Wilhelm Raabe

Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe


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hatte sich trotz alledem an der dicken Linde, an welcher die Gesetztafeln des Rektors Hermann Huddäus angeschlagen waren, eine ziemliche Menge von Krücken und Wachsgebilden menschlicher kranker Glieder, von den Geheilten daselbst dankbaren Herzens aufgehängt, angesammelt. Und manch ein armer Kranker, dessen Nachbar nicht gestorben war nach der Heimkehr, auch nicht kränker heimkehrte, manch ein armer Kranker, welcher des Doktors Tabernaemontani Giftbüchlein nicht gelesen hatte, hatte noch Vertrauen und machte sich auf, zu Pyrmont neue Gesundheit zu holen.

      Aber, wie gesagt, die Gesunden hatten im zweiten Jahre, nachdem der Ruf von dem Wunderborn im Land ausgegangen war, die Oberhand auf dem heiligen Anger. Für jeden Gaukler, Gauner, Taschenspieler, Musikanten, für jeden heimatlosen Abenteurer, für jede liederliche Dirne, welche im vorigen Jahre hier ihr Wesen getrieben hatten, waren fünfzig erschienen, um das grüne Waldtal zu ihrem Tummelplatz zu machen.

      Ein wüstes, gottloses Treiben, viel, viel greulicher als im vorigen Jahre, brach los; Raub, Mord und Unzucht gingen hoch im Schwange und hatten frei Spiel!

      Die alten Chronikenschreiber sind auch allgesamt der Meinung: der heilige Quell habe nur durch die Schuld des sündhaften Volkes seine Wunderkraft verloren; ein Teil der Besucher habe sie trotz der Warnung des Rektors Huddäus nicht wie eine gnädige Gabe Gottes, sondern wie einen Abgott, dem man heidnische Verehrung schulde, angesehen; ein anderer Teil habe aber durch »öffentliche Schande, Sünde, Hurerey und Büberey« dazu beigetragen, daß der Allmächtige sein Geschenk zurückgezogen und dem Brunnen seine Macht und Kraft wieder genommen habe. –

      Keine männliche Hand hielt mehr die eiserne Rute über das wilde, gottverlassene Gesindel; im Mai schon war Herr Philipp von Spiegelberg, der Graf zu Pyrmont, ausgeritten aus dem Schloß seiner Väter, fortgezogen in den Krieg, aber nicht für die Franzosen, nicht mit dem Herrn von Wrisberg, sondern für den König von Hispanien und gegen den Wrisberg.

      Zum Wrisberger hatte sich ja Don Cesare Campolani geflüchtet, und mit den Herzögen von Braunschweig, Heinrich und Erich dem Jüngern, warf sich Philipp von Spiegelberg auf den alten Bandenführer und die in Niedersachsen geworbenen Haufen. Die dreißig Fähnlein Fußknechte und Reiter, welche Herrn Heinrich von Valois zuziehen sollten, wurden zwar auseinandergesprengt, aber den Campolani erreichte das Schwert des Grafen von Pyrmont nicht, und manch einer seiner Hintersassen mußte bei diesem Anlauf das Leben lassen nach dem alten Sprüchel:

      Wann die Jungherrn zum Raufen schreien,

       Müssen die Bauern die Haare herleihen.

      Christof von Wrisberg wurde auf der Flucht von Hans Barner ereilt und gefangen; der alte Bursche hatte viel Unglück in seinem Leben, aber er verlangte es im Grunde gar nicht besser, und als nun wieder einmal die Gefängnistür hinter ihm verriegelt wurde, fügte er sich diesem Geschick mit philosophischem Gleichmut und würfelte und soff mit den ihn bewachenden Partisanenträgern Tag und Nacht, solange seine Haft dauerte.

      Mit fünfzig tollkühnen Gesellen entkam Don Cesare Campolani dem ihm nachjagenden Philipp von Spiegelberg, welcher ihm gar oft dicht auf den Fersen war. Don Cesare hatte mehr Glück als der arme Christof von Wrisberg und rettete sich zum Rheingrafen; für den führte er einen Trupp deutscher Hülfsvölker zum Coligny und Andelot in die feste Stadt Saint Quentin in der Pikardie, gegen welche sich die Kriegeswolken langsam, drohend heranwälzten.

      Wacker hielt sich Klaus Eckenbrecher in diesem Strauß gegen den Wrisberger und machte gute Beute, von welcher der Monika Fichtner zu Holzminden ein silbern Ringkettlein zu Händen kam. Freudigen Mutes zog er sodann mit seinem jungen Herrn und Herrn Erich dem Jüngern fürder zu neuen Taten; man hätt Ihm viel bieten müssen, wenn er seine Hoffnungen dafür hätte hingeben sollen. –

      Aus Brüssel, wo Don Philipp von Spanien prächtig Hof hielt, wo der leichtsinnige Erich von Braunschweig von den Reizen der wunderschönen Katharina von Wedden sich fesseln ließ und wo Klaus Eckenbrecher nicht viel Gutes lernte, kam der letzte Brief des Grafen Philipp von Pyrmont an die beiden armen, verlassenen Schwestern auf dem Schloß am heiligen Born. Ein trauriger, finsterer Brief war’s; Ursula von Spiegelberg weinte bitterlich darüber, bedenklich schüttelte der Kaplan Bellin das Haupt darob, und selbst die wilde, sorgenlose Walburg wurde ganz melancholisch dadurch gemacht.

      Die arme Ursula! Sie wußte sich fast keinen Rat mehr. Von den Fenstern ihres Gemaches aus blickte sie oft in Verzweiflung auf das Gewoge des heiligen Angers, der sein Beiwort »heilig« schon lange nicht mehr mit Recht trug, da die wüste Menge darauf ihr scham-und sittenloses Wesen immer toller, immer unbändiger, immer frecher trieb, da niemand war, der ihr wehrte.

      Wie mochte solch ein junges, schwach Mägdelein diese wirbelnde, kreischende, jauchzende, in Wut und Lust brüllende, ruchlose Menschensündflut bändigen? Die Hintersassen, die Knechte, welche der Kriegszug des Grafen zurückgelassen hatte zum Schutz des Heimwesens, waren selbst nur allzu bereit, dem ansteckenden, dem üppigen, liederlichen, rasenden Veitstanze zu verfallen. Bis in die Ringmauern des Schlosses erstreckte die große Verderbnis ihre ekeln Fangarme und zog allgemach, unwiderstehlich die Dirnen und Frauen in den Strudel der Schande und der Sünde hinein. Keine Zucht, keine Ordnung galt mehr; einem kochenden, brodelnden Giftkessel glich das sonst so friedliche, liebliche Waldtal, welches die Emmer durchrauscht; Sitte und Scham hatten längst ihre weißen Flügel entfaltet und hatten schaudernd sich in reinere Lüfte geflüchtet.

      War schon im Lichte des Tages der Anblick des Wesens am heiligen Born widerlich und abstoßend, so nahm die Szene mit hereinbrechender Dämmerung, mit der Nacht erst die rechte Färbung an. Dann schlangen oft trunkene Tausende von wahnwitzigen Männern und Weibern um die hochlodernden roten Feuer endlose Reihentänze, und Orgien fanden statt, von denen sich das Auge mit Schauder und Entsetzen abwandte. Dazwischen krachten bei Tag und bei Nacht, in Glimpf und im blutigen Ernst die Feuergewehre; vollständige Schlachten lieferte sich die rasende Menge und zerriß sich selbst im Wahnsinn viehischer Wut und Lust.

      Gleich zu Anfang des Sommers hatten die Vornehmen, die Ehrbaren und Reichen, welche der Ruf der Heilquelle noch herbeigezogen hatte, die Flucht genommen und dem Gesindel das Feld geräumt; die edeln Herren der Umgegend waren sämtlich gen Flandern zu den Heeren geritten, die Autorität der Geistlichkeit war gleich Null – nirgends war Rat und Hülfe zu finden für die beiden verlassenen, jungen Waisen auf dem Schloß Pyrmont.

      Dazu kamen von Zeit zu Zeit die tollsten, abenteuerlichsten Gerüchte aus der Ferne, ohne daß man erfuhr, wie und von wem sie ausgegangen waren. Bald war Brüssel und der Haag, bald war Paris genommen, bald hatten die Spanischen, bald die Franzosen große Schlachten gewonnen, bald sollte der König von Spanien, bald der allerchristlichste König tot oder gefangen sein, bald war Herr Philipp von Spiegelberg mit großem Pomp als Sieger in die gestürmte Stadt Quentin eingezogen, bald lag er darin elendiglich gefangen.

      Das war wohl eine Zeit des Schreckens und der Angst für die beiden Fräulein auf dem Schloß Pyrmont!

      Vorgesichte und unheildrohende Zeichen aller Art schreckten das Hofgesinde und die beiden Herrinnen. Eine weiße Elster nistete sich über dem Schloßtore ein, und oft huschten vor den Augen des Fräuleins Ursula weiße Mäuslein durch die Säle, Gänge und über die Treppen der Burg, welches beides großes Trübsal bedeutet und unfehlbar anzeigt, daß ein Haus bald einen andern Herrn erhalten werde. Im Waffensaal löste sich eine zurückgelassene Rüstung des Grafen plötzlich, ohne daß jemand den Grund davon anzugeben vermochte, vom Nagel und fiel klirrend zu Boden. Viel unheimliches Gepolter, Schleichen, Rauschen ließ sich in nächtlicher Weile hören, daß Mägde und Knechte und Jungen zitternd zusammenkrochen. Auch eine weiße Gestalt wollten die Wachen gesehen haben, und allnächtlich pickte eine Totenuhr hinter dem Getäfel am Bett der alten Amme Herrn Philipps von Spiegelberg, allnächtlich umflatterte das Leichenhuhn mit kläglichem Geschrei das Schloß und streifte mit den Flügeln die Kammerfenster der zwei Schwestern.

      Gegen Ende des Sommers häuften sich diese Vorzeichen immer mehr, und am achten September ging wieder einmal unter dem Volk am heiligen Born ein Gemurmel aus, der Grundherr sei – tot, sei gefallen »drunten in Flandern«.

      Kaspar Wicht, der Fiedelmann, brachte die Nachricht zuerst in das Schloß, wo das Gesinde sie anfangs nur mit halbem Glauben aufnahm, da ähnliche Gerüchte