Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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Körper 24 Millionen rote Blutkörperchen; jede Sekunde 8 Millionen.

      Mama ermahnte mich, mit dem Rad nicht leichtsinnig zu sein. Neun von zehn Verkehrsteilnehmern seien Vollidioten, und man müsse immer mit der Blödheit der anderen rechnen.

      Volker und ich kundschafteten die Straßen aus, die wir noch nicht kannten. Von der Robert-Koch-Straße ging rechts ein Weg zu einem geteerten Spielplatz ab. Da stand ein mehrstöckiges Mietshaus, in dem samt und sonders Asoziale wohnten.

      Auf der Wippe saß ein dicker Junge mit rotem Pullover, so daß keiner die benutzen konnte. Das sei Qualle, sagte Volker. Vor dem könne er mich nur warnen. Das sei ein Angeber, der Kleinere gerne mal umwerfe und sich draufsetze, Knie auf die Arme. Muckireiten hieß das.

      Wir fuhren weiter zum Aussichtsturm auf der Kaiser-Friedrich-Höhe. In einem Zwinger tobte ein Dobermann rum. Ich dachte schon, der bricht aus, aber das Gitter hielt.

      Vor dem Turm war eine abgesperrte Tür. In der Gastwirtschaft nebenan konnte man sich für dreißig Pfennig den Schlüssel borgen. »Dann will ich mal blechen«, sagte Volker.

      Die Plattform oben war höher als die Wipfel der Eichen, die da standen. Man sah das Deutsche Eck, die Mosel und die Kähne auf dem Rhein. Nur die Horchheimer Höhe war zu weit weg.

      Rechts ging der Wilgeshohl runter, eine Straße, die so steil war, daß sie bei uns auch die Sprungschanze hieß. 24 % Gefälle.

      Da wollte Volker runter und dann durchs Wambachtal wieder rauf.

      Er fuhr vor. Um noch mehr Tempo zu kriegen, duckte er sich, obwohl er schon einen Affenzahn draufhatte.

      Ich war leichter als Volker, aber ich wollte nicht langsamer sein. In der Kurve ließ ich die Handbremse los. Die Kurve ging nach links. Ich wollte auf der rechten Straßenseite bleiben, aber das Fahrrad fuhr von ganz alleine auf die linke Seite rüber, und ich hatte zuviel Tempo, um mit Handbremse und Rücktritt noch was machen zu können.

      Wenn mir ein Auto entgegengekommen wäre, hätte mich das zu Brei gefahren, aber es kam keins.

      Nach der Kurve konnte ich das Fahrrad wieder auf die rechte Straßenseite lenken und bremsen und anhalten. Mir wackelten die Knie.

      Mus und Grus wäre ich gewesen.

      Unten in Vallendar war eine Weide mit einem Esel, der herzzerreißend schrie und blökte. Das hörte man noch kilometerweit.

      Volker kannte einen Weg in den Wald, wo es wieder zum Mallendarer Berg zurückging. Im Waldtal floß ein Bach, der Wambach, weshalb der Wald Wambachtal hieß. Der Wambach fing schon früher an, aber es gab eine Quelle im Wambachtal, aus der frisches Wasser in den Wambach floß. Volker zeigte mir die Quelle, und wir schlürften was von dem Wasser, Hände aufgestützt.

      Auf der anderen Seite vom Weg war ein eingezäuntes Grundstück mit Wasserbecken. Da züchtete jemand Fische.

      Wir pflückten einen Blumenstrauß für Mama, ohne genau zu wissen, welche von den Blumen unter Naturschutz standen.

      Sag, wer mag das Männlein sein?

      Mama saß mit einem Haufen löchriger Wäsche an der Nähmaschine und lutschte Garn an. Nach dem Nähen wollte sie noch plätten.

      Papa sagte, er würde irgendwann Plastikanzüge kaufen für Volker und mich. Dann könnten wir in der Waschküche mit dem Gartenschlauch abgespritzt werden.

      Erwogen wurde auch die Anschaffung einer Turnmatte zum Raufen für uns, aber nicht ernsthaft.

      Als Tarzan gegen eine Bande von Elfenbeinjägern kämpfen mußte, nörgelte Renate darüber, daß der sich im Urwald nie einen Splitter in den Fuß trat.

      »Wenn man immer barfuß rumläuft, kriegt man Hornhaut an den Fußsohlen«, sagte Volker. Das hatte gesessen.

      Vor Renates Konfirmation räumte Papa den Hobbyraum leer und klebte Tapeten, die wie grüne Zaunbretter aussahen. Dann wurde der alte Kinderzimmerteppich ausgerollt.

      »Jetzt könnt ihr hier Krach schlagen, soviel ihr wollt«, sagte Mama.

      In der einen Ecke oben war ein Gerät, in dem es knackte, wenn bei uns oder bei Rautenbergs jemand anrief. Wir hatten einen Zweieranschluß.

      Papa holte Oma Schlosser ab und brachte in einem Anhänger ihr altes Sofa mit. Das kam in den Hobbyraum. Es hing durch, aber man konnte drauf rumspringen und den Sitz hochklappen.

      Ihr Konfirmationskleid fand Renate zu lang, aber Oma Schlosser fand es zu kurz, also machte Mama den Saum wieder auf und das Kleid noch zwei Zentimeter länger, und Renate war stocksauer.

      Bevor die anderen Konfirmationsgäste kamen, brachte Mama Volker und mir den Diener und Wiebke den Knicks bei.

      Onkel und Tanten, Vettern und Kusinen. Mama wollte von der Straße aus ein Foto von sämtlichen Gästen auf dem oberen Balkon machen, und weil die Treppe noch nicht stand, stiegen alle die Leiter hoch, nur Oma Schlosser nicht.

      In der Kirche mußten wir singen. Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren! Ehren, nicht Ähren. Meine geliebete Seele, das ist mein Begehren.

      Der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet.

      Die Predigt hielt der dicke Pfarrer Liebisch, bei dem Renate in Koblenz am Hilda-Gymnasium auch Religion hatte. Wer da im Unterricht nicht aufpaßte, kriegte vom Liebisch ein Schlüsselbund an die Rübe geschmissen.

      Am Abendmahl durfte ich noch nicht teilnehmen. Papa hätte gedurft, aber er wollte nicht, und als Renate ihn fragte, pflaumte er sie an: »Das tu ich eben nicht!«

      Von Tante Dagmar hatte Renate eine Knautschlacktasche und rote Schuhe gekriegt, von Tante Dorothea eine Korallenkette, von Tante Grete einen Weißgoldring mit Zuchtperle, von Oma und Opa Jever Geld und von Oma Schlosser einen Volksbrockhaus und eine Schreibtischlampe mit rauher Oberfläche, die wie angebranntes Rührei aussah.

      Vallendar stand auch in dem Volksbrockhaus nicht drin, aber Koblenz, und es war sogar das Deutsche Eck abgebildet.

      Unter Schlosser stand: 1) Friedrich Christoph, Historiker, *1776, †1861, Prof. in Heidelberg; »Weltgeschichte für das dt. Volk«. 2) Johann Georg, Schriftsteller, *1739, †1799; Jugendfreund und Schwager Goethes.

      »Da kannst du dir ’n Ei drauf pellen«, sagte Mama.

      Was ich im Volksbrockhaus unter Martin gefunden hatte, zeigte ich ihr nicht mehr.

      Im Wambachtal fanden Volker und ich einen Schilfdschungel. Das Schilf war höher als wir, und wir konnten uns Pfade reintreten, an verschiedenen Stellen, ohne uns zu treffen, aber die Schilfblätter hatten scharfe Kanten. Ich schnitt mir an der linken Hand den kleinen Finger auf.

      Bei dem Fischzüchter kletterten wir über den Zaun und warfen mit Kieselsteinen nach den Fischen. In dem Schuppen, der da war, bedienten wir uns aus einer Sprudelflasche und nahmen eine Rolle Draht mit, aber weil wir nachher nicht wußten, was wir damit anfangen sollten, warfen wir sie in den Wambach.

      Wir entdeckten auch ein Vogelnest. Um reinkucken zu können, mußten wir ein Brennesselfeld durchqueren und einen Baum hochkraxeln. Die Eier waren grün mit braunen Sprenkeln und ganz klein.

      Expeditionen ins Tierreich.

      Volker sagte, daß wir auf Eichelhäher achten müßten. Das seien Nesträuber. Wenn die uns sähen, würden sie unserer Spur folgen und die Eier fressen.

      Ich glaubte das nicht, aber als wir einen Tag später wieder in das Nest kuckten, lagen nur noch die zerbrochenen Eierschalen drin.

      Amsel, Drossel, Fink und Star.

      Als die Handwerker die Treppe zum Obergeschoß einbauten, war der Lärm beim Bohren so groß, daß man dachte, gleich kracht das Haus ein.

      Bleckondecker, Bleckondecker, Bleckondecker, Bleckondecker …

      »Der Dreck überall ist gräsig«, schrieb Mama in einem Brief an eine Freundin,