit den Stra­ßen­bahn­hö­fen ist groß­ar­tig. Der Esche­rich ist ein Horn­vieh! Da­rauf muss­te er kom­men. Na­tür­lich ha­ben Sie mei­ne Er­laub­nis! Ma­chen Sie ein biss­chen schnell, und in zwei, drei Ta­gen mel­den Sie mir, dass der Mann ge­schnappt ist! Ich will’s dem Ka­mel, dem Esche­rich, noch selbst in die Schnau­ze brül­len kön­nen, was für ein Ka­mel er ist!«

      Der Ober­grup­pen­füh­rer ging, ver­gnügt lä­chelnd, aus dem Zim­mer.

      Der Kri­mi­nal­rat Zott, al­lein ge­las­sen, hüs­tel­te. Er setz­te sich hin­ter sei­ne Ta­bel­len auf dem Schreib­tisch, sah schief durch die Bril­le nach der Tür und hüs­tel­te noch ein­mal. Er hass­te alle die­se lau­ten, hirn­lo­sen Ker­le, die nur brül­len konn­ten. Und die­sen da, der eben aus dem Zim­mer ge­gan­gen war, hass­te er noch ganz be­son­ders, die­sen blö­den Af­fen, der ihm im­mer den Esche­rich vor­ge­hal­ten hat­te. »Das hat der Esche­rich ge­sagt«, und »Das weiß ich schon vom Esche­rich, dem Ka­mel!«

      Und dann hat­te er ihn scherz­haft auf die Schul­ter ge­schla­gen, und dem Kri­mi­nal­rat war jede kör­per­li­che Berüh­rung ver­hasst. Nein, die­ser Kerl – nun, man muss­te die Zeit ab­war­ten. Ganz so si­cher sa­ßen auch die­se Her­ren nicht im Sat­tel, nur schlecht ver­bar­gen sie un­ter ih­rem Ge­brüll die Angst, ei­nes Ta­ges ge­stürzt zu wer­den. So si­cher und za­ckig sie auch auf­tra­ten, im In­nern wuss­ten sie recht gut, dass sie nichts konn­ten und nichts wa­ren. Ei­nem sol­chen Flach­kopf hat­te er sei­ne große Ent­de­ckung von den Stra­ßen­bahn­hö­fen mit­tei­len müs­sen, ei­nem Mann, der den Scharf­sinn gar nicht wür­di­gen konn­te, der da­zu­ge­hör­te, so et­was her­aus­zu­fin­den! Per­len vor die Säue