»Eben…«, warf Philchen unbedacht ein, tat jedoch harmlos, als das Mädchen sie erstaunt ansah. Zärtlich streichelte sie über die gleißende Lockenpracht, die zur Nacht von einem Seidenband umwunden war, das auf dem Scheitel in einer lustigen Schleife endete. Duftig umbauschte das Nachtgewand den jugendschönen Körper.
»Geh schlafen, mein Kind«, sagte die Tante weich. »Schlaf gut ins neue Lebensjahr hinein, und laß dir durch niemand und nichts dein goldiges Lachen und deinen Frohsinn rauben. Und nun ab mit dir, damit ich nicht noch anfange, rührselig zu werden!«
Damit schob sie das Mädchen fort, das noch rasch einen Kuß auf die Wange ihres geliebten Philchens drückte; dann huschte es ins Nebenzimmer und hinein ins Bett.
Jetzt herrschte auch in diesen Räumen Stille, die Stille der Nacht.
*
Es war eine Woche später, als der Senior der Familie Hadebrecht in das Wohnzimmer trat, wo man sich um den Kamin geschart hatte, dem eine mollige Wärme entströmte. Mit der Zentralheizung zusammen schaffte er es, dem hohen, weiten Gemach die behagliche Temperatur zu geben, die die Kälte draußen vergessen ließ. Nur die dicken Eisblumen an den Fenstern erinnerten daran, die jetzt von der langsam sinkenden Wintersonne goldigrot überstrahlt wurden.
Es war Sonnabendnachmittag, den auch die beiden Herren des Hauses geruhsam genießen konnten, da dann die Arbeit in den Fabriken ruhte. Stillvergnügt rauchten sie ihre Pfeifen, während Frau Ottilie an einem Kleidchen für Ute und Philchen an einem Pullover für Silje strickten.
Ilona jedoch musizierte und tat es noch nicht einmal schlecht. Man hörte geduldig zu und fuhr erschrocken zusammen als Thea ins Zimmer stürzte, vor Erregung zitternd und tränenüberströmt. Achtlos zerrte sie den Mantel vom Körper, warf ihn auf die Erde, schleuderte Handschuhe nebst Mütze in die Gegend und sank in den nächsten Sessel. Ein Weinen klang auf, das man schon mit wütend bezeichnen konnte.
»Ja, was ist dir denn passiert?« fand der Vater endlich die Sprache, der gleich den anderen wie erstarrt dem Temperamentsausbruch gefolgt war. »Was kann wohl imstande sein, dich aus deinem sonst so bewundernswerten Phlegma zu reißen? Hat dir etwa einer etwas weggenommen?«
»Ja, ja, ja – das ist’s! Dieses fremde Mädchen hat mir meinen geliebten Herbert Tarknitt weggenommen! Oh, ich Arme!«
Zuerst sahen sich alle verblüfft an, dann war es wieder der Vater, der sprach, und zwar scharf: »Werde hier nicht theatralisch, sondern erkläre klipp und klar, was dich zu dieser Anschuldigung berechtigt!«
»Philipp…«, mahnte die Gattin leise. »Unser Kind…«
»Ist überschwenglich, das weiß ich schon längst«, schnitt er ihr kurz das Wort ab. »Wie kann man überhaupt einem Menschen etwas wegnehmen, was er gar nicht besitzt?«
»Er war aber auf dem besten Wege, mein zu werden«, klagte Thea, und die beiden Herren sowie Philchen machten bei dem überschwenglichen ›Mein zu werden‹ ein Gesicht, als hätten sie mit einem hohlen Zahn auf Zucker gebissen.
Frau Ottilie sah bekümmert vor sich hin, und Ilona fand es höchst interessant, was ihrer Schwägerin Kummer bereitete. Endlich war in diesem »Eulennest« mal etwas los!
»Wäre mein geworden«, schwelgte Thea weiter in Tragik, »wenn diese Circe ihn nicht betört hätte!«
»Schaf…«, bemerkte Philchen trocken, während die langen Nadeln in ihren flinken Fingern lustig klirrten. »Wenn du dich schon in so hochtrabenden Bezeichnungen ergehst, dann wende sie wenigstens richtig an. Ich jedenfalls stelle mir eine Circe anders vor als so ein neunzehnjähriges, frischfröhliches Menschenkind, wie Silje Berledes es ist. Und nun sag endlich, was du dieser Circe vorzuwerfen hast.«
»Ich sah sie mit meinem Herbert auf der Eisbahn. Sie tanzten gerade einen Walzer zusammen. Ach, mir ist bei dem Anblick fast das Herz gebrochen!«
»Ist nur gut, daß du ›fast‹ sagst«, blieb Philchen ungerührt. »Aber hab nur Geduld, es wird bald ›ganz‹ brechen, wenn ein Ereignis eintritt, das mir so schwant.«
»Mir auch«, brummte der Vater, dem der Jammer seiner Tochter gar nicht zu Herzen ging, weil es eben kein Jammer war, sondern die Einbildung eines überspannten Gemüts. Denn Liebe konnte es doch unmöglich sein, in die Thea sich zu Tarknitt verrannt hatte. Zu diesem Geschäftsmann, der mit beiden Beinen auf der Erde stand und nicht in höheren Regionen schwebte, wie die junge Frau selbst es tat und wie es auch ihr männliches Ideal war.
Daran dachten jetzt die Menschen, die hier zusammensaßen – außer Ilona. Die kannte das Geheimnis nämlich nicht, und das war gut. Sonst wäre es bestimmt nicht lange ein Geheimnis geblieben.
»Waren noch mehr Bekannte auf der Eisbahn?« erkundigte sie sich jetzt neugierig bei der Schwägerin, und diese antwortete mürrisch: »Ich sah nur noch Fräulein Balduin und den jungen Seifling, die auch zusammen tanzten. Dieses Paar lachte dabei harmlos, doch das andere sah sich selbstvergessen in die Augen…«
»Mitten in dem Trubel!« warf Philchen trocken ein. »Mein liebes Kind, wenn sich ein junges Paar selbstvergessen in die Augen sehen will, dann sucht es sich ein stilles Plätzchen dafür aus und nicht die Eisbahn, wo es von Schlittschuhläufern nur so wimmelt.
Das erstens. Und zweitens hätte Silje sich zu diesem süßseligen Stelldichein heimlich weggeschlichen und nicht ohne jede Spur von Verlegenheit gesagt, daß sie sich mit Fräulein Balduin zum Schlittschuhlauf verabredet hätte. Und mit spitzbübischem Lächeln setzte sie noch hinzu, daß sich da auch bestimmt Herr Tarknitt einfinden würde.«
»Eben, weil sie sich mit ihm verabredet hat! Oh, ich Arme!«
Da spang Philchen auf.
»Ich entfleuche! Auf Wiedersehen beim Abendessen!«
Dazu erschien sie dann auch mit Silje, die wie stets, wenn sie in diesen Kreis trat, von einer Zurückhaltung war, die man fast mit Unnahbarkeit bezeichnen konnte. Selbst Philchen und ihrem Bruder gegenüber ging sie nicht aus sich heraus. Sprach sie nie an, sondern gab artig Antwort, wenn diese sie etwas fragten. Das tat von den anderen nur noch Ilona und zwar nur dann, wenn es mit irgendeiner Bosheit verbunden war, die Silje aber einfach ignorierte.
Daher war sie erstaunt, als Thea in hochfahrendem Ton fragte: »Wie kommen Sie denn dazu, Fräulein, sich an Herrn Tarknitt heranzumachen?«
Zuerst sah Silje sie verdutzt an, doch dann umzuckte ein spöttisches Lächeln ihren Mund. Es war ein mitleidiger Blick, der die Fragerin streifte, die sich unter diesem immer mehr erregte. Doch ehe sie das junge Mädchen weiter angreifen oder der Vater seine aggressive Tochter zurechtweisen konnte, sprach Philchen schon pomadig: »Theachen, schaff dir den ›Knigge‹ an und lies lieber den als die Ergüsse überspannter Poeten. Darin steht nämlich alles, was dir an gutem Benehmen fehlt. Im übrigen möchte ich dir kund und zu wissen tun, daß Herr Tarknitt sich mit Fräulein Balduin verlobt hat, und zwar heute auf der Eishahn. Und was sagst du nun?«
Thea sagte nichts, weil diese – ungeheuerliche Nachricht ihr den Mund verschloß. Nicht mal die beliebte Klage: Oh, ich Arme! – brachte sie heraus, sondern stand »leidverstummt« auf und wankte aus dem Zimmer.
Das wirkte alles so theatralisch, daß sie nicht einmal der Mutter richtig leid tun konnte.
»Sag mal, Mutterchen, wo haben wir bloß diese Tochter her?« sagte Philipp kopfschüttelnd. »Wir beide sind doch ganz vernünftige Leute und unser Jüngster auch. Selbst Thomas war nicht so exaltiert, obwohl ihm das als Künstler eher noch zugekommen wäre.«
»Ja, ich weiß auch nicht«, seufzte die Gattin. »Mir ist Theas Art schon immer etwas fremd gewesen Hoffentlich nehmen wir ihren Kummer nicht zu leicht.«
»Da mach dir keine Sorge«, tat Philchen ungerührt ab. »Die leidet mit Genuß!«
»Aber Philchen…!«
»Doch, Ottichen, glaube es mir. Die ist ganz glücklich dabei. Die kann auf Kommando lieben und leiden. Sollst einmal sehen, wenn ein anderer ›Herzensschwarm‹ für sie auftaucht, dann