rief der Abt von Corvey, die Hände ringend. »Der Fluß, der Fluß –«
»Ihm nach – ihm nach!« wiederholte die Menge. Über die Mauer des Kirchhofes sprangen die Schnellsten und stürzten hinter dem Verschwundenen her, Reisige und Mönche, Bauern und Bürger, Weiber und Kinder eilten den Hügel hinunter gegen den verhüllten Fluß. Auf dem Kirchhof blieben mit dem alten Chrysostomus nur der Abt von Corvey, der Graf von Pyrmont, der Pastor Fichtner, Klaus Eckenbrecher und die Monika zurück und horchten den rufenden Stimmen drunten im Nebel und Dunst.
Vergeblich war das Rufen und Suchen des Volkes, der Reiter und der Mönche; die Weser, welche geheimnisvoll durch die seltsame Dämmerung rauschte und murmelte, gab keine Kunde über das Verbleiben des verlorenen Bruders Festus. Wer konnte sagen, ob sie ihn aufgenommen hatte in ihren kühlen Schoß? Wer konnte sagen, ob der Kampf des Bruders Festus zu Ende sei, ob die wilden Flammen, die sein Herz verzehrt hatten, gelöscht seien?
Ehe der Nebel vollständig gewichen war, mußte alles Suchen nach dem Bruder Festus – nach dem Leibe des Bruders Festus vergeblich sein!
Auf dem Kirchhofe standen ratlos die Zurückgebliebenen um den blinden Chrysostomus. Vergeblich waren die Fragen, die der Abt von Corvey über den Bruder Festus an den Alten richtete; kindisch lächelte dieser und gab die seltsamsten Antworten auf alle Erkundigungen des geistlichen Herrn. Seufzend gab dieser seine Versuche auf, das traurige Rätsel auf diese Weise zu lösen.
In tiefes Sinnen versunken stand Ehrn Valentin Fichtner und hielt sein weinendes Kind an der Hand. Ihm war das Geschehene und das Warum jetzt klar, klar in der Seele; aber Bericht gab er dem Abte auch nicht, sondern zog sein Barett ab und betete leise und inbrünstig. Unendlichen Jubel verschloß Klaus Eckenbrecher in seiner Brust. Obgleich ihm vielleicht am allerwenigsten das Geschick, welches den Bruder Festus betroffen hatte, klar war, so wünschte er ihm doch instinktmäßig alles Böse, und wenig würde er geklagt haben, wenn man die Leiche des unglücklichen Vikarius aus dem Nebel drunten hervorgetragen hätte. Gerührt war er aber auch, und im höchsten Grade: Seine Braut solle er schützen, hatte ihm der Vater Fichtner zugerufen – gewonnen war des Vaters Wort, gewonnen – gleichviel auf welche Weise – Triumph, Triumph!
Seitwärts von der Gruppe stand neben dem Grabhügel, welcher den Leib Faustas deckte, Herr Philipp von Spiegelberg, auf sein Schwert gestützt. Was ging ihn der Bruder Festus und die Monika an? Was in ihm von Leben und Denken war, haftete alles an diesem Grabe.
Allmählich kehrten vereinzelt oder haufenweise die Reiter, die Mönche und das übrige Volk von dem vergeblichen Forschen nach dem verlorenen Bruder Festus zurück. Alle stiegen sie wieder den Hügel hinauf und sammelten sich auf dem Kirchhofe. Niemand brachte die geringste Kunde von dem Mönche, doch waren wenige, die noch festhingen an der Meinung, der Bruder Festus lebe noch und irre stromabwärts oder -aufwärts in den Wäldern und Feldern umher. Die meisten hielten fest daran, daß der Fluß die Leiche des Vikarius von Stahle gen Mitternacht hinabtrage.
Nach einer Stunde verflüchtigte sich der Nebel vollständig, glänzend trat der Fluß ins Licht, und das ganze Wesertal lag im funkelnden Sonnenschein da. Von neuem forschte man nach dem verschwundenen Festus; den Fluß durchsuchte man mit Stangen und Haken, weit ins Land hinein gingen Boten stromabwärts, stromaufwärts. Alles vergeblich!
Verloren war der Bruder Festus – verschlungen hatte ihn der Nebel, das Nichts, und nicht schaffte der helle, klare Tag den Verlorenen zurück.
Das katholische Volk kniete auf dem Kirchhof zu Stahle und betete für die arme Seele des Bruders Festus; dem Beispiel des katholischen Volkes folgten die Lutheraner vom rechten Ufer der Weser; auch sie beteten für die arme Seele des unseligen Vikarius von Stahle.
Eine Stunde später war der kleine Dorfkirchhof, welcher so Schreckliches an diesem Tage gesehen hatte, leer. Der Abt von Corvey ließ dem Dorfe und dem blinden Chrysostomus den Mönch Antonius zurück und zog auf seinem Maultier, gefolgt von seinen Benediktinern, seiner Abtei zu. Das Volk von Holzminden war zu seinen Häusern zurückgekehrt, wandelte aber den ganzen Tag umher, ohne die gewohnte Arbeit aufzunehmen. Der Pastor Valentin Fichtner schlug in seiner Studierstube die Bibel auf, stützte das greise Haupt auf die Hand, und manch ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust, wie er die Blätter des Folianten umwandte.
Oft genug schweiften seine Gedanken von dem heiligen Texte ab.
»So mag Gott diese Liebe zum besten kehren! Ei, ei, wie hat mich der große Schreck überrumpelt!« murmelte er mehr als einmal, sorgenvoll das Haupt schüttelnd.
In ihrem Kämmerlein weinte sich die Monika in Glück und Wonne und Dank recht ordentlich aus und folgte tief in Gedanken dem Liebsten, der sie nun offen und ehrlich lieben konnte vor der Welt und der nun bereits wieder mit dem Grafen zu Pyrmont und den Genossen durch die Wälder ritt gegen das Schloß am heiligen Born.
O wie gern hätte der Eckenbrecher seiner Seligkeit durch ein helles Aufjauchzen Luft gemacht, wenn es nur die Trauer seines Herrn erlaubt hätte. Gesenkten Hauptes ritt Herr Philipp von Spiegelberg seinen Mannen voran; ein trauriger Heimzug war ihm beschert.
Zu Falkenhagen fanden die Spiegelberger den Luigi, den Knecht Don Cesare Campolanis. Eine Kugel hatte ihm bei der Verfolgung der Fausta und des Ritters die Hüfte zerschmettert. Der Graf versprach, für den Armen sorgen zu wollen, und gab ihm alles Geld, welches er bei sich trug. Klaus Eckenbrecher in seinem Glück gab ihm ebenfalls den Silbergulden, welcher sein ganzes Besitztum ausmachte.
Zu Hause ankommend, wurde der Graf zu Pyrmont von neuen Boten Herzogs Erich des Jüngern bewillkommnet, welche ihm ein neues Schreiben ihres Herrn überreichten. Dringender rief dieses Schreiben Herrn Philipp von Spiegelberg zu den Waffen für Philipp den Zweiten von Hispanien; von Siegesruhm, von Ehre sprach es.
»Den Tod will ich mir erreiten«, seufzte der Graf zu Pyrmont, »den Tod und die Rache will ich mir erreiten!«
Zwanzigstes Kapitel
Was Klaus Eckenbrecher am heiligen Born von der Schlacht bei Saint Quentin erzählte.
War im Jahre fünfzehnhundertsechsundfünfzig ein großes Getöse und gewaltiger Tumult um den heiligen Born von Pyrmont gewesen, so brachte der Sommer des Jahres fünfzehnhundertsiebenundfünfzig dem grünen Waldtale die Menschenflut in schier noch verdoppeltem Maße zurück. Aber eine sehr merkbare Veränderung war in der Zusammensetzung des Volksspiels, welches sich um die Wunderquelle versammelte, vorgegangen. Es waren viel weniger Kranke und viel mehr Gesunde als im vorigen Jahre gekommen; viel, sehr viel hatte der heilige Born von Pyrmont von seinem Nimbus verloren.
Wieviel frische Gräber waren aufgeworfen auf den Kirchhöfen zu Oestorf, Löwenhausen, Holzhausen und Lügde – Gräber, um die niemand sich kümmerte, an denen niemand klagte und betete –, landfremde Gräber!
Ein guter Teil der Kranken des vorigen Jahres war auf der Heimreise den Beschwerden des Weges unterlegen oder gleich nach der Rückkehr in die Heimat gestorben; ein guter Teil war viel elender und kränker heimgekommen, als er ausgezogen war.
Viel verlor der heilige Born zu Pyrmont von seiner Glorie auch durch den Brodneid des Brunnendoktors von Schwalbach, des Meisters Tabernaemontanus, zu deutsch Schenkenberg, welcher eine Schmähschrift gegen ihn drucken ließ und schnöde darin behauptete: das heilige Wasser zu Pyrmont enthalte wohl genug Auripigment, Arsenik, Rattengift, um einen Menschen in die andere Welt zu befördern, aber durchaus nichts, was einem Kranken die Gesundheit wiedergeben könne.
Auch der Ruhm des Pyrmontschen Quells als ein solcher Jungbrunnen, wie ihn Lukas Cranach so ergötzlich geschildert hat – ein Jungbrunnen, in welchen man auf der einen Seite alt, lahm, krüppelhaft hineinsteigt, um auf der andern Seite jung, frisch und rosig daraus hervorzugehen –, auch solcher Ruhm verblich allgemach, sintemalen kein einzig verdorrt, eingehutzelt Mütterlein auf dem heiligen Anger wieder als eine blühende Jungfrau mit den des Wunders harrenden lustigen Gesellen getanzt hatte.
Bedeutend weniger Wagen