Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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werden. Auf der Fensterbank fand ich noch eine Kleiderbürste, die wir fast vergessen hätten.

      Abends suchten wir bei Kerzenlicht nach der Bettwäsche. Das Essen mußte Mama auf einem Gaskocher heißmachen, und sie sagte, sie sei bald reif für die Klapsmühle.

      An den Kacheln überm Waschbecken im unteren Badezimmer waren Magneten, an denen man die Seife aufhängen konnte, und vor der Küchentür war ein tiefer Schacht. Da mußte man rüberspringen, wenn man in den Garten wollte.

      Nervtötend war, daß wir kein Fernsehen kucken konnten, solange wir keinen Strom hatten. Nicht mal Werbefernsehen. Ob 30, 60 oder 95 Grad, ich hab stets Riesenkraft parat!

      Mein Zimmer ging nach vorne raus, und durchs Fenster konnte ich den Wald sehen. Bis Volkers Zimmer oben fertig war, mußte er noch in meins mit rein, wo das Doppelstockbett stand.

      Ich kam auf die Christliche Simultanschule Vallendar. Die war unten im Tal. Da fuhr ein Schulbus hin. »Vor den neuen Mitschülern brauchst du keine Manschetten zu haben«, sagte Mama.

      In der neuen Schule waren die gleichen Kufenstühle wie in der alten, aber sonst war alles anders. Die Lehrerin hieß Frau Weißpfennig und war ganz mager. Drei Klassen auf einmal, eine im ersten, eine im zweiten und eine im dritten Schuljahr. Frau Weißpfennig ging immer hin und her und gab allen nacheinander was Verschiedenes auf.

      Wir mußten jetzt mit Füller schreiben. Mama hatte mir einen grünen Geha gekauft, mit Fensterchen, durch die man sehen konnte, ob die Patrone noch voll war. Innen war auch noch Platz für eine Reservepatrone.

      In der Klasse war einer mit Sprachfehler. Wenn der sagen sollte: »Kasper hat Glück gehabt«, dann sagte er: »Tasper hat Dlütt dehabt.«

      Neben mir saß ein langer Lulatsch, der einen Kopf größer als Frau Weißpfennig war, aber sonst nichts konnte. Am schlechtesten war Benno Anderbrügge, ein Fettsack, dessen Hefte Eselsohren hatten und außendrauf Tintenkleckse.

      Vorne auf dem neuen Lesebuch war ein Bild von einer Kutsche im Wolkenbruch, aber die Kinder in der Kutsche lachten.

      Tobias Knubbelnas, der Igel.

      Auswendig lernen sollten wir ein Gedicht über drei Spatzen, die im Winter auf einem Ast saßen. Sie rücken zusammen dicht an dicht, so warm wie der Erich hat’s niemand nicht.

      Auf dem Pausenhof wußte ich nicht, was ich machen sollte. Die Mädchen spielten Gummitwist und die Jungen Fangen.

      Ich freundete mich mit Barbara an, die zu dick war, um andere Freunde zu haben. Wir spielten Verstecken, unter den Mänteln im Flur, bis uns der Hausmeister das verbot.

      In Religion nahm Frau Weißpfennig das Alte und das Neue Testament mit uns durch. Adam und Eva, Kain und Abel, der Turmbau zu Babel, die sieben Plagen mit der Verwandlung von Blut in Wasser und dann Jesus, wie er auf einem Esel nach Jerusalem geritten war.

      Samaria, Judaea und Idumaea. Zeloten, Pharisäer, Sadduzäer, Aussätzige und die Ehebrecherin, die gesteinigt werden sollte, das konnte man gar nicht alles behalten. Das Scherflein der Witwe, die wundersame Brotvermehrung und das Gleichnis vom Weinberg. Was war eigentlich an Zöllnern so schlimm, daß die von allen verachtet wurden?

      Frau Weißpfennig zeigte uns auch Bilder von blinden Indern mit Geschwüren im Gesicht, damit wir mal sehen konnten, wie schlecht es anderen Menschen ging.

      Irgendwann hätten siebzig verschiedene Leute die Bibel übersetzt, und alle Übersetzungen hätten Wort für Wort miteinander übereingestimmt.

      Wir lernten auch was über Gotik und Romanik und gingen mit der ganzen Klasse in eine katholische Kirche, wo wir die Fenster abmalen sollten. Sankt Marcellinus und Sankt Petrus. Außer mir waren nur fünf andere evangelisch: Melanie Pape, Norbert Ripp, Michael Gerlach, Oliver Wolter und Andreas König. Die mußten auch alle mitkommen.

      Die Katholiken hatten Bänke zum Niederknien und Beichtstühle in der Kirche. Im rechten Querschiff stand ein Rokoko-Altar.

      Katholiken hätten eben die eine oder andere Schraube locker, sagte Mama. Wenn denen der Papst was sage, hielten sie das für Gottes Wort, und wenn sie gesündigt hätten, würden sie das eben kurz beichten gehen, und dann glaubten sie, daß alles wieder in Butter sei. »Aber laß dir den Katholen gegenüber ja nicht anmerken, was wir über die denken!«

      In Zeichnen sollten wir eine Baustelle mit dem Füller malen. Mir lief die Patrone aus, und die einzigen beiden Bilder, die Frau Weißpfennig nicht an die Wand hängen wollte, waren das verschmierte von Benno Anderbrügge und das durchgeweichte, wellige von mir.

      Mama machte arme Ritter, was zu meinen Leibgerichten gehörte, und die zischten schon in der Pfanne, aber vor dem Essen mußte ich mir im Badezimmer die Tintenfinger schrubben, mit der Wurzelbürste.

      Wir hatten als Hausaufgabe, unseren Schulweg zu beschreiben, und ich dachte mir eine Geschichte aus: Mama vergißt, mich zu wecken, ich renne los und merke erst auf der Straße, daß ich noch nackt bin, renne zurück, verknackse mir den Fuß und hämmere an die Haustür, die dabei in Scherben geht.

      Frau Weißpfennig rief mich auf, und ich sollte den Aufsatz vor der ganzen Klasse vorlesen. Weil ich mich nicht traute, nahm Frau Weißpfennig mein Heft und las den Aufsatz selbst vor. Dabei schüttelte sie oft den Kopf, aber die ganze Klasse schrie Zeter und Mordio vor Begeisterung.

      Jetzt hatte ich bessere Freunde als die dicke Barbara, und ich nahm Reißaus, wenn sie angedampft kam.

      Einmal trieb sie mich vor dem Schultor in die Enge und sagte: »Martin, wollen wir nicht wieder Freunde sein?«

      Volker hatte in seiner neuen Schule einen Lehrer, der nach dem Unterricht immer sagte: »Man möge mir den Mantel reichen!« Dann mußte einer spritzen und den Mantel vom Haken holen. Und in Musik hätten sie singen müssen: »Der Faulenz und der Lüderli, das sind zwei rechte Brüderli.« Alles Quatsch mit Soße.

      Beim Karnevalsumzug in Koblenz wurden Spielepackungen von den Wagen geworfen, Mensch ärgere Dich nicht und Malefiz, aber wenn man da hinwollte, wurde man umgerannt. Kowelenz olau.

      Dafür hatte ich die Taschen voll mit Karamelbonbons, und ich probierte nochmal aus, wieviele ich davon in den Mund stecken konnte. Einer ging immer noch rein, aber der Kloß war so groß geworden, daß ich nicht mehr drauf kauen konnte, nur am Rand, und als ich den Kloß nach einer Stunde aufhatte, war mir der Appetit auf die restlichen Bonbons vergangen.

      In Jever hatte Wiebke vier Pfund zugenommen und das Wort mürselig gelernt, was mühselig heißen sollte.

      Zu der neuen Kindertonne, die im Flur stand und wo unsere Mützen, Schals und Handschuhe reinkamen, sagte Wiebke Tinnatonne.

      Es war tiefster Winter.

      In meinem Zeugnis stand, daß ich gute Leistungen gezeigt hätte. Martin müßte sich aber auch einmal von sich aus am Unterricht beteiligen und nicht immer auf eine Aufforderung zum Sprechen warten.

      Das sei ja wohl ein Witz, sagte Mama. Die größte Sabbeltasche vom Mallendarer Berg kriegt in der Schule die Kusen nicht auseinander!

      Mitte Februar bauten Handwerker den Raumteiler zwischen Küche und Wohnzimmer ein. Ein Arbeiter schleppte Teppichfliesen hoch. Dralon mit Kräuselvelours. Um die Faltwand zwischen Wohnzimmer und Büro kümmerte Papa sich nach Feierabend selbst. Die Faltwand war beesch, aber Renate sagte, die sei »kackafarben«, und die Fliesen würden stinken.

      Renate meckerte auch über die grünen Fliesen in ihrem Zimmer oben, weil die aus dem Wohnzimmer auf der Horchheimer Höhe stammten und noch Kabaflecken und Schmelzflockenkleckse hatten.

      Wegen dem Hochwasser auf dem Rhein mußte Papa Renate und Volker auf einem riesigen Umweg über eine Autobahnbrücke nach Koblenz zur Schule fahren und mittags wieder abholen. Nur zu meiner Schule in Vallendar kam das Hochwasser nicht hin.

      Strom kriegten wir jetzt von Rautenbergs, über ein Verlängerungskabel, das aus dem Gästeklofenster hing.